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OGH vom 01.09.1998, 10ObS233/98g

OGH vom 01.09.1998, 10ObS233/98g

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon.-Prof. Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinrich Basalka und Mag. Dr. Walter Zeiler (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache des Paul Sch*****, vertreten durch Dr. Heinz Robathin, Rechtsanwalt in Wien, und der Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1030 Wien, Ghegastraße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revisionsrekurses des Paul Sch***** gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 10/98h-8, womit der Rekurs des Genannten gegen den Beschluß des Landesgerichtes Krems als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 8 Cgs 290/97f-3, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Eingabe des Antragstellers vom wird an die Sozialversicherungsanstalt der Bauern zurückgestellt.

Die Sozialversicherungsanstalt der Bauern ist schuldig, dem Rechtsmittelwerber zu Handen seines Vertreters binnen 14 Tagen die mit S 5.752,32 (hierin enthalten S 958,72 USt) bestimmten Kosten der Rekursverfahren zweiter und dritter Instanz zu ersetzen.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom fand die Sozialversicherungsanstalt der Bauern den voraussichtlichen Rentenaufwand des am geborenen Paul Sch***** für die Folgen eines Arbeitsunfalles am in seinem landwirtschaftlichen Betrieb gemäß § 209 Abs 2 erster Satz ASVG durch eine Gesamtvergütung im Betrag von S 6.844,-- ab; dieser Gesamtvergütung lagen dabei der Zeitraum 14. 4. bis und eine MdE von 20 vH zugrunde.

Am stellte der Genannte durch seinen bevollmächtigten Vertreter den beim Versicherungsträger am eingelangten "Antrag auf Zuerkennung einer Versehrtenrente ab dem in gesetzlicher Höhe".

Dieser behandelte diesen Schriftsatz als Klage nach § 84 ASGG und leitete ihn samt Klagebeantwortung nach § 85 Abs 2 ASGG mit dem Antrag an das Erstgericht weiter, die Klage wegen Fristversäumnis (Einbringung nach Ablauf der vierwöchigen Klagefrist des § 67 Abs 2 ASGG) zurückzuweisen.

Das Erstgericht schloß sich dieser Rechtsmeinung an und wies die "Klage" mit Beschluß zurück. Da der Bescheid ohne Zustellnachweis zugestellt wurde, habe die Zustellung als gemäß § 26 Abs 2 ZustellG mit dem dritten Werktag der Übergabe, also dem , bewirkt zu gelten; demnach habe die 4-wöchige Klagefrist am geendet.

Gegen diesen Beschluß erhob Paul Sch***** Rekurs. Darin führte er aus, daß der erstgerichtlichen Entscheidung jede Grundlage fehle. Er habe keine Klage erhoben, sondern einen Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente nach Ablauf der Abfindungsfrist gestellt, über den der Versicherungsträger zu entscheiden habe; es sei ihm völlig unverständlich, wieso sein Antrag zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht worden und eine gar nicht erhobene Klage zurückgewiesen worden sei. Für den Fall, daß seinem Rechtsmittel nicht Folge gegeben werden sollte, stelle er den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist gemäß § 67 Abs 2 ASGG und erhebe nunmehr Klage gegen den einleitend bezeichneten Bescheid.

Das Rekursgericht wies den gegen den Beschluß des Erstgerichtes erhobenen Rekurs als unzulässig zurück und verpflichtete den beteiligten Versicherungsträger, dem Rekurswerber die Rekurskosten zu ersetzen. Es bestehe nicht der geringste Anhaltspunkt, daß sich der Antragsteller (Kläger) mit seinem Schreiben vom an den Versicherungsträger gegen dessen Bescheid vom und die darin festgesetzte Abfindung für den Zeitraum vom 14. 4. bis habe wenden wollen. Der Antrag betreffe aber die Zuerkennung einer Versehrtenrente (als Dauerrente) für einen Zeitraum ab , der vom genannten Bescheid nicht berührt werde. § 209 Abs 2 ASVG sehe einen solchen Antrag ausdrücklich vor, weshalb die Behandlung der Eingabe als Klage durch den Versicherungsträger (und in der Folge auch durch das Erstgericht) verfehlt gewesen sei. Zufolge Fehlens eines Sachantrages habe daher ein streitiger Zivilprozeß (im Rahmen der sukzessiven Zuständigkeit der Gerichte) gar nicht in Gang gesetzt werden können, weshalb ein trotzdem erlassenes Urteil oder der hier trotzdem erlassene Zurückweisungsbeschluß als Nichtentscheidung zu qualifizieren sei. Mangels Vorliegens einer anfechtbaren Entscheidung mangle es dem Einschreiter damit aber auch an einer wesentlichen Rechtsmittelzulässigkeitsvoraussetzung, sodaß mit der Zurückweisung seines Rekurses vorzugehen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der auf die Rechtsmittelgründe der Nichtigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revisionsrekurs Paul Sch***** mit dem primären Antrag, in Stattgebung seines Rechtsmittels die Beschlüsse der Vorinstanzen als nichtig aufzuheben und das Verfahren für nichtig zu erklären; hilfsweise wird beantragt, den Beschluß des Rekursgerichtes dahin abzuändern, daß der Beschluß des Erstgerichtes ersatzlos behoben werde; schließlich wird auch noch eventualiter beantragt, mit Beschluß auszusprechen, daß der Beschluß des Erstgerichtes als nicht gefällt anzusehen sei.

Vorauszuschicken ist, daß das Rechtsmittel gegen den Zurückweisungsbeschluß eines Rekursgerichtes, mit dem ein Rekurs aus formellen Gründen zurückgewiesen wurde, einseitig ist (RZ 1994/47; RS0043760).

Der Rechtsmittelwerber erachtet den Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 6 ZPO als gegeben, weil über eine (noch) nicht auf den Rechtsweg gehörige Sache erkannt worden sei; außerdem habe das Erstgericht keine Sachentscheidung (bei welcher allenfalls die vom Rekursgericht herangezogene Analogie zu Nichturteilen möglich sei) gefällt, sodaß jedenfalls ein mittels Rekurs anfechtbarer Beschluß vorgelegen habe, welcher somit vom Rekursgericht ersatzlos behoben hätte werden müssen.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu folgendes erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Gesetzliche Grundlage für die bescheidmäßig zuerkannte Gesamtvergütung des Klägers ist - wie auch im Bescheid hervorgehoben wird - § 209 Abs 2 erster Satz ASVG. Nach dem zweiten Satz dieser Gesetzesstelle ist nach Ablauf des dieser Vergütung zugrundegelegten Zeitraumes (hier: vom 14. 4. bis ) auf Antrag unter den Voraussetzungen des § 203 ASVG eine entsprechende Versehrtenrente zu gewähren, und zwar ab dem auf den Ablauf dieses Zeitraumes folgenden Tag (hier also: ), wenn der Antrag innerhalb von zwei Jahren (hier: am 16./) gestellt wurde. Ausgehend von dieser Gesetzeslage war es somit zumindest zweifelhaft, ob es sich bei der Eingabe (beim Antrag) des Versicherten vom um eine "Klage" (an das Arbeits- und Sozialgericht) oder um einen "Antrag" (an den Versicherungsträger) handelte. Nach der Rechtsprechung enthält der Bescheid über die Gewährung einer Gesamtvergütung eine negative Entscheidung hinsichtlich des über die Bemessung der Gesamtvergütung hinausgehenden Zeitraumes; diese Negativentscheidung bildet an sich eine taugliche Grundlage für eine Klage gemäß § 67 Abs 1 ASGG (SSV-NF 4/71 = JBl 1991, 201, SSV-NF 7/89) - wie dies auch der "Belehrung über das Klagerecht" in S 3 des Bescheides entspricht. Den Ausführungen des Rekursgerichtes, für eine solche Annahme (nämlich einer Klage gegen den Bescheid vom ) bestehe "nicht der geringste Anhaltspunkt", kann nicht gefolgt werden. Allein der Umstand, daß die Eingabe - wenngleich von einem Rechtsanwalt verfaßt - nicht als "Klage" bezeichnet wurde, ist für eine solche Annahme nicht ausreichend; im Zweifelsfall hätte erforderlichenfalls ein Verbesserungsverfahren (§§ 84, 85 ZPO,§ 2 Abs 1 ASGG) hierüber Klarheit verschaffen können. Im vorliegenden Fall ist zwar eine solche Klarstellung mit dem Antragsteller (bzw seinem Vertreter) darüber, ob er mit der Eingabe den Abfindungsbescheid bekämpfen oder einen Antrag auf Versehrtenrente im Sinne des § 209 Abs 2 zweiter Satz ASVG an den Versicherungsträger stellen wollte, unterblieben; nur im ersten Fall wäre eine Entscheidungskompetenz des Gerichtes gegeben. Der Einschreiter hat jedoch bereits in seinem Rekurs (und ebenfalls nunmehr im Revisionsrekurs) klargestellt, daß er keine (Bescheid-)Klage erheben, sondern tatsächlich (nur) einen neuen Antrag an den Versicherungsträger stellen wollte, und damit jene Klarstellung nachgetragen, welche im Rahmen eines solchen Verbesserungsverfahrens vorzunehmen gewesen wäre. Ausgehend davon, fehlt es an einer gerichtlichen Entscheidungskompetenz (die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für eine Bescheidklage samt Nachholung der versäumten "Klage" wurde im Rekurs ausdrücklich nur eventualiter beantragt und ist daher für diese Beurteilung unbeachtlich, zumal über diesen Wiedereinsetzungsantrag derzeit auch weder eine positive noch negative Entscheidung vorliegt).

Daraus folgt aber, daß den "Antrag" vom nicht das Gericht (im Sinne seiner sukzessiven Zuständigkeit, welches Modell eine Entscheidungsbefugnis des Gerichtes grundsätzlich erst dann vorsieht, wenn zuvor über den betreffenden Anspruch eine meritorische Entscheidung des Versicherungsträgers ergangen oder dieser säumig geworden ist: § 67 Abs 1 ASGG; SSV-NF 2/67, 4/133; Fink, Sukzessive Zuständigkeit, 83 spricht in diesem Zusammenhang von einer "Vorschaltung eines obligatorischen 'Vorverfahrens' beim Sozialversicherungsträger"), sondern - vorerst - der Versicherungsträger zu erledigen hat. Entgegen diesem Ergebnis hat jedoch das Erstgericht sich hierüber selber eine Entscheidungsbefugnis - wenngleich nicht in merito, sondern formell im Zusammenhang mit der Annahme eines Prozeßhindernisses - zuerkannt, welche jedoch nur vorgelegen wäre, wenn vom "Kläger" tatsächlich eine "Klage" erhoben worden wäre. Tatsächlich hat jedoch nicht der Einschreiter eine unzulässige "Klage", sondern vielmehr der Versicherungsträger eine unzulässige "Klagebeantwortung" (§ 85 ASGG) erhoben, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche nach dem Gesagten tatsächlich nicht erfüllt waren.

Wenngleich auch das Rekursgericht - an sich zutreffend - erkannt hat, daß es sich beim "Antrag" des Einschreiters nicht um eine Klage (iS der §§ 82 ff ASGG) handelte, so kann doch dessen weiterer Schlußfolgerung, wonach es sich bei der dennoch hierüber (prozessual) ergangenen Entscheidung des Erstgerichtes um eine "Nichtentscheidung" im Sinne eines "rechtlichen Nichts" handelte, nicht gefolgt werden. Als Nichturteile (Nichtbeschlüsse), gegen die ein Rechtsmittelzug unzulässig und daher ein dennoch erhobenes Rechtsmittel zurückzuweisen ist (Fasching, Lehrbuch2 Rz 1582; RS0041902), werden Entscheidungen angesehen, die von einer nicht zum Richteramt bestellten Person (unter Umständen auch als Mitglied eines richterlichen Senates: RZ 1975/19, JBl 1975, 325), gegen eine nicht vorhandene (nicht existente) Partei oder ohne Urteilsantrag einer Partei gefällt wurden (Fasching, aaO Rz 173, 329, 1575 ff, 1581):

Eine wesentliche Voraussetzung der streitigen Zivilgerichtsbarkeit besteht nämlich darin, daß sich diese überhaupt nur dann entfalten kann, wenn (wirksame) Rechtschutzanträge der Parteien vorliegen ("nemo iudex sine actore": 4 Ob 516/75).

Auch wenn es in der vorliegenden Sache an einem solchen "Urteilsantrag" des Paul Sch***** als Kläger mangelt, so ist doch auf die verfahrensrechtlichen Besonderheiten des ASGG hier vorrangig Bedacht zu nehmen: Danach kann ein Verfahren vor den Arbeits- und Sozialgerichten nicht bloß durch eine bei diesem selbst eingebrachte und den Vorschriften des § 226 ZPO,§ 82 ASGG genügende Klage, sondern auch durch eine beim zuständigen Versicherungsträger (wenngleich innerhalb offener Frist) eingebrachte Eingabe erhoben werden, der diesen Schriftsatz sodann gemäß § 85 Abs 2 ASGG an das zuständige Gericht weiterzuleiten hat. Durch diese "technische Regelung zur Vermeidung von Verwaltungsaufwand" (Feitzinger/Tades, ASGG2 Anm 3 zu § 84; Kuderna, ASGG2 519) wird der verfahrenseröffnende Schritt zwar ebenfalls vom Versicherten gefordert, abweichend von sonstigen Zivilprozessen ist jedoch die erste (und damit verfahrenseinleitende, etwa auch die registermäßige Erfassung mit Vergabe des Aktenzeichens bestimmende) prozessuale Handlung gegenüber dem Gericht dem Versicherungsträger übertragen. Da somit aufgrund dieses in der Verfahrensordnung für bestimmte Sozialrechtssachen ausnahmsweise formell und ausdrücklich vorgesehenen (wenngleich hier vom Versicherungsträger fälschlicherweise ausgeübten) Anrufungsrechtes des Arbeits- und Sozialgerichtes dem Erstgericht ein durch den Prozeßgegner auch ausdrücklich gestellter (negativer) Urteilsantrag, nämlich "dem Klagebegehren nicht stattzugeben" bzw "die Klage wegen Fristversäumnis zurückzuweisen" (ON 2) vorlag, kann von einer - nicht bekämpfbaren - "Nichtentscheidung" (mangels wirksamen Rechtsschutzantrages einer Partei) nicht ausgegangen werden. Insoweit grenzt sich der gegenständliche Fall damit von jenen Entscheidungen (in allgemeinen Rechtssachen) ab, in denen derartiges von Rechtsprechung und Lehre bisher angenommen wurde.

Den Gerichten mangelt es daher derzeit unter sämtlichen rechtlichen Gesichtspunkten an einer (inhaltlichen) Entscheidungskompetenz zur Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren des Versicherten, gerichtet auf Versehrtenrente ab dem . Damit mußten aber die Beschlüsse der Vorinstanzen in Stattgebung des hiegegen ankämpfenden Rechtsmittels aufgehoben werden. Gleichzeitig war - zur Vermeidung weiterer Verzögerungen - die Eingabe - wie aus dem Spruch ersichtlich - an den zuständigen Versicherungsträger zurückzustellen, dem allein die Erledigung desselben zukommt.

Da die antragstellende Partei mit ihrem Rechtsmittel in einem durch die Falschbehandlung der Eingabe vom Versicherungsträger ausgelösten Zwischenstreit obsiegt hat, waren ihr gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG die tarifmäßigen Kosten der Rekursverfahren beider Instanzen aufzuerlegen.