OGH vom 02.11.1994, 10ObS241/94
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Kurt Resch und Fritz Stejskal (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Heinrich M*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Georg Santer Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 5 Rs 41/94-22, womit infolge Berufung der klagenden das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom , GZ 42 Cgs 80/93v-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß:
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung:
Der am geborene Kläger führte bis 1991 einen Installationsbetrieb mit zeitweise bis zu 40 Beschäftigten. Am wurde über das Vermögen des Klägers zu S 101/91 des Landesgerichtes Innsbruck der Konkurs eröffnet. Sein Antrag auf Zuerkennung der Erwerbsunfähigkeitspension vom wurde mit Bescheid der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft vom abgelehnt, weil der Kläger nicht dauernd erwerbsunfähig sei.
Mit seiner rechtzeitig eingebrachten Klage begehrte er, die Beklagte zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe ab zu verurteilen. Nach einem Autounfall im Jahr 1970, bei dem er eine schwere Gehirnerschütterung erlitten habe, leide er unter Kopfschmerzen und zunehmend stärkeren Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen und Gedankensprüngen. Der Konkurs habe beim Kläger überdies Depressionen ausgelöst. Auf Grund seiner schlechten psychischen Verfassung sei er erwerbsunfähig.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach Feststellung des internen und des neurologisch-psychiatrischen Befundes kam es zu dem Leistungskalkül, wonach der Kläger "aus neurologischer Sicht" ganztägig leichte Arbeiten in Gehen, Stehen und Sitzen ausführen könne. Die Arbeiten sollten im Wechsel durchgeführt werden, um Zwangshaltungen zu vermeiden und zwar so gestaltet, daß nach zwei Stunden für fünf Minuten eine andere Position eingenommen werden könne. Arbeiten mit ständigem Vorhalten der Arme, häufiges Bücken und Tragen von Lasten über 10 kg seien nicht mehr zumutbar. Auf Grund seiner Hirnleistungsschwäche sei der Kläger derzeit nicht mehr in der Lage, genügend Aufmerksamkeit, Konzentration und Sorgfalt zu erbringen, um einem Erwerb nachzugehen. Die körperlichen Beschwerden seien typische Alkohol-Folgebeschwerden. Es liege bei ihm nach wie vor Alkoholmißbrauch vor, der auch die Hirnleistungsstörung bedinge. Bei Alkoholentwöhnung, die nach einer 6- bis 8-wöchigen stationären Behandlung in einem Suchtkrankenhaus mit anschließenden engmaschigen ambulanten Kontrollen erfolgen müßte, wäre mit einer Verbesserung der Hirnleistung zu rechnen, die es dem Kläger wieder ermöglichen würde, "aus psychiatrischer Sicht" einem Erwerb nachzugehen. "Aus internistischer Sicht" seien dem Kläger leichte vorwiegend sitzende Tätigkeiten ganztägig zumutbar. Exponierte Arbeiten auf Leitern und Gerüsten seien nicht zumutbar, auch alle Arbeiten unter Zeitdruck sollten vermieden werden. Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß der Kläger weder nach § 133 Abs 1 noch nach § 133 Abs 2 GSVG erwerbsunfähig sei. Einerseits könne er noch einem regelmäßigen Erwerb nachgehen, andererseits sei seine persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung seines Betriebes nicht notwendig gewesen, weil er ein Unternehmen mit 30 Beschäftigten betrieben habe. Daß er derzeit nicht in der Lage sei, einem eigenen Erwerb nachzugehen, hänge mit der im Alkoholmißbrauch begründeten Hirnleistungsreduktion zusammen. Wenn er die Alkoholentwöhnung unterlasse, gehe dies zu seinen Lasten, dürfe aber nicht die Risikogemeinschaft der Versicherten belasten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel, übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis unbedenklicher Beweiswürdigung und führte in rechtlicher Hinsicht aus:
Der Kläger sei zunächst zum Stichtag 52 Jahre alt gewesen. Die auf das 50. Lebensjahr abgestellte nunmehrige Fassung des § 133 Abs 2 GSVG (19. Nov.BGBl 1993/336) sei aber nach der Übergangsbestimmung des § 259 Abs 4 GSVG nur auf solche Versicherungsfälle anzuwenden, in denen der Stichtag nach dem liege. Bei der Entscheidung über den vorliegenden Pensionsantrag sei daher zunächst von der alten Fassung des § 133 Abs 2 GSVG auszugehen, der nur auf Versicherte anzuwenden sei, die bereits das 55. Lebensjahr vollendet haben, was beim Kläger nicht zutreffe. Die Entscheidung des Gerichtes habe aber aufgrund der Rechtslage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz zu ergehen (). Ebensowenig wie es bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines neuen Leistungsantrages bedürfe, um hiefür einen neuen Stichtag aufzulösen, sei auch der Versicherte für die Anwendbarkeit der neuen Rechtslage nicht auf die Stellung eines neuen Leistungsantrages zu verweisen, um einen neuen Stichtag für die Anwendbarkeit der für ihn günstigsten Neufassung des § 133 Abs 2 GSVG zu erreichen (SSV-NF 3/134, 4/129). Zutreffend habe daher das Erstgericht das Klagebegehren auch nach der neuen Rechtslage geprüft. Aber auch daraus sei für den Kläger nichts gewonnen. Selbst wenn man von der Betriebsgröße in der letzten Zeit, wie sie in der Berufung vorgebracht werde (nur mehr etwa 20 oder gar nur mehr 15 bis 20 Mitarbeiter), ausgehe, könne ein derartiger Betrieb so organisiert werden, daß der Kläger allfällige ihm gesundheitlich nicht mehr zumutbare Tätigkeiten auf Mitarbeiter delegiere. Die durch die Alkoholsucht des Klägers ausgelöste geistige Beeinträchtigung, zu deren möglicher Behebung er verpflichtet sei, habe dabei außer Betracht zu bleiben (SSV-NF 5/29).
Rechtliche Beurteilung
Die gegen dieses Urteil vom Kläger erhobene Revision aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen (SSV-NF 5/87 mwN) Aufhebungsbegehrens berechtigt.
Als erwerbsunfähig gilt nach § 133 Abs 1 GSVG der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Wie der Senat entschieden hat, setzt dauernde Erwerbsunfähigkeit in diesem Sinne zwar nicht einen nicht mehr wesentlich besserungsfähigen, also lebenslangen Zustand voraus, wohl aber einen länger anhaltenden Zustand, dessen Ende in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Ist die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit voraussichtlich nach einem Jahr zu erwarten, liegt keine dauernde Erwerbsunfähigkeit vor (SSV-NF 5/63 = SZ 64/77 = ZAS 1992, 173/23 [Barnas] mwN). Nach den Feststellungen sind dem Kläger zwar wegen der auf Alkoholismus zurückgehenden Hirnleistungsschwäche keine geregelten Arbeiten zumutbar, doch könnte dieser Zustand der völligen Erwerbunfähigkeit durch eine Alkoholentwöhnungskur mit 6- bis 8-wöchiger stationärer Behandlung und anschließenden engmaschigen ambulanten Kontrollen in relativ kurzer Zeit dahin gebessert werden, daß er wieder einem Erwerb nachgehen könnte. Im Interesse der Versichertengemeinschaft ist auch vom Kläger zu verlangen, daß er sich dieser notwendigen und mit keinen unzumutbaren Gefahren verbundenen Alkoholentwöhnungskur unterzieht (SSV-NF 5/63 mwN; zustimmend Barnas aaO 175 ff). Die rechtliche Beurteilung, ob der Kläger nach Durchführung einer solchen Alkoholentwöhnungskur wieder imstande wäre, im Sinne des § 133 Abs 1 GSVG einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, ist jedoch derzeit nicht möglich, weil es an der Feststellung eines zusammenfassenden Leistungskalküls fehlt, aus dem ersichtlich ist, welche Arbeiten der Kläger nach erfolgreich absolvierter Entwöhnungskur wieder verrichten kann. Für Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit sind die wesentlichen Einschränkungen im körperlichen und geistigen Zustand des Versicherten und dessen Leistungskalkül nicht aus der Sicht der einzelnen medizinischen Fachgebiete, sondern für alle Fachgebiete gemeinsam festzustellen (SSV-NF 5/40). Wie der Revisionswerber zutreffend ausführt, kann das Zusammenspiel verschiedener Krankheiten zu einer Erwerbsunfähigkeit führen, auch wenn einzelne Krankheitsfaktoren dazu nicht ausreichen würden. Die Vorinstanzen haben diese Gesamtschau nicht berücksichtigt und nicht beachtet, daß die beiden Leistungskalküle nicht deckungsgleich sind.
Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, daß der Anspruch des Klägers, der das 50. Lebensjahr vollendet hat, mit Stichtag auch nach der Bestimmung des § 133 Abs 2 GSVG in der Fassung der 19. Nov (BGBl 1993/336) zu prüfen ist. Als erwerbsunfähig gilt demnach auch der Versicherte, der das 50. Lebensjahr vollendet hat und dessen persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat. Der Gesetzgeber verfolgte mit der Novellierung dieser Bestimmung die Absicht, daß ab dem 50. Lebensjahr für Kleingewerbetreibende zur Beurteilung der dauernden Erwerbsunfähigkeit nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig sein soll, sowie das auch bei erlernten oder angelernten Berufen unselbständig Erwerbstätiger schon vor dem 50. Lebensjahr der Fall ist. Ein Tätigkeitsschutz soll allerdings zwischen dem 50. und dem 55. Lebensjahr weiterhin nicht bestehen. Ein Versicherter, der krankheitsbedingt dauernd außerstande ist, jener selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die er zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat, hat nach Vollendung des 55. Lebensjahres Anspruch auf vorzeitiger Alterspension wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit nach § 131c Abs 1 Z 3 GSVG (vgl dazu Teschner/Widlar GSVG 47.ErgLfg 370/10 g und die dort zitierten Materialien).
Zu prüfen ist zunächst, ob die persönliche Arbeitsleistung des Klägers zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war. Unter der Notwendigkeit der persönlichen Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes ist nach ständiger Rechtsprechung des Senates die ausführende Mitarbeit zu verstehen, die notwendig ist, um wirtschaftlich gesehen den vom Versicherten zuletzt geführten Betrieb rentabel aufrecht zu halten (SSV-NF 4/159 mwN). Da das Gesetz von der Notwendigkeit der persönlichen Arbeitsleistung und nicht etwa von der tatsächlichen Erbringung derselben spricht, muß rückschauend geprüft werden, ob diese objektiv im Hinblick auf den betreffenden Betrieb auch erforderlich war. Es ist daher nicht von den Ergebnissen bei schlechter Betriebsführung, sondern von der Notwendigkeit der persönlichen Arbeitsleistung im Rahmen einer wirtschaftlich vertretbaren Betriebsführung auzugehen. Dabei ist auch die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Umstrukturierung des Betriebes zu prüfen (siehe dazu SSV-NF 5/114). Ob nach diesen Grundsätzen die persönliche Arbeitsleistung des Klägers erforderlich war, kann nach den bisherigen Feststellungen noch nicht beurteilt werden. Die Vorinstanzen haben keine Feststellungen über die Struktur des klägerischen Betriebes getroffen, sondern alleine von der Zahl der Mitarbeiter her argumentiert, aber auch dazu keine klaren Feststellungen getroffen. Während der Kläger in seiner Klage selbst behauptete, er habe bis zur Konkurseröffnung einen Installateurbetrieb mit 40 Arbeitnehmern geführt, stellte das Erstgericht fest, er habe "bis zu ca 30 Personen" beschäftigt. In der Berufung sprach der Kläger davon, daß er zuletzt nur mehr 15 bis 20 Arbeitnehmer beschäftigt habe. Zwar ist die Zahl der Arbeitnehmer durchaus ein Kriterium dafür, ob die persönliche Mitarbeit des Geschäftsinhabers erforderlich ist (vgl SSV-NF 3/116, 5/55), doch ist dies nicht das einzige Kriterium. Wie der Revisionswerber zutreffend geltend macht, bedarf es dazu näherer Feststellungen über Art, Umfang und Struktur des klägerischen Unternehmens. Die bloße Zahl der Mitarbeiter sagt nämlich nichts darüber aus, ob der Arbeitsbereich des Klägers delegiert werden konnte, dh ob es Angestellte in der Firma gab, die die Arbeiten übernehmen hätten können. Mangels entsprechender Feststellungen ist daher auch die Schlußfolgerung des Berufungsgerichtes nicht nachvollziehbar, der Betrieb des Klägers hätte so organisiert werden können, daß er allfällige ihm gesundheitlich nicht mehr zumutbare Tätigkeiten auf Mitarbeiter delegiere. Sollte sich ergeben, daß die persönliche Arbeitsleistung des Klägers zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, wird zu prüfen sein, ob er dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die er zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat. Zur Beurteilung dieser Frage bedarf es einer weiteren Ergänzung des medizinischen Leistungskalküls: Die Feststellung, eine Alkoholentwöhnung wäre mit einer Verbesserung der Hirnleistung verbunden, die es dem Kläger wieder ermöglichen würde, "einem Erwerb" nachzugehen, erlaubt keine verläßliche Beurteilung, ob er gerade der im Gesetz umschriebenen selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. Dazu ist die Feststellung eines präzisen Leistungskalküls für die Zeit nach erfolgreicher Absolvierung der Entwöhnungskur erforderlich.
Um die Sache spruchreif zu machen, bedarf es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz. Deshalb waren in Stattgebung der Revision die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.