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VfGH vom 26.09.1986, B362/85

VfGH vom 26.09.1986, B362/85

Sammlungsnummer

10974

Leitsatz

StGG Art 8, MRK Art 5; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit;

vertretbare Annahme einer Ordnungsstörung nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG;

Festnehmung in § 35 litc VStG 1950 gedeckt; nachfolgende Anhaltung vor allem infolge des Umfangs der gepflogenen Erhebungen gerade noch gerechtfertigt; in diesem Umfang keine Abtretung der Beschwerde an den VwGH infolge ausschließlicher Zuständigkeit des VfGH

Art144 Abs 1 B-VG; kein Nachweis für (behauptete) Mißhandlungen iS des Art 3 MRK erbracht; keinerlei Zwangscharakter wörtlicher Beleidigungen; Mangel eines geeigneten Beschwerdegegenstandes; keine Abtretung der Beschwerde an den VwGH bei Zurückweisung einer unzulässigen Beschwerde

Spruch

I. Der Bf. ist durch seine am in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

III. Der Antrag, die Beschwerde an den VwGH abzutreten, wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. T B begehrte in seiner mit Berufung auf Art 144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er am in Wien durch (der Bundespolizeidirektion Wien als belangter Behörde zuzurechnende) Amtshandlungen von Sicherheitswachebeamten, nämlich a) seine polizeiliche Festnahme und Anhaltung in Haft sowie b) je einen Fußtritt und Faustschlag im Zug der Festnehmung und Eskortierung, demnach insgesamt durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, und zwar (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG, Art 5 MRK) und (zu b)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden sei.

Zugleich wurde - hilfsweise - die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - belangte Bundespolizeidirektion Wien erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift; sie begehrte darin, die Beschwerde kostenpflichtig teils als unzulässig zurück-, teils als unbegründet abzuweisen.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der (mit Inspektor G B Funkstreifendienst versehende) Inspektor J K von der Bundespolizeidirektion Wien den Bf. am Sonntag, dem um etwa 6 Uhr früh vor dessen Arbeitsstätte, der "...-Bar" in Wien, ..., ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung der Ordnungsstörung nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 gemäß § 35 litc VStG 1950 festnahm, ferner zeigen die Akten, daß der Festgenommene in das Arrestlokal des Bezirkspolizeikommissariats Innere Stadt eingeliefert und am späten Nachmittag desselben Tages wieder aus der Haft entlassen wurde. Die Bundespolizeidirektion Wien (Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt) verhängte über T B in der Folge mit Bescheid vom , AZ Pst 8268/S/85/Jo, ua. wegen der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 eine Geldstrafe. Der Beschuldigte ergriff gegen dieses Straferkenntnis das Rechtsmittel der Berufung; das Strafverfahren wurde in der Folge gemäß § 51 Abs 5 VStG 1950 eingestellt.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Zur Festnahme und (Haft-)Anhaltung

2.1.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sog. faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für eine Festnehmung und anschließende Verwahrung zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977).

2.1.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß sich die Beschwerde - soweit sie die Festnahme und Anhaltung des Bf. betrifft - gegen Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art 144 Abs 1 B-VG wendet.

2.1.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde im dargelegten Umfang zulässig.

2.1.2.1. Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß § 35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann erlaubt, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.1.2.2. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß der Bf. sich die Übertretung nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zuschulden kommen ließ (s. Punkt 1.2.).

2.1.2.2.1. Nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 in geltender Fassung hat eine Verwaltungsübertretung zu verantworten, wer "durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört".

Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983, 10112/1984) und des VwGH (VwSlg. 2263/A/1951, 6581/A/1965, 7815/A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: Der Täter muß einmal ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört, also ein Zustand hergestellt worden sein, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem solchen Ort gefordert werden muß.

2.1.2.2.2. Dazu stellte der VfGH aufgrund der Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens, nämlich vor allem der - unter den obwaltenden Verhältnissen jedenfalls in den hier maßgebenden Punkten unbedenklichen - Aussagen der Zeugen J K und G B als erwiesen fest, daß der Bf. zur angegebenen Zeit (s. Abschnitt 1.2.) auf offener Straße vor der "...-Bar" - offenbar verärgert über eine knapp zuvor im Lokal vor sich gegangene Amtshandlung der beiden Polizisten - laut schrie und gröbliche Beschimpfungen ausstieß und dieses Verhalten auch nach förmlicher Abmahnung fortsetzte. Der jede störende Lärmerregung bestreitenden Parteiaussage vermochte der VfGH in Prüfung und Wägung des gesamten Beweismaterials ebensowenig zu folgen wie der Aussage der E P. Diese Zeugin deponierte im Beschwerdeverfahren, damals von einem Fenster aus gesehen zu haben, wie der Bf. mit den Sicherheitswachebeamten aus der Bar gekommen sei, und - nach ihren Beobachtungen - einen lauten Wortwechsel und dgl. ausschließen zu können. Sie hatte aber bei einer Einvernahme im Administrativverfahren (am ) ausdrücklich angegeben, daß sie "Geräusche und einen Wortwechsel" hörte, deshalb zum Fenster ging und zwei Wachleute mit T B (bereits) "in der Tür der ...-Bar" stehen sah, weshalb sie - da nicht Zeugin der gesamten Szene - die von J K und G B geschilderten Vorkommnisse gar nicht beobachtet haben mußte. Ähnliches gilt auch für die Zeugin H H, Kellnerin in der "...-Bar", die der Bf. fortgeschickt hatte, um die Lokalinhaberin zu verständigen.

2.1.2.3. Angesichts dieser Sach- und Beweislage durfte der Zeuge J K mit gutem Grund annehmen, daß der Bf. eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsübertretung vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Tatwiederholung trotz Abmahnung der Festnehmungsgrund des § 35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.

2.1.2.4. Unter diesen Umständen bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß der Grund für die anschließende verwaltungsbehördliche Verwahrung des Bf. schon vor dem Zeitpunkt der Entlassung aus der Haft entfallen wäre (s. zB VfSlg. 9368/1982): Nach Lagerung dieses Falls, namentlich in Berücksichtigung des Umfangs der gepflogenen Erhebungen, ist die festgestellte Dauer der Haftanhaltung als gerade noch gerechtfertigt anzusehen.

2.1.2.5. Demgemäß wurde der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.1.2.6. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde, soweit sie die Festnahme und Anhaltung zum Gegenstand hat - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen.

2.2. Zu den (behaupteten) Mißhandlungen

2.2.1. Was das weitere Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art 3 MRK (Behauptung je eines Faustschlags und Fußtritts im Verlauf der exekutiven Amtshandlung) anlangt, so sieht sich der VfGH nach den Ergebnissen des durchgeführten Beweisverfahrens außerstande, den entsprechenden Schilderungen des Bf. uneingeschränkt zu folgen, und die in der Beschwerdeschrift angeführten (vorsätzlichen) Mißhandlungen als erwiesen anzunehmen. Es stehen hier Aussagen gegen Aussagen: Auf der einen Seite vor allem die Parteiaussage des Bf. und die seine Darstellung - nur teilweise - stützenden Aussagen zweier Zeugen (E P, H H), auf der anderen Seite die Angaben der Sicherheitswachebeamten J K und G B, die jede Mißhandlung teils ausdrücklich, teils der Sache nach in Abrede stellen. Dabei wurden auch die aktenkundigen Ermittlungen im Verfahren AZ 5c E Vr 9366/85 des Landesgerichts für Strafsachen Wien gebührend (mit) in Betracht gezogen: Dieses Strafverfahren war gegen T B ua. wegen des Verdachts des Vergehens des (versuchten) Widerstands gegen die Staatsgewalt nach den §§15, 269 Abs 1 StGB - begangen am an J K und G B - eingeleitet worden und endete mit (rechtskräftigem) Freispruch (Urteil vom ).

2.2.2. Da demgemäß ein Nachweis für die behaupteten Zwangsakte nicht erbracht wurde, fehlt es an einem geeigneten Beschwerdegegenstand (den vom Beschwerdevertreter - vorwiegend illustrativ - herausgestellten wörtlichen Beleidigungen des Bf. käme an sich keinerlei Zwangscharakter zu). Die Beschwerde war darum in dieser Richtung schon allein aus den eben dargelegten Erwägungen als unzulässig zurückzuweisen (Punkt II des Spruches).

2.3. Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH war aus folgenden Erwägungen abzuweisen (s. Punkt III des Spruches).

Zum einen hat der VfGH die Gesetzmäßigkeit der Verhaftung und Haftanhaltung schlechthin zu untersuchen und sich nicht etwa auf die Frage der Gesetzlosigkeit oder denkunmöglichen Gesetzeshandhabung zu beschränken (VfSlg. 8076/1977), sodaß für eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung sonstiger - einfachgesetzlich garantierter - Rechte kein Raum bleibt. Daraus ergibt sich aber, daß der VfGH zur Entscheidung in diesem Umfang - Punkt 2.1. - ausschließlich zuständig ist (VfSlg. 8960/1980), eine Abtretung der Beschwerde an den VwGH also - insoweit - nicht in Betracht kommt.

Zum anderen ist eine solche Abtretung nur für den - zu Punkt 2.2. nicht gegebenen - Fall einer ablehnenden Sachentscheidung des VfGH vorgesehen, nicht hingegen auch bei Zurückweisung einer unzulässigen Beschwerde (vgl. zB ).