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VfGH vom 02.05.2011, B350/09

VfGH vom 02.05.2011, B350/09

19362

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung der Beschwerdeführerin wegen unrechtmäßigen Aufenthalts; keine hinreichende Berücksichtigung ihrer Interessen am Verbleib im Bundesgebiet

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.400,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, eine am geborene serbische Staatsangehörige, reiste mit einem von bis gültigen Visum C, ausgestellt von der Österreichischen Botschaft in Belgrad, in das Bundesgebiet ein. Seit ist die Beschwerdeführerin in Wien aufrecht gemeldet. Am heiratete sie einen österreichischen Staatsbürger. Mit wurde über die Beschwerdeführerin wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet rechtskräftig eine Verwaltungsstrafe verhängt.

Der Ehemann der Beschwerdeführerin verstarb am . Am wurde eine gemeinsame Tochter, die österreichische Staatsbürgerin ist, geboren. Am stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erteilung einer quotenfreien Erstaufenthaltsberechtigung aus humanitären Gründen; über diesen Antrag ist im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde noch nicht rechtskräftig abgesprochen worden.

2. Mit Bescheid vom der Bundespolizeidirektion Wien wurde die Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet gemäß § 53 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (im Folgenden: FPG) ausgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom abgewiesen.

Begründend führt die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Ausweisung der Beschwerdeführerin zwar einen Eingriff in das Privat- und Familienleben gemäß Art 8 EMRK darstelle, da die Beschwerdeführerin seit ihrer Einreise im Juli 2005 - wenn auch über Jahre illegal - in Österreich sei, mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet gewesen sei, nach dessen Tod im Oktober 2008 eine Tochter geboren habe, die österreichische Staatsbürgerin und deren Vater der verstorbene Ehemann der Beschwerdeführerin sei. Überdies seien von der Beschwerdeführerin im Ausweisungsverfahren Bindungen zu den (vormaligen) Schwiegereltern bzw. eine Familiengemeinschaft mit diesen behauptet worden.

Der Eingriff sei aber - so die belangte Behörde weiter - zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend notwendig. Begründend wird von der belangten Behörde insbesondere ins Treffen geführt, dass der Umstand, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerin fast zur Gänze unrechtmäßig gewesen sei, wesentlich "interessensmindernd" wirke. Die für die Integration der Beschwerdeführerin maßgeblichen Umstände fielen zudem deutlich weniger ins Gewicht, da diese während eines unrechtmäßigen Aufenthaltes verwirklicht worden seien. Weiters werde die vormalige Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger, die bloß von August 2007 bis März 2008 gedauert habe, sowie das behauptete bestehende Familienleben mit den (vormaligen) Schwiegereltern dadurch relativiert, dass die Bindung zu einem Zeitpunkt eingegangen worden sei, zu dem allen Beteiligten der unsichere bzw. illegale Aufenthalt der Beschwerdeführerin bewusst gewesen sein habe müssen. Selbst wenn die Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter in Familiengemeinschaft mit den im selben Haus wohnenden Schwiegereltern leben würde und zu diesen ein durchaus inniges Verhältnis pflegen möge, versuche die Beschwerdeführerin durch ihren jahrelangen illegalen Aufenthalt bewusst "fait accompli" zu schaffen. Zudem würden die privaten und familiären Interessen der Beschwerdeführerin maßgeblich dadurch relativiert, dass sie von der (zumutbaren) Möglichkeit, vom Ausland aus einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung einzubringen, nicht Gebrauch gemacht habe. Die Stellung eines Antrages auf Erteilung einer quotenfreien Erstaufenthaltsberechtigung aus humanitären Gründen könne sie insofern nicht "exkulpieren". Selbst wenn die Beschwerdeführerin - wie sie behauptet habe - im Herkunftsland über keine Bindungen oder über keine Existenz verfüge, habe sie den Großteil ihres Lebens dort, oder zumindest nicht in Österreich verbracht.

Weiters führt die belangte Behörde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, dass die im angefochtenen Bescheid dargestellten privaten und familiären Bindungen der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet keine "besonderen Umstände" erkennen ließen, die "es ihr mit Blick auf Art 8 EMRK unzumutbar machen würden, auch nur für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens in ihr Heimatland zurückzukehren, bzw. die es zur Abwendung eines unzulässigen Eingriffs in ein durch Art 8 EMRK geschütztes Privat- und Familienleben erforderlich machen würden, vom Erfordernis der Auslandsantragstellung abzusehen und ihr rasch bzw. sofort eine (humanitäre) Niederlassungsbewilligung zu erteilen. Solche besondere Umstände stellen insbesondere auch nicht die Geburt der Tochter im Oktober 2008 dar. Es mag zutreffen, dass die BW [Berufungswerberin] allein obsorgeberechtigt ist; dennoch könnte die Kindesmutter wohl auch die Schwiegereltern in Anspruch nehmen, nachdem eine Familiengemeinschaft behauptet wurde. Es ist aber überdies - und vor allem - kein Grund ersichtlich, warum die BW nicht zusammen mit ihrem Kind (für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens) das Bundesgebiet verlassen können sollte. Von einer 'Abschiebung' eines mj. österreichischen Staatsbürgers - wie in der Berufung vorgebracht - kann indes nicht gesprochen werden. Zudem entspricht es der ständigen Judikatur des VwGH, dass mit der Verhängung einer Ausweisung insbesondere nicht darüber abgesprochen wird, dass ein Fremder in ein bestimmtes Land auszureisen habe, noch dieser abgeschoben werde".

Gesamthaft betrachtet - so die belangten Behörde weiter - erweise sich die Integration der Beschwerdeführerin nicht als derart ausgeprägt, wie sie versucht habe, im Ausweisungsverfahren glaubhaft zu machen. Die von der Beschwerdeführerin durch den jahrelangen unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet bewirkte Beeinträchtigung des hoch zu veranschlagenden maßgeblichen öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens sei daher von solchem Gewicht, dass die (allenfalls) vorhandenen gegenläufigen privaten und familiären Interessen jedenfalls nicht höher zu bewerten seien, als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise der Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet. Dem öffentlichen Interesse liefe es grob zuwider, wenn ein Fremder bloß auf Grund von Tatsachen, die von ihm geschaffen worden seien (nämlich die Nichtausreise aus dem Bundesgebiet trotz fehlenden Aufenthaltstitels), den Aufenthalt im Bundesgebiet erzwingen könnte.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art 144 B-VG, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, insbesondere des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Begründend wird ausgeführt, dass die Interessenabwägung der belangten Behörde iS des Art 8 EMRK unzureichend sei. Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin bereits ab dem mit ihrem späteren Ehemann im gemeinsamen Haushalt gelebt habe und es ihr auf Grund der notwendigen Pflege ihres Ehemannes und der Sorge um das gemeinsame Kind nicht möglich gewesen sei, Österreich für die Dauer eines Niederlassungsverfahrens zu verlassen. Dem Argument der belangten Behörde, dass die Beschwerdeführerin für die Dauer eines Auslandsaufenthaltes auch die Schwiegereltern in Anspruch nehmen hätte können, hält die Beschwerdeführerin entgegen, dass sie ihr (damals) acht Monate altes, noch zu stillendes Kind nicht alleine zurücklassen könne, zumal die Dauer eines im Ausland abzuwartenden Niederlassungsverfahrens nicht absehbar sei. Die im angefochtenen Bescheid angeführte Alternative, das Kind ins Ausland mitzunehmen, übersehe, dass sie im Ausland keine Existenz- und Wohnmöglichkeit für sich und ihr Kind habe, zumal der Vater der Beschwerdeführerin 1992 verstorben sei und zu ihrer Mutter (nach einer neuerlichen Eheschließung) kein Kontakt mehr bestehe. Letztlich habe die belangte Behörde nicht berücksichtigt, dass es im vorliegenden Fall nicht nur um die Interessen der Beschwerdeführerin selbst gehe, sondern auch um das Interesse ihrer minderjährigen Tochter, die österreichische Staatsbürgerin sei, zusammen mit ihrer Mutter und ihren Großeltern in Österreich verbleiben zu können.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie ihre Auffassung erneuert, dass es der Beschwerdeführerin "jedenfalls ab Eheschließung freigestanden [wäre], ihren Aufenthalt zu legalisieren; der BF [Beschwerdeführerin] wäre es aber auch zuzumuten gewesen, zusammen mit ihrem Kind für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens das Bundesgebiet zu verlassen". Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, im Herkunftsstaat über keine Bindungen oder keine Existenz mehr zu verfügen, werde insofern relativiert, als sie den Großteil ihres Lebens in ihrer Heimat verbracht habe und zumindest "noch im Juli 2005 über die Vsterreichische Botschaft Belgrad einen Sichtvermerk (erschleichen) erlangen konnte". Auf Grund der Einreise mit einem Visum C habe die Beschwerdeführerin keinesfalls von einem weiteren legalen Aufenthalt in Österreich ausgehen können. Bei dem Beschwerdevorbringen, dass der Ehe der Beschwerdeführerin bereits eine außereheliche Lebensgemeinschaft mit ihrem späteren Ehemann vorangegangen sei, handle es sich um eine unzulässige Neuerung, da dies im Ausweisungsverfahren nicht vorgebracht worden sei. Ebenso wenig vorgebracht worden sei das Argument, dass es der Beschwerdeführerin auf Grund der notwendigen Pflege ihres Ehemannes in Österreich nicht möglich gewesen sei, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung vom Ausland aus einzubringen. Schließlich beantragt die belangte Behörde, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen oder die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2. Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§53 Abs 1 und 66 Abs 1 FPG wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch nicht entstanden.

3. Der belangten Behörde ist allerdings ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:

3.1. Wie die belangte Behörde zunächst zutreffend festgestellt hat, hält sich die Beschwerdeführerin seit geraumer Zeit rechtswidrig im Bundesgebiet auf, weshalb die Ausweisung - unter Beachtung des § 66 Abs 1 FPG - zutreffend auf § 53 Abs 1 FPG gestützt wurde.

3.2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in VfSlg. 18.223/2007 dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

3.3. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der belangten Behörde vorgenommene Abwägung iS des Art 8 EMRK als unzureichend:

3.4. Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin gegenübergestellt. Im Ergebnis ist sie aber zur Auffassung gelangt, dass der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin in Anbetracht der durch den jahrelangen unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet bewirkten Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens in seinem Gewicht aufgewogen werde.

Zu der mit der Ausweisung der Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet drohenden Trennung von ihrem Kind führt sie aus, dass die Beschwerdeführerin für die Dauer des Abwartens eines Niederlassungsverfahrens im Ausland entweder das Kind bei den Schwiegereltern belassen oder - um eine Trennung zu vermeiden - mit dem Kind gemeinsam ausreisen könne. Dabei unterlässt es die belangte Behörde aber, sich mit den Folgen der genannten Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Insbesondere fehlt die Berücksichtigung des Umstandes, dass der Beschwerdeführerin die alleinige Obsorge für das Kind mit österreichischer Staatsbürgerschaft zukommt; ob eine gemeinsame Ausreise der Beschwerdeführerin mit ihrem Kind sowie die gemeinsame Wohnsitznahme im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin überhaupt möglich wären und welche Auswirkungen eine allfällige Trennung der Mutter von ihrem Kind auf dieses hätte, lässt der angefochtene Bescheid unerörtert (vgl. ; zur Zumutbarkeit des Familiennachzugs österreichischer Staatsbürger vgl. weiters VfSlg. 18.832/2009 und , jeweils mN aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Dadurch, dass die belangte Behörde die durch Art 8 EMRK geschützten Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich - rechtlich unzutreffend - nicht hinreichend berücksichtigt hat, wurde die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,- enthalten.

3. Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.