OGH vom 09.04.2021, 11Os28/21h (11Os36/21k)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. BachnerForegger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter im Verfahren zur Unterbringung des Mehmet K***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über den Antrag des Genannten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 91 Hv 59/20t33, sowie über diese Rechtsmittel nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGHGeo 2019) den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird verweigert.
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung werden zurückgewiesen.
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil zur Gänze aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Text
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 91 Hv 59/20t-33, wurde Mehmet K***** gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, weil er am in W***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, Taten begangen hat, die als Vergehen des tätlichen Angriffs auf Beamte nach § 270 StGB (I) sowie als Vergehen der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs 1, 84 Abs 2 erster Fall StGB (II/A) und nach § 15, 83 Abs 2 [gemeint: Abs 1], 84 Abs 2 erster Fall StGB (II/B) mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind.
[2] Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung gab der anwaltlich vertretene Betroffene keine Erklärung ab (ON 32 S 15). Der letzte Tag der dreitägigen Frist für die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung (§§ 284 Abs 1, 294 Abs 1 StPO) war der .
[3] Über Antrag der Staatsanwaltschaft (§ 210 Abs 3 StPO) ordnete der Vorsitzende des Schöffensenats nach Urteilsverkündung und Durchführung einer Haftverhandlung die Festnahme des Betroffenen und dessen vorläufige Anhaltungin einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an (§§ 173 Abs 1, Abs 2 Z 3 lit a, 429 Abs 4 StPO). Der Betroffene gab dazu nach Rechtsmittelbelehrung ebenso keine Erklärung ab (ON 32 S 16).
[4] Die Ausfertigung des Beschlusses (ON 35) wurde dem Verteidiger am zugestellt (ON 1 S 11). Mit Beschluss vom gab das Oberlandesgericht Wien einer dagegen erhobenen Beschwerde des Betroffenen (ON 40) nicht Folge (ON 45).
Rechtliche Beurteilung
[5] Am beantragte der Betroffene – unter gleichzeitiger Nachholung der versäumten Prozesshandlung („Anmeldung der Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe sowie der Aussprüche über die Schuld [siehe jedoch § 283 Abs 1 StPO] und die Strafe“ – zur Wortwahl vgl Ratz, WK-StPO § 284 Rz 7) – die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (ON 46) gegen die Versäumung der Frist zur Anmeldung von Rechtsmitteln gegen das Urteil vom .
[6] Dazu bringt er im Wesentlichen vor, dass die langjährige Kanzleikraft seines Verteidigers – nach telefonischer Information durch die Rechtsanwaltsanwärterin, die die Hauptverhandlung für den Verteidiger verrichtet hatte – als Frist(-ende) auch für die Anmeldung der Rechtsmittel gegen das Urteil den eingetragen, jedoch bei Abfertigung der – vom Verteidiger verfassten – Beschwerde gegen den Beschluss auf vorläufige Anhaltung am übersehen habe, „dass gleichzeitig auch die Rechtsmittelanmeldung dem Gericht zu übermitteln gewesen wäre“.
[7] Diesen „Vorgang der Rechtsmittelanmeldungen“ führe die Kanzleikraft „üblicherweise selbständig aus“, sie sei „dafür zuständig, kurze Eingaben, insbesondere auch Rechtsmittelanmeldungen, selbständig per WebERV vorzunehmen“. Dem Verteidiger sei zum Zeitpunkt, als er die Beschwerde verfasst habe, nicht „bewusst“ gewesen, dass (sinngemäß) in der Hauptsache bereits ein Urteil ergangen sei. Ein (diktierter) Aktenvermerk der Rechtsanwaltsanwärterin über die Haupt- und Haftverhandlung sei (noch) nicht übertragen gewesen.
[8] Den Beteiligten des Verfahrens ist gegen die Versäumung der Frist zur Anmeldung eines Rechtsmittels die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, sofern sie unter anderem nachweisen, dass es ihnen durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, die Frist einzuhalten oder die Verfahrenshandlung vorzunehmen, es sei denn, dass ihnen oder ihren Vertretern ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt (§ 364 Abs 1 Z 1 StPO). Der Verteidiger unterliegt einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab, wobei Organisationsverschulden, für dessen Beurteilung der Standard einer gut organisierten Rechtsanwaltskanzlei gilt, die Wiedereinsetzung in aller Regel ausschießt (RIS-Justiz RS0101272 [T8, T 9 und T 10]).
[9] Überträgt der Verteidiger einer Kanzleimitarbeiterin Agenden seines Aufgabenbereichs, muss er deren Erledigung kontrollieren, widrigenfalls ihm bei Fehlleistungen der Mitarbeiterin ein Organisations-verschulden anzulasten ist. Ein solches Verschulden hindert mit Blick auf den erwähnten Sorgfaltsmaßstab die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (RIS-Justiz RS0101272 [T13], RS0101407 [T5], RS0124904; Lewisch, WK-StPO § 364 Rz 29).
[10] Zwar kann eine (versehentlich und entgegen einem Auftrag des Rechtsanwalts erfolgte) verspätete oder unterbliebene Absendung (per WebERV) eines vom Verteidiger freigegebenen Schriftsatzes durch eine Kanzleimitarbeiterin unter Umständen ein tauglicher Wiedereinsetzungsgrund sein (RIS-Justiz RS0122717).
[11] Dass aber der Verteidiger fallbezogen seine Mitarbeiterin angewiesen hätte, einen von ihm kontrollierten und unterzeichneten Schriftsatz per WebERV einzubringen und es dabei zu einem Versäumnis dieser Kanzleimitarbeiterin gekommen wäre, wird nicht behauptet. „Selbständig“ – wie im Antrag angeführt – darf die Prozesshandlung der Rechtsmittelanmeldung von einer Kanzleikraft des Rechtsanwalts jedenfalls nicht vorgenommen werden (erneut RIS-Justiz RS0101407 [T5], RS0101272 [T13]).
[12] Im Übrigen kann dem Antrag nicht entnommen werden, weshalb die Übertragung des (diktierten) Aktenvermerks der Rechtsanwaltsanwärterin unterblieb oder der Verteidiger nicht (anderweitig) über den Ausgang des Hauptverfahrens informiert war.
[13] Denn dem mit Beschwerde (ON 40) bekämpften Beschluss über die vorläufige Anhaltung vom ist explizit zu entnehmen, dass die „unbedingte Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB durch Urteil vom heutigen Tage [] bereits ausgesprochen wurde“ (ON 35 S 3). Dass dem Verteidiger dessen ungeachtet nicht „bewusst“ war, „dass das Strafverfahren in der Hauptverhandlung beendet wurde und sohin auch ein Rechtsmittel gegen das Urteil vom anzumelden war“, ist ihm – nach dem Maßstab eines gewissenhaften und umsichtigen Rechtsanwalts (RIS-Justiz RS0101272) unabhängig von der Kanzleiorganisation – als Versehen nicht bloß minderen Grades vorzuwerfen.
[14] Die Wiedereinsetzung war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung des Verteidigers nicht zu bewilligen.
[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde (§§ 284 Abs 1, 285a Z 1, 285d Abs 1 Z 1 StPO) und die Berufung wegen Strafe (§§ 294 Abs 1, Abs 4, 296 Abs 2 StPO) waren nach nichtöffentlicher Beratung ebenso zurückzuweisen (RISJustiz RS0100229; SSt 35/47) wie die im kollegialgerichtlichen Verfahren zudem nicht vorgesehene Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.
[16] Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde musste sich der Oberste Gerichtshof allerdings von materiell-rechtlicher Nichtigkeit (Z 10) des Ausspruchs über die Anlasstaten nach § 260 Abs 1 Z 2 StPO überzeugen (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO;Ratz, WK-StPO § 290 Rz 14 und 18).
[17] Nach dem erstgerichtlichen Spruch hat K*****
„am in W***** unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistig-seelischen Abartigkeit höheren Grades, nämlich einer paranoiden Schizophrenie, beruht,
I./ Beamte, nämlich RevInsp Matthias H***** und RevInsp Sascha L***** während einer Amtshandlung, und zwar während der Abklärung des Sachverhalts, tätlich angegriffen, indem er gezielt auf die Beamten zulief und RevInsp Sascha L***** mit der Faust gegen dessen linke Schulter sowie RevInsp Matthias H***** mit der Faust in die rechte Gesichtshälfte schlug;
II./ Beamte während und wegen der Erfüllung ihrer Pflichten am Körper verletzt, bzw zu verletzen versucht, und zwar durch die unter I./ angeführten Handlungen
A./ RevInsp Matthias H***** verletzt, wodurch dieser eine Schwellung der Ober- und Unterlippe sowie eine leichte Kiefersperre erlitt;
B./ RevInsp Sascha L***** zu verletzen versucht.“
[18] Dadurch habe er „Taten begangen, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind und die ihm, wäre er zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig gewesen,
ad I./ als das Vergehen des tätlichen Angriffs auf Beamte nach § 270 StGB,
ad II./A./ das Vergehen der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs 1, 84 Abs 2 erster Fall StGB und
ad II./B./ das Vergehen der schweren Körperverletzung nach § 15, 83 Abs 2, 84 Abs 2 erster Fall StGB
zuzurechnen wären“.
[19] Steigert sich allerdings – wie hier nach dem Urteilssachverhalt – bei einem einheitlichen Tatgeschehen die Tätlichkeit gegenüber dem Beamten zu einer vorsätzlichen Körperverletzung, wird das Vergehen nach § 270 Abs 1 StGB durch das nach § 83, 84 Abs 2 erster Fall StGB konsumiert (SSt 52/58; RIS-Justiz RS0092960; Danek/Mann in WK² StGB § 270 Rz 7).
[20] Dieser Subsumtionsfehler erfordert die (nichtöffentliche) Aufhebung des Urteils in der zu I./ vorgenommenen Subsumtion der Anlasstaten sowie demzufolge auch im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB. Denn nach § 430 Abs 2 StPO entscheidet das Gericht „über den Antrag ... in sinngemäßer Anwendung des 14. und 15. Hauptstücks ... durch Urteil“. Für dieses gilt demnach sinngemäß § 260 Abs 1 StPO, woraus wiederum folgt, dass die Anordnung der Maßnahme, also der Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO (Ratz in WK² StGB Vor § 21–25 Rz 8), auf jenem nach § 260 Abs 1 Z 2 StPO über die Anlasstat(en) fußt, mit anderen Worten diesen voraussetzt (11 Os 46/05g; vgl Lendl, WK-StPO § 260 Rz 34). Die Aufhebung (auch nur) eines Teils des solcherart den Anknüpfungspunkt für die Anordnung der Maßnahme bildenden Ausspruchs nach § 260 Abs 1 Z 2 StPO zieht demgemäß zwingend die Beseitigung des – logisch davon abhängigen – Einweisungsausspruchs nach sich (vgl RIS-Justiz RS0120576; jüngst 14 Os 94/20k sowie 13 Os 111/18z). Um dem Landesgericht für Strafsachen Wien im zweiten Rechtsgang eine fallbezogene Gesamtbeurteilung der Einweisungsvoraussetzungen des § 21 Abs 1 StGB zu ermöglichen, sprach der Oberste Gerichtshof (darüber hinausgehend) die gänzliche Aufhebung des Urteils aus (§ 289 StPO).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2021:0110OS00028.21H.0409.000 |
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