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OGH vom 26.09.1989, 10ObS236/89

OGH vom 26.09.1989, 10ObS236/89

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Reinhard Drössler (Arbeitgeber) und Walter Benesch (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Zivomir L***, Hilfsarbeiter, 1080 Wien, Alserstraße 57/1, vertreten durch Dr.Werner Zach, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei

P*** DER A***, 1092 Wien, Roßauer

Lände 3, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 32 Rs 3/89-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 16 Cgs 503/88-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension ab gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Der 30jährige (richtig: 33jährige) Kläger erlernte keinen Beruf und war während der letzten 15 Jahre vor der Antragstellung als Abwäscher und Friedhofsarbeiter beschäftigt. Er ist aufgrund seines - im einzelnen beschriebenen - körperlichen und geistigen Zustandes imstande, alle Arbeiten ausschließlich im Sitzen bei den normalen Arbeitszeiten und gewöhnlichen Unterbrechungen zu verrichten, wobei ihm auch gelegentliches Herumgehen und Stehen möglich ist. Auszuschließen sind Arbeiten in Kälte und Nässe sowie Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck. Eine Einschränkung der Anmarschwege auf weniger als 1000 m bis zum nächsten öffentlichen Verkehrsmittel besteht bei günstigen städtischen oder ländlichen Verhältnissen nicht. Diesem Leistungskalkül entsprechen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch grobe Sortier- und Einschlichtarbeiten im Rahmen der Massenfertigung von verschiedenen Warengütern (zB in der Lederwaren- oder Kunststoffbranche), einfache Überprüfungsarbeiten im Rahmen der Massenfertigung von Warengütern (zB in der Metallbranche) oder Tischarbeiten in der Büromittelerzeugung. Für diese Berufstätigkeiten gibt es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß der Kläger nicht invalid im Sinn des für ihn maßgebenden § 255 Abs 3 ASVG sei, weil ihm die angeführten Berufstätigkeiten noch zugemutet werden könnten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der vom Kläger geltend gemachten Mängel des Verfahrens erster Instanz und folgte der rechtlichen Beurteilung der Sache durch das Erstgericht.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erst- oder Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Kläger hat schon in der Berufung als Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz geltend gemacht, daß die vom Erstgericht vernommenen ärztlichen Sachverständigen ihr ergänzendes Gutachten nicht hätten erstatten dürfen, ohne ihn neuerlich untersucht zu haben, und daß hierauf ein ergänzendes Gutachten des Sachverständigen für Berufskunde hätte eingeholt werden müssen. Das Berufungsgericht verneinte die Notwendigkeit einer neuerlichen Untersuchung des Klägers. Damit war auch seiner Rüge, daß nach Vorliegen der aufgrund der neuerlichen Untersuchung erstatteten ärztlichen Gutachten ein ergänzendes Gutachten des Sachverständigen für Berufskunde hätte eingeholt werden müssen, die Grundlage entzogen.

In der Revision macht der Kläger als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nur die angeführten Umstände geltend, die also schon den Gegenstand seiner Berufung bildeten und nach Ansicht des Berufungsgerichtes einen Mangel des Verfahrens erster Instanz nicht begründeten. Es ist ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, daß Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Berufungsgericht nicht als gegeben ansah, auch in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden können (grundlegend SSV-NF 1/32; JBl 1988, 197 ua). Diese Rechtsprechung wurde nunmehr von Kuderna (Der Untersuchungsgrundsatz im Verfahren in Sozialrechtssachen, FS 100 Jahre österreichische Sozialversicherung

341) kritisiert. Der erkennende Senat vermag sich seiner Ansicht jedoch nicht anzuschließen:

Kernpunkt der in Sozialrechtssachen zu der angeführten Frage ergangenen Rechtsprechung ist, daß der Oberste Gerichtshof für andere Verfahren, von noch zu erörternden Ausnahmen abgesehen, seit der Entscheidung SZ 22/106 - in letzter Zeit einhellig - dieselbe Meinung vertritt, wobei sie zuletzt damit begründet wurde, daß dem Obersten Gerichtshof doch nicht die Prüfung der vom Berufungsgericht verneinten, keine Nichtigkeit bewirkenden Mängel des Verfahrens erster Instanz obliegen könne, wenn ihm die Prüfung der vom Berufungsgericht verneinten Nichtigkeitsgründe nach § 519 Abs 1 ZPO verwehrt sei. Gegen diese Rechtsprechung wendet Kuderna (aaO 356 in FN 42) ein, daß ein Grundsatz, wonach "immer nur einmal - in der nächsthöheren Instanz - überprüft werden dürfe, ob ein Verfahrensmangel vorliege", dem Gesetz nicht entnommen werden könne und daß der Größenschluß, der aus der Unanfechtbarkeit einer vom Berufungsgericht verneinten Nichtigkeit gezogen werde, nicht zulässig sei, weil es in einem Fall um die Frage der Rechtsmittelzulässigkeit und im anderen Fall um den Umfang eines Anfechtungsgrundes gehe.

Zum ersten Argument muß nicht Stellung genommen werden, weil sich die damit bekämpfte Begründung in der jüngeren Rechtsprechung nicht mehr findet. Das zweite Argument, das sich - soweit es überblickt werden kann erstmalig mit der aus der Unanfechtbarkeit der Entscheidung über die Nichtigkeit gezogenen Schlußfolgerung auseinandersetzt, überzeugt nicht. Der Größenschluß ist ein Sonderfall der Gesetzesanalogie (Bydlinski in Rummel, ABGB, Rz 3 und 6 zu § 7; Koziol-Welser I8 25). Voraussetzung für diese Analogie und damit auch für den Größenschluß ist, daß eine gesetzliche Regelung planwidrig fehlt (Bydlinski aaO Rz 2 zu § 7; Koziol-Welser aaO 23 ff; SZ 55/51 ua). Dies ist hier eine Bestimmung darüber, inwieweit Mängel des Verfahrens erster Instanz mit Revision geltend gemacht werden können. Diese (offensichtlich planwidrige) Unvollständigkeit muß nach der im Gesetz zum Ausdruck kommenden Wertung ausgefüllt werden (Koziol-Welser aaO 25). Sie kann aber nicht nur aus einer Bestimmung, die denselben, sondern auch aus einer Bestimmung, die einen im wesentlichen gleichartigen Gegenstand regelt, abgeleitet werden. Dies trifft hier aber zu, zumal der von Kuderna aufgezeigte Unterschied in den betroffenen Regelungen darauf zurückgeführt werden kann, daß die Berufung wegen Nichtigkeit durch Beschluß zu verwerfen ist (§ 473 Abs 1 iVm § 471 Z 5 ZPO), während über eine Berufung wegen Mangelhaftigkeit, der nicht Folge gegeben wird, durch Urteil zu entscheiden ist (§ 497 Abs 1 ZPO), dessen Anfechtung eine umfangreichere Regelung erforderte und - im § 503 ZPO - auch erhielt. Nur deshalb geht es in einem Fall um die Rechtsmittelzulässigkeit und im anderen Fall um den Umfang des Anfechtungsgrundes. Inhaltlich ist aber dieselbe Frage zu lösen. Der in der Rechtsprechung vorgenommene Größenschluß hat entgegen der Ansicht Kudernas (aaO) nicht zur Folge, daß auch eine vom Berufungsgericht verneinte unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden darf. Bei der Nichtigkeit handelt es sich, wie nicht zuletzt § 503 (Abs 1) Z 2 ZPO zeigt, um einen Verfahrensmangel (vgl. auch Fasching, ZPR Rz 1663 ff und 1752). Die Wertungen, die aus dem Gesetz für Verfahrensmängel abzuleiten sind, müssen aber nicht zwingend für andere Rechtsmittelgründe gelten.

Der erkennende Senat sieht also keinen Anlaß, von der allgemeinen Rechtsprechung zur Frage der Wahrnehmung von Verfahrensmängeln erster Instanz aufgrund einer Revision abzugehen. Kuderna (aaO 357) kritisiert weiter, daß der Oberste Gerichtshof es abgelehnt hat, die Ausnahmen von dem dargelegten Grundsatz, die in der Rechtsprechung für bestimmte familienrechtliche Verfahren gemacht wurden, auf Sozialrechtssachen auszudehnen. Er übersieht, daß dies nicht allein und nicht einmal überwiegend mit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Untersuchungsgrundsatzes begründet wurde. Es wurden vielmehr auch die Möglichkeit eines Vergleiches, die bindende Wirkung eines Geständnisses und das Neuerungsverbot angeführt. Wie Kuderna selbst richtig bemerkt (aaO), liegt der Grund für die Ausnahmen darin, daß in den betreffenden Verfahren die Erforschung der materiellen Wahrheit absoluten Vorrang genießen soll. Die in der kritisierten Rechtsprechung genannten Besonderheiten des Verfahrens in Sozialrechtssachen können aber eben zu einer materiell unrichtigen Entscheidung führen, weshalb es gerade unter dem von Kuderna aufgezeigten Gesichtspunkt gerechtfertigt ist, daß Sozialrechtssachen in dem hier zu erörternden Zusammenhang anders als die in Betracht kommenden familienrechtlichen Verfahren behandelt werden. Dies wurde in der bisherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes auch betont. Die Ausführungen Kudernas bieten somit keinen Anlaß, von der von ihm bekämpften Rechtsprechung abzugehen, weshalb der erkennende Senat sie aufrecht erhält.

Zu der in der Revision enthaltenen Rechtsrüge genügt es, auf die Entscheidung SSV-NF 2/34 hinzuweisen, weil darin die in der Revision vertretene Ansicht, daß der Kläger im Hinblick auf seinen schlechten Gesundheitszustand in den ihm zumutbaren Verweisungsberufen keinen Arbeitsplatz finden und jedenfalls nicht die Hälfte des von einem gesunden Versicherten erzielten Entgelts verdienen könne, schon unter Hinweis auf frühere Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs abgelehnt wurde.