Suchen Hilfe
OGH 15.01.2020, 16Ok2/19h

OGH 15.01.2020, 16Ok2/19h

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Kartellrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Kodek und die Hofrätin Dr. Solé als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, 1030 Wien, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. N***** AG, *****, vertreten durch Becker Günther Polster Regner Rechtsanwälte GmbH in Wien, 2. S***** AG, *****, vertreten durch Dr. Wolfgang Bosch, Dr. Alexander Fritzsche, Rechtsanwälte in Mannheim (Deutschland), 3. A***** GmbH, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH, wegen Feststellung (§ 28 Abs 1 KartG 2005) und Geldbuße (§ 87 Abs 2 iVm § 142 Z 1 lit a und d KartG 1988 bzw § 29 Z 1 lit a und d KartG 2005), über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom , GZ 29 Kt 2/16k, 29 Kt 3/16g-106, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Akten werden dem Erstgericht zurückgestellt.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Die Zweitantragsgegnerin wurde im bisherigen Verfahren durch deutsche Rechtsanwälte vertreten. Im Verfahren vor dem Kartellobergericht herrscht nunmehr im Hinblick auf § 49 Abs 1 KartG Anwaltszwang.

Gemäß § 5 EIRAG dürfen in Verfahren, in denen sich die Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen muss, dienstleistende europäische Rechtsanwälte als Vertreter nur im Einvernehmen mit einem in der Liste der Rechtsanwälte der österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwalt (Einvernehmensrechtsanwalt) handeln. Diesem obliegt es, beim dienstleistenden europäischen Rechtsanwalt darauf hinzuwirken, dass er bei der Vertretung die Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege beachtet. Das Einvernehmen ist bei der ersten Verfahrensverhandlung gegenüber dem Gericht schriftlich nachzuweisen (2 Ob 36/15f).

Die Herstellung und der Nachweis des Einvernehmens sind Bedingungen dafür, dass die Verfahrenshandlung des einschreitenden ausländischen Rechtsanwalts denen eines österreichischen gleichgestellt ist. Solange das Einvernehmen nicht nachgewiesen ist, ist die Postulationsunfähigkeit nicht beseitigt (2 Ob 36/15f; 2 Ob 256/08y []).

Das Fehlen des Nachweises eines Einvernehmens ist ein der Verbesserung zugängliches Formgebrechen (RIS-Justiz RS0124121). Der Verbesserungsauftrag ist an den Vertreter und nicht an die Partei (2 Ob 36/15f; vgl 7 Ob 135/04k, 2 Ob 256/08y) zuzustellen.

Die Akten waren daher zur Durchführung dieses Verbesserungsverfahrens an das Kartellgericht zurückzustellen.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Kartellrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Kodek, die Hofrätin Dr. Solé und die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Dorothea Herzele und KR Mag. René Tritscher als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. N***** AG, *****, vertreten durch Becker Günther Polster Regner Rechtsanwälte GmbH in Wien, 2. S***** AG, *****, vertreten durch Dr. Wolfgang Bosch und Dr. Alexander Fritzsche, Rechtsanwälte in Mannheim, Deutschland, Einvernehmensanwalt Dr. Hanno Wollmann, Rechtsanwalt in Wien, 3. A***** GmbH, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH, wegen Feststellung (§ 28 Abs 1 KartG 2005) und Geldbuße (§ 87 Abs 2 iVm § 142 Z 1 lit a und lit d KartG 1988 bzw § 29 Z 1 lit a und lit d KartG 2005), im Verfahren über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom , GZ 29 Kt 2/16k, 29 Kt 3/16g-106, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist das in der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anwendbarkeit des Grundsatzes „ne bis in idem“ aufgestellte dritte Kriterium, nämlich dass das gleiche geschützte Rechtsgut betroffen sein muss, auch dann anzuwenden, wenn die Wettbewerbsbehörden zweier Mitgliedstaaten berufen sind, für den selben Sachverhalt und in Bezug auf die selben Personen neben nationalen Rechtsnormen auch die selben europäischen Rechtsnormen (hier: Art 101 AEUV) anzuwenden?

Bei Bejahung dieser Frage:

2. Liegt in einem solchen Fall der parallelen Anwendung europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts das gleiche geschützte Rechtsgut vor?

3. Ist es darüber hinaus für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ von Bedeutung, ob die zeitlich erste Geldbußenentscheidung der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats die Auswirkungen des Wettbewerbsverstoßes in tatsächlicher Hinsicht auf jenen weiteren Mitgliedstaat berücksichtigt hat, dessen Wettbewerbsbehörde erst danach im von ihr geführten wettbewerbsrechtlichen Verfahren entschieden hat?

4. Liegt auch bei einem Verfahren, in dem wegen der Teilnahme eines Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm nur dessen Zuwiderhandlung gegen Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, ein vom Grundsatz „ne bis in idem“ beherrschtes Verfahren vor, oder kann eine solche bloße Feststellung der Zuwiderhandlung unabhängig vom Ergebnis eines früheren Verfahrens betreffend die Verhängung einer Geldbuße (in einem anderen Mitgliedstaat) erfolgen?

B. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

I. Sachverhalt:

Die Gruppe der Erstantragsgegnerin ist eine der führenden Zuckerproduzentinnen in Europa. Der Konzern der Zweitantragsgegnerin gehört zu den weltweit größten Zucker-, Stärke- und Fruchtproduzenten mit insgesamt 29 Zuckerwerken. Die Drittantragsgegnerin, die von der Zweitantragsgegnerin kontrolliert wird, betreibt zwei Zuckerwerke in Österreich und hat über Tochterunternehmen weitere Zuckerwerke in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bosnien (früher auch in Bulgarien).

Die Märkte für die Herstellung und den Vertrieb von Zucker können sachlich grundsätzlich in einen Markt für Verarbeitungszucker (bzw „Industriezucker“) und einen Markt für Haushaltszucker gegliedert werden. Diese unterscheiden sich im Vertriebsweg und in der Größe der Gebinde.

Die verschiedenen nationalen Regulierungsinstrumente für die Zuckermärkte wurden im Jahr 1968 von der europäischen Zuckermarktordnung (ZMO) abgelöst. Grundlegendes Ziel war es, den europäischen Zuckerrübenanbau und eine autarke Versorgung der europäischen zuckerverarbeitenden Betriebe und der europäischen Konsumenten mit europäischem Zucker zu sichern. Dazu wurden den Mitgliedsstaaten Produktionsquoten zugeteilt, die sie in der Folge auf ihre jeweiligen Produzenten aufteilten; Übermengen wurden gefördert exportiert.

Im Jahr 2004 musste die EU aufgrund eines WTO-Schiedsspruchs die Exportförderungen einstellen bzw stark einschränken. Am wurde daher die ZMO 2006 (VO 318/2006) beschlossen. Ziel war es, die Zuckerproduktion um etwa 6 Mio t zu verringern. Zur Steuerung dieses Vorgangs erfasste die Kommission monatlich sämtliche Lagerbestände aller Zuckerunternehmen. Diese Daten stellte sie in aggregierter Form allen Unternehmen zur Verfügung. Auch alle Importe und Exporte wurden erfasst.

In Deutschland wurde der Zuckermarkt seit Jahrzehnten von den Betrieben dreier großer Hersteller dominiert, darunter die Erstantragsgegnerin und die Zweitantragsgegnerin. Da die Zuckerwerke der Unternehmen historisch vor allem aus den Zusammenschlüssen benachbarter Zuckerwerke entstanden, sind sie nicht jeweils über das deutsche Bundesgebiet verteilt, sondern bilden fast geschlossene Blöcke, wobei die Werke der Erstantragsgegnerin im Norden, jene der Zweitantragsgegnerin im Süden liegen. Da Verarbeitungszucker ein homogenes Produkt ist, bei dem zumindest in Mitteleuropa keine qualitative Differenzierung möglich ist, und die Transportkosten eine erhebliche Rolle spielen, war es betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, Verarbeitungszucker an von den eigenen Produktionsstätten weit entfernte Kunden zu liefern. Für die daraus resultierende Aufteilung des deutschen Marktes in die Kernabsatzgebiete der drei großen deutschen Hersteller wurde der Begriff „Heimatmarktprinzip“ geprägt. Ausländische Märkte waren damit nicht gemeint, und zwar auch nicht solche, in denen, wie in Österreich, Tochterunternehmen der deutschen Zuckerproduzenten tätig waren. Die Drittantragsgegnerin agiert auf den von ihr betreuten Märkten weitgehend selbständig und wird als der österreichische Zuckerhersteller betrachtet.

Der WTO-Schiedsspruch veranlasste einzelne Produzenten, deren Quote über ihrem regionalen Bedarf lag, Kunden außerhalb ihres angestammten Liefergebiets bzw ihres Landes zu gewinnen. Insbesondere ein französisches Unternehmen versuchte mit niedrigpreisigen Angeboten Industriekunden in den angestammten Absatzgebieten der drei großen deutschen Zuckerhersteller zu akquirieren. Auch der am vollzogene Beitritt von mehreren ost- und mitteleuropäischen Staaten zur EU führte zu Unruhe auf dem deutschen Markt. Spätestens ab 2004 kam es deshalb zu mehreren Treffen zwischen den damals für Verarbeitungszucker in Deutschland zuständigen Vertriebsleitern der Erst- und der Zweitantragsgegnerin. Dabei wurde die Wichtigkeit betont, dem neu entstandenen Wettbewerbsdruck dadurch auszuweichen, dass die deutschen Unternehmen sich nicht gegenseitig Konkurrenz machten, indem sie in die angestammten Kernabsatzgebiete der anderen Hersteller eindrangen. Von Österreich war in diesen Gesprächen nicht die Rede. Die Drittantragsgegnerin war an diesen Gesprächen auch nicht beteiligt. Verantwortliche der Drittantragsgegnerin, insbesondere ihr Geschäftsführer, erfuhren vor Beginn des vorliegenden Verfahrens auch nichts über diese Gespräche.

Für das österreichische Absatzgebiet von wesentlicher Bedeutung war die Öffnung der EU-Ostgrenzen. Während die Drittantragsgegnerin bis dahin durch die geografische Lage Österreichs vom Wettbewerb fast zur Gänze abgeschirmt war, musste sie nunmehr erstmals wettbewerbliche Angriffe insbesondere aus der Slowakei und aus Tschechien befürchten. Um den Jahreswechsel 2005/06 stellte die Drittantragsgegnerin fest, dass einige bisher exklusiv von ihr belieferte Industriekunden Zucker aus der Slowakei bezogen. Es war klar, dass die slowakischen Lieferungen nur von der Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin stammen konnten, weil das zweite führende slowakische Unternehmen eine Tochtergesellschaft der Drittantragsgegnerin selbst war. Der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin informierte den Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin anlässlich eines Telefonats über andere Konzernthemen am auch über diese Lieferungen nach Österreich und fragte ihn, ob er jemanden bei der Erstantragsgegnerin kenne, mit dem er darüber reden könne. Der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin entschloss sich daraufhin, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er rief unmittelbar nach dem Telefonat den Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin an und informierte ihn über die Lieferungen nach Österreich. Er ließ eine gewisse Verärgerung erkennen und deutete mögliche Konsequenzen für den deutschen Markt zumindest an. Der Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin gab ihm gegenüber keine Zusage ab, nahm aber das Risiko für den „wettbewerblichen Frieden“ auf dem deutschen Markt ernst und berichtete seinem Kollegen und dem Vorstandsvorsitzenden der Erstantragsgegnerin per E-Mail am über das Gespräch. Außerdem fragte er beim Vorstandsvorsitzenden mündlich nach, wie er auf die Äußerungen reagieren solle. Dieser wies ihn an, darauf gar nicht, insbesondere nicht durch eine Rückmeldung, zu reagieren. Der Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin kam daher nicht mehr auf das Thema zurück. Er erklärte aber gegenüber dem Vertriebsverantwortlichen der slowakischen Tochtergesellschaft den Wunsch nach einer Nichtausdehnung der Exporte nach Österreich. Dieser betrachtete diesen Wunsch einer für ihn wichtigen Person aus der Konzernzentrale als Weisung und war bereit, diese umzusetzen.

Da die Drittantragsgegnerin weiterhin Lieferungen aus der Slowakei nach Österreich registrierte und ihr die ursprünglich ambitionierteren Ziele von der Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin für das Jahr 2006 nicht bekannt waren, hatten diese internen Vorgänge bei der Erstantragsgegnerin für sie keinen Auffälligkeitswert. Das Telefonat vom blieb das einzige Gespräch zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin, in dem der österreichische Markt erwähnt wurde. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin über das Telefonat des Vertriebsleiters der Zweitantragsgegnerin mit dem Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin informiert wurde. Bei weiteren persönlichen Gesprächen zwischen den Vertretern der Antragsgegnerinnen 2006, 2007 und 2008 wurde nicht über den österreichischen Markt gesprochen.

Mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid vom , Aktenzeichen B2-36/09, verhängte das deutsche Bundeskartellamt über die Zweitantragsgegnerin als Nebenbetroffene eine Geldbuße von 195.500.000 EUR, weil mehrere (namentlich genannte) Betroffene als Mitglieder ihrer vertretungsberechtigten Organe, als Prokuristen und als sonstige für die Leitung des Betriebs oder des Unternehmens verantwortlich handelnde Personen im Zeitraum von spätestens Ende 2001 bis an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Deutschland vorsätzlich dem Verbot von Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen zuwiderhandelten, welche den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken, bzw weil sie fahrlässig die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterließen, um diese Verletzung des Kartellverbots zu verhindern, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Dem liegt zu Grunde, dass verantwortlich Handelnde der Erstantragsgegnerin, der Zweitantragsgegnerin und des dritten deutschen Unternehmens sowohl für Verarbeitungszucker als auch für Haushaltszucker eine Absprache praktizierten, die jeweiligen Kernabsatzgebiete der Wettbewerber zu respektieren („Heimatmarktprinzip“). In diesem Zusammenhang traf das deutsche Bundeskartellamt Feststellungen über regelmäßige Treffen zwischen den Vertretern der Erst- und der Zweitantragsgegnerin von 2004 bis 2007 bzw Sommer 2008. In Rn 12 dieses nur knapp 22 Seiten umfassenden Bußgeldbescheids wird ausdrücklich der Inhalt des oben geschilderten Telefonats vom zwischen dem Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin und dem Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin betreffend Österreich wiedergegeben.

2. Vorbringen und Anträge:

Die Antragstellerin beantragte gegenüber der Erstantragsgegnerin die Feststellung, dass diese Art 101 AEUV und § 1 KartG 2005 bzw § 9 iVm § 18 KartG 1988 zuwidergehandelt habe, sowie gegenüber der Zweitantragsgegnerin die Verhängung einer Geldbuße von 12.460.000 EUR für den Zeitraum von bis bzw einer weiteren Geldbuße von 15.390.000 EUR gesamtschuldnerisch mit der Drittantragsgegnerin für den Zeitraum von bis .

Aufgrund der Unklarheiten über die zukünftige Zuckermarktordnung und durch die EU-Osterweiterung mit sei ein Preisverfall ausgelöst worden, der die Erst- und die Zweitantragsgegnerin veranlasst habe, explizit miteinander in Kontakt zu treten. Dabei sei man zu dem Grundverständnis gelangt, die de facto entstandenen Kernabsatzgebiete des jeweils anderen Wettbewerbers zu respektieren. Dieses Grundverständnis sei in regelmäßigen, etwa halbjährlich stattfindenden Gesprächen bekräftigt worden, und habe implizit andere Kernmärkte, wie Österreich, miteingeschlossen. In diesem Zusammenhang sei es zu Kontakten betreffend den österreichischen Markt beim Telefonat am gekommen. In der Folge habe es eine Reihe von (näher bezeichneten) Treffen im Hinblick auf den österreichischen Markt gegeben, die im Einklang mit dem Verständnis des der Drittantragsgegnerin zugesicherten Gebietsmonopols gestanden seien. Die einzelnen Kontaktnahmen zwischen den Kartellteilnehmern seien in ihrer Gesamtheit und im weiteren Kontext zu bewerten. Eine aktive Beteiligung der Drittantragsgegnerin könne ab dem ersten persönlichen Treffen am festgestellt werden. Ab diesem Zeitpunkt bis zum hafte deshalb auch die Drittantragsgegnerin gesamtschuldnerisch mit der Zweitantragsgegnerin. Auf die vorliegenden Verhaltensweisen sei Art 101 AEUV anwendbar. Die Ausnahmen des Art 2 VO 1184/2006 bzw Art 2 VO 26/1962 könnten nicht in Anspruch genommen werden. Die Frage des Doppelbestrafungsverbots sei nicht relevant, weil das deutsche Bundeskartellamt nur Absprachen abgehandelt habe, die Auswirkungen auf den deutschen Markt gehabt hätten. Es sei gemeinschaftsrechtlich zulässig, dass bei einer mehrere Mitgliedsstaaten umfassenden Zuwiderhandlung die nationalen Behörden parallel Sanktionen verhängen, sofern die Geldbußen auf die Auswirkungen in den jeweiligen Hoheitsgebieten beschränkt blieben. Dies sei bei der Entscheidung des deutschen Bundeskartellamts der Fall gewesen. Hier würden dagegen nur die Auswirkungen auf den österreichischen Markt verfolgt.

Die Erstantragsgegnerin beantragte, den gegen sie gerichteten Feststellungsantrag mangels berechtigten Interesses ab- bzw zurückzuweisen. Österreich sei zwar aus Sicht der Erstantragsgegnerin immer in das „Grundverständnis“ implizit eingeschlossen gewesen, aufgrund der geringfügigen Absatzmengen aber immer nur als „Nebenschauplatz“. In den beanstandeten Kontakten betreffend Österreich sei es der Erstantragsgegnerin daher primär darum gegangen, aus Verhaltensweisen auf dem österreichischen Markt resultierende Gegenmaßnahmen und „Preiskriege“ auf dem „Hauptschauplatz“ Deutschland zu verhindern.

Die Zweitantragsgegnerin beantragte, den Geldbußenantrag als unbegründet abzuweisen. Eine faktische Aufteilung der Kernabsatzgebiete sei der jeweiligen Lage der Zuckerwerke bzw den hohen Transportkosten geschuldet. Angesichts dieser Situation ergebe sich das „Grundverständnis“ aus betriebswirtschaftlichen Gründen von selbst, ohne dass es dazu einer Absicherung durch Absprachen bedurft hätte. Darüber hinaus habe sich auch eine gegebene explizite „Verständigung“ nicht „implizit“ auch auf Österreich bezogen. Für Österreich habe es keine harten Absprachen gegeben. Die Drittantragsgegnerin habe das Zuckergeschäft innerhalb des Konzerns der Zweitantragsgegnerin stets selbständig geführt. Anlässlich eines Telefonats vom seien Importe von der Slowakei nach Österreich mitgeteilt worden. Der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin habe gefragt, ob der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin einen Kontakt zu jemandem bei der Erstantragsgegnerin habe, mit dem man darüber reden könne. Danach habe der Vertriebsleiter der Zweitantragsgegnerin in einem Telefonat mit dem Vertriebsleiter der Erstantragsgegnerin den Sachverhalt erwähnt, ohne dazu eine eigene Stellung zu beziehen.

Über die Zweitantragsgegnerin sei mit Bußgeldentscheidung des Bundeskartellamts vom rechtskräftig eine Geldbuße verhängt worden. Gegenstand dieses Bußgeldbescheids sei ua auch das Telefongespräch vom gewesen. Es sei daher nach dem auch im Kartellrecht anerkannten Prinzip „ne bis in idem“ unzulässig, wegen des gleichen Sachverhalts eine weitere Geldbuße gegen die Zweitantragsgegnerin zu verhängen.

Auch die Drittantragsgegnerin beantragte die Abweisung des Geldbußenantrags. Das System der Kernabsatzgebiete sei aus Gründen der betriebswirtschaftlichen Logik entstanden. An den von der Bundeswettbewerbsbehörde behaupteten Kontakten zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin infolge der Änderung des Marktverhaltens eines französischen Produzenten sei die Drittantragsgegnerin nicht beteiligt gewesen. Richtig sei, dass der Geschäftsführer der Drittantragsgegnerin ersucht habe, einen Kontakt mit der Erstantragsgegnerin zu vermitteln, um eine Intervention bei der Erstantragsgegnerin habe er aber nicht gebeten und sei darüber auch nicht informiert worden. Letztlich seien die von der Bundeswettbewerbsbehörde inkriminierten Absprachen von der landwirtschaftlichen Bereichsausnahme des Art 209 Abs 1 GMO bzw dem damit übereinstimmenden § 2 Abs 2 Z 5 KartG vom Anwendungsbereich des Art 101 Abs 1 AEUV ausgenommen.

3. Bisheriges Verfahren:

Das Erstgericht wies die Anträge ab. In Bezug auf den Feststellungsantrag gegen die Erstantragsgegnerin sei zu beachten, dass die Bundeswettbewerbsbehörde kein berechtigtes Interesse an einer Feststellung gegenüber einem Unternehmen habe, bei dem sie im Hinblick auf die Anwendung der Kronzeugenregelung von der Beantragung einer Geldbuße Abstand genommen habe.

Das Vorliegen der landwirtschaftlichen Bereichsausnahme nach der GMO sei zu verneinen. Für den Zeitraum bis Februar 2006 gebe es keine Hinweise dafür, dass Österreich in das Grundverständnis über die Respektierung der angestammten deutschen Absatzgebiete einbezogen gewesen sei. Auch von einer „impliziten“ Einbeziehung Österreichs in das Grundverständnis über die Aufteilung der deutschen Absatzgebiete vor dem könne nicht die Rede sein. Mit dem im Telefonat von diesem Tag enthaltenen sinngemäßen Verlangen, auf die Lieferungen durch die slowakische Tochtergesellschaft der Erstantragsgegnerin nach Österreich im Jahr 2006 zumindest dämpfend Einfluss zu nehmen, sowie der folgenden Umsetzung dieses Verlangens sei aber zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin eine kartellrechtswidrige Absprache nach Art 101 Abs 1 AEUV zustande gekommen, deren Spürbarkeit sei zu unterstellen. Diese Vereinbarung sei keiner Bagatellausnahme zugänglich. Allerdings sei auch im kartellrechtlichen Geldbußenverfahren das Doppelbestrafungsverbot verankert. Sei ein bestimmter Aspekt der Verhaltensweisen und damit auch deren Unwertgehalt von einer Sanktion umfasst, die eine andere nationale Wettbewerbsbehörde bereits verhängt habe, widerspreche eine neuerliche Sanktionierung dem Doppelbestrafungsverbot. Dies sei hier bei der Vereinbarung vom der Fall.

In Bezug auf die Drittantragsgegnerin habe eine Teilnahme an einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise nicht festgestellt werden können.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Antragstellerin mit dem Antrag, aufgrund der im Telefongespräch vom zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin getroffenen Vereinbarung gegenüber der Erstantragsgegnerin festzustellen, dass sie gegen Art 101 (ex Art 81 EG) und § 1 KartG sowie § 9 KartG iVm § 18 KartG verstoßen habe, sowie über die Zweitantragsgegnerin wegen der gleichen Verstöße eine Geldbuße in angemessener Höhe zu verhängen. Inhaltlich wendet sich die Rekurswerberin gegen die Anwendung des „ne bis in idem“-Grundsatzes durch das Kartellgericht. Die vom EuGH geforderte Prüfung, für welche Gebiete unter Berücksichtigung welcher Umsätze eine Geldbuße verhängt worden sei, sei nicht erfolgt. Die Entscheidung widerspreche dem in der VO 1/2003 vorgesehen dezentralen Vollzug des Wettbewerbsrechts in der EU, nach dem ein paralleles Vorgehen zweier oder mehrerer Vollzugbehörden zulässig sei. Auch der Feststellungsantrag gegenüber der Erstantragsgegnerin sei zulässig. Das Kartellgericht habe die Entscheidung des EuGH, C-68/11, Schenker & Co, außer Acht gelassen.

Die Erstantragsgegnerin hat keine Rekursbeanwortung erstattet. Die Zweitantragsgegnerin hält den Grundsatz „ne bis in idem“ für anwendbar; die Drittantragsgegnerin meint, dass sich der Rekurs nicht gegen die Entscheidung ihr gegenüber richte.

Rechtliche Beurteilung

4. Begründung der Vorlage:

4.I. Zur Zweitantragsgegnerin:

Eingangs ist festzuhalten, dass der Antrag auf Verhängung einer Geldbuße gegenüber der Zweitantragsgegnerin ursprünglich das Verhalten im Zusammenhang mit dem Telefonat vom sowie zahlreiche weitere Verstöße umfasste. Wenn die Antragstellerin daher im Rekurs die Geldbußenverhängung nur noch wegen des Sachverhalts vom beantragt, liegt darin kein Aliud, sondern ein zulässiges Minus.

Über die Zweitantragsgegnerin wurde in Deutschland eine Geldbuße verhängt, deren Sachverhalt auch den hier einzig relevant verbliebenen Wettbewerbsverstoß, nämlich das Telefonat vom , umfasste. Die Zweitantragsgegenerin beruft sich darauf, dass über sie für dieses Verhalten nicht noch einmal eine Geldbuße verhängt werden könne.

4.I.1. Allgemeines zum Grundsatz „ne bis in idem“

4.I.1.1. Der traditionell nur national verankerte (Biermann in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht6 [2019], Bd 1, Vor Art 23 VO 1/2003 Rn 243) Grundsatz des „ne bis in idem“ kommt im Kontext eines Zusammenschlusses, wie er bei der Gemeinschaft gegeben ist, dadurch zur Geltung, dass er in eigenen Vereinbarungen vorgesehen ist, wie etwa in Art 50 GRC, in Art 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ), in Art 4 des 7. ZP zur EMRK, aber auch in Art 7 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften oder in Art 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (vgl die Schlussanträge des Generalanwalts zu C-397/03P, Rn 99).

4.I.1.2. Im Rahmen des Wettbewerbsrechts
– insbesondere im Rahmen der parallelen Verfolgung oder Bestrafung durch die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden – hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht vertreten, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ nur angewandt werden darf, wenn drei kumulative Kriterien („Trias“) in Bezug auf die Idem-Komponente gegeben sind, nämlich a) Identität des Sachverhalts, b) Identität der Zuwiderhandelnden und c) Identität des geschützten Rechtsguts. In diesem Sinn ist der Grundsatz auch in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten (EuGH C-17/10 Toshiba, Rn 94, C-238/99 P, Limburgse Vinyl, Rn 59, C-204/00 P, Aalborg Portland,Rn 338 bis 340, C-289/04 P, Showa Denko, Rn 50) und verbietet es, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird (C-238/99 P, Limburgse Vinyl, Rn 59).

In der Entscheidung EuGH C-204/00, Aalborg Portland, Rn 338, hat der Gerichtshof auf diese Kriterien verwiesen und erklärt, dass sich ein Unternehmen nicht auf den Grundsatz „ne bis in idem“ berufen kann, wenn die Kommission gegen ein Unternehmen eine Sanktion für ein Verhalten verhängt hat, das sich von einem demselben Unternehmen zugerechneten Verhalten unterscheidet und Gegenstand einer früheren Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde gewesen ist, und zwar auch dann, wenn sich die beiden Entscheidungen auf untrennbar miteinander verbundene Verträge und Vereinbarungen beziehen.

In der Rechtssache EuGH C-17/10, Toshiba,Rn 94, hat der Gerichtshof den Grundsatz hinsichtlich der erforderlichen Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts wiederholt.

Dieser Rechtsprechungslinie liegen Überlegungen zugrunde, die auf das Urteil in der Rs 14/68, Walt Wilhelm, vom zurückgehen und daher in den frühen Jahrzehnten der europäischen Integration angestellt wurden. Seither wuchsen nationales Recht und Unionsrecht immer stärker zusammen und ist ein gewisses Spannungsverhältnis insbesondere zwischen dem dritten Kriterium der „Trias“, der Identität des Rechtsguts, wie es auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts angewandt wird, und Rechtsakten jüngeren Datums, wie insbesondere Art 50 GRC, aber auch dem 1988 in Kraft getretenen 7. Zusatzprotokoll zur EMRK (7. ZP) oder dem 1990 unterzeichneten Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) erkennbar.

4.I.1.3. Insoweit wird im Unionsrecht nämlich die Gleichheit eines Verstoßes auf der Grundlage von nur zwei Kriterien bestimmt: Identität des Sachverhalts und des Zuwiderhandelnden. Die rechtliche Qualifizierung oder das geschützte Interesse sind dagegen nicht maßgebend für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“. Der Gerichtshof hat diesen Ansatz, der eng an die jüngere Rechtsprechung des EGMR angelehnt ist, in Fällen betreffend die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen angewandt (C-436/04, Esbroeck, Rn 36; C-524/15, Luca Menci, Rn 35; C-150/05, Von Straaten, Rn 53; vgl auch die Schlussanträge des Generalanwalts Rs C-617/17, Powszechny Zaklad, Rn 25 mwN).

4.I.1.4 In der Rechtssache C-436/04, Esbroeck, Rn 27 ff,hat sich der Gerichtshof ausführlich mit dem Einwand, dass die Identität der Tat auch die Identität ihrer rechtlichen Qualifizierung bzw der geschützten rechtlichen Interessen voraussetze, in einem Art 54 SDÜ betreffenden Verfahren auseinandergesetzt. Er hat dort ausgeführt, dass diese Vorschrift den Ausdruck „dieselbe Tat“ verwende, also nur auf das Vorliegen der fraglichen Tat abstelle und nicht auf ihre rechtliche Qualifizierung. Insofern unterscheide sich diese Bestimmung von den in anderen internationalen Übereinkünften enthaltenen Ausdrücken, in denen der Grundsatz „ne bis in idem“ niedergelegt sei. So werde in Art 14 Abs 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte der Begriff „strafbare Handlung“ und in Art 4 7. ZP der Begriff „Straftat“ verwendet, was die Relevanz des Kriteriums der rechtlichen Qualifizierung der Tat als Voraussetzung für die Anwendung des in diesen letztgenannten Übereinkünften niedergelegten Grundsatzes „ne bis in idem“ impliziere.

4.I.1.5. Der EGMR hat allerdings in der späteren Entscheidung Nr 14.939/03 vom , Zolotukhin vs Russia, auf diese begriffliche Differenzierung Bezug genommen. Auch wenn in Art 4 7. ZP und Art 50 GRC das Wort „offence“ verwendet werde, im SDÜ, in der Amerikanischen Merschenrechtskonvention bzw in den Statuten des Internationlen Strafgerichtshofs dagegen die Umschreibung „same cause“, „same acts“ bzw „same conduct“, würde ein Verständnis des Wortes „offence“ in Art 4 7. ZP im Sinne einer Berücksichtigung auch der rechtlichen Qualifikation und Zielsetzung (also des verletzten Rechtsguts) die dort aufgestellten Garantien unterlaufen. Es komme daher auch bei Art 4 7. ZP nur darauf an, ob die verfolgten faktischen Umstände im wesentlichen die selben gewesen seien, nicht hingegen auf deren rechtliche Einordnung.

4.I.2. Zu den territorialen Aspekten des „ne bis in idem“

4.I.2.1 Allgemein gibt es keinen völkerrechtlichen Grundsatz, der es den Behörden und Gerichten verschiedener Staaten untersagt, eine natürliche oder juristische Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu verurteilen, wegen der bereits in einem anderen Staat gegen sie vorgegangen wurde (EuGH C-289/04 P, Showa Denko, Rn 58). In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof das Argument zurückgewiesen, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ geltend gemacht werden kann, wenn die Kommission ihre Befugnisse nach Unionsrecht ausübt, nachdem Sanktionen gegen Unternehmen wegen ihrer Beteiligung an einem internationalen Kartell von Behörden eines Drittstaats wegen Verstoßes gegen die in diesem Staat anwendbaren Wettbewerbsregeln verhängt worden sind, sofern diese Behörden innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeit tätig geworden sind (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Rs C-617/17, Powszechny Zaklad, Rn 35).

Der Gerichtshof hat in dieser Rechtsprechungslinie betreffend die parallele Verfolgung oder Bestrafung durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörden in Drittstaaten den internationalen Charakter des beanstandeten Verhaltens sowie die Unterschiede zwischen den jeweiligen Rechtsordnungen, einschließlich der Ziele und Zwecke der einschlägigen materiellen Wettbewerbsvorschriften, sowie das von den Wettbewerbsregeln der Union geschützte spezifische Rechtsgut hervorgehoben. Der Gerichtshof hat außerdem speziell darauf hingewiesen, dass diese Situation, in der die Kommission und die Behörden von Drittstaaten innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeiten eingreifen, getrennt von der Situation betrachtet werden sollte, in der ein wettbewerbswidriges Verhalten ausschließlich auf den räumlichen Anwendungsbereich der Rechtsordnung der Union (und ihrer Mitgliedstaaten) beschränkt ist (C-289/04, Showa Denko, Rn 51 und 53; vgl die Schlussanträge des Generalanwalts Rs C-617/17, Powszechny Zaklad, Rn 36).

4.I.2.2. Auch der Entscheidung EuGH C-397/03, Archer-Midlands, lag das Einschreiten der Gemeinschaftsbehörden einerseits und der Behörden eines Drittstaates (USA) andererseits zugrunde. Danach liegt keine Identität der Handlungen vor, wenn die im Drittstaat verhängte Sanktion nur die Durchführung oder Auswirkungen des Kartells auf dem Markt dieses Staats und die Gemeinschaftssanktion nur die Durchführung oder Auswirkungen des Kartells auf dem Markt der Gemeinschaft betrifft.

4.I.2.3 In EuGH C-17/10, Toshiba, ging es um die Frage, ob einerseits die tschechischen Wettbewerbsbehörden nach nationalem tschechischen Wettbewerbsrecht und andererseits die Gemeinschaftsbehörden nach EU-Recht Sanktionen verhängen dürfen. Dabei war von Bedeutung, dass die tschechischen Behörden lediglich Auswirkungen eines Kartells auf tschechisches Gebiet vor dem EU-Beitritt Tschechiens ahnden wollten, während die zeitlich vorangegangene Entscheidung der Gemeinschaftsbehörden keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen des Kartells auf tschechisches Gebiet vor dem EU-Beitritt Tschechiens erfasst hatte (vgl Rn 99–103). Der EuGH stellte dabei auf die tatsächliche Vorgangsweise der Kommission, wie die konkret berücksichtigten Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten bzw die Staaten des EWR und Modalitäten der Geldbußenberechnung, ab (Rn 101) und übernahm die Ausführungen der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen (Rn 131) nicht, wonach der Grundsatz des „ne bis in idem“ schon von vorne herein verbiete, dass innerhalb des EWR mehrere Wettbewerbsbehörden oder Gerichte die
– bezweckten oder bewirkten – Wettbewerbsbeschränkungen ein und desselben Kartells auf unterschiedlichen Gebieten ahnden.

4.I.2.4. Ob diese Grundsätze auch in einem Fall zu gelten haben, in dem zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union in wettbewerbsrechtlichen Verfahren wegen des gleichen Sachverhalts über die gleiche Person wegen eines während ihrer Mitgliedsschaft in der EU erfolgten Verhaltens nicht nur ihr innerstaatliches Recht, sondern auch EU-Wettbewerbsrecht anzuwenden haben, geht aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nicht hervor.

4.I.3. Zum Modernisierungspaket der Europäischen Kommission:

Diese Fragen klärt auch das im verwandten Bereich der Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden ergangene Modernisierungspaket der Europäischen Kommission nicht.

4.I.3.1. Erwägungsgrund 37 der nach ihrem Art 45 Abs 2 seit gültigen VO 1/2003 verweist darauf, dass diese Verordnung die Grundrechte wahrt und im Einklang mit den Prinzipien steht, die insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind. Die Verordnung ist demnach in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden. Erwägungsgrund 18 der VO 1/2003 bezeichnet es als Ziel, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet wird. Dies kann nach EuGH C-17/10, Toshiba, Rn 89 f, allerdings nicht dahin ausgelegt werden, dass dadurch die nationale Behörde ihre Zuständigkeit zur Anwendung des nationalen Rechts verliert, wenn die Kommission ihrerseits eine Entscheidung erlassen hat.

4.I.3.2. Entsprechend regelt Art 13 Abs 1 der VO 1/2003, dass dann, wenn die Wettbewerbsbehörden mehrerer Mitgliedstaaten aufgrund einer Beschwerde oder von Amts wegen mit einem Verfahren gemäß Art 81 oder Art 82 des Vertrags gegen dieselbe Vereinbarung, denselben Beschluss oder dieselbe Verhaltensweise befasst sind, der Umstand, dass eine Behörde den Fall bereits bearbeitet, für die übrigen Behörden zwar einen hinreichenden Grund darstellt, ihr Verfahren auszusetzen oder die Beschwerde zurückzuweisen, dieser Umstand aber nicht bewirkt, dass die übrigen Behörden ihre Zuständigkeit verlören. Auch die Kommission kann eine Beschwerde mit der Begründung zurückweisen, dass sich bereits eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats mit dieser Beschwerde befasst.

Nach Abs 2 leg cit kann eine einzelstaatliche Wettbewerbsbehörde oder die Kommission eine Beschwerde gegen eine Vereinbarung, einen Beschluss oder eine Verhaltensweise abweisen, wenn die Beschwerde bereits von einer anderen Wettbewerbsbehörde behandelt worden ist.

4.I.3.3. In der dazu ergangenen Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden heißt es in Punkt 12., dass ein paralleles Vorgehen durch mehrere nationale Wettbewerbsbehörden angemessen sein kann, wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise hauptsächlich in deren jeweiligen Hoheitsgebieten wesentliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hat und das Vorgehen lediglich einer nationalen Wettbewerbsbehörde nicht ausreichen würde, die gesamte Zuwiderhandlung zu beenden oder sie angemessen zu ahnden. Jede nationale Wettbewerbsbehörde werde dann „im Hinblick auf ihr jeweiliges Hoheitsgebiet tätig“.

4.I.3.4. Da diese sekundärrechtlichen Regelungen aber in erster Linie – ohne strikte Regeln aufzustellen – ein möglichst effizientes und elastisches System der Zuständigkeit im Netzwerk der Wettbewerbsbehörden zu etablieren suchen, ist daraus für die Frage der Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ letztlich nichts zu gewinnen.

4.I.3.5. Für die hier vorliegende Konstellation, dass zwei nationale Wettbewerbsbehörden wegen desselben Verhaltens gegen die selben Personen tätig werden, fehlt eine Klarstellung durch den EuGH zur Frage der Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“, was zu den Fragen 1. und 2. führt.

4.I.4. Relevanz der tatsächlichen Berücksichtigung?

4.I.4.1 Sowohl der Drittstaaten betreffenden Rechtsprechung des Gerichtshofs (insbesondere EuGH C-17/10, Toshiba) als auch der letztgenannten Bekanntmachung der Europäischen Kommission könnte allerdings entnommen werden, dass entscheidend ist, ob in der ersten Sanktionsentscheidung in tatsächlicher Hinsicht die Auswirkungen des wettbewerbswidrigen Verhalten im anderen Staat Berücksichtigung fanden.

4.I.4.2. Dies greift auch die Rechtsmittelwerberin im vorliegenden Fall auf und meint, dass mit der Entscheidung des deutschen Bundeskartellamts für die Auswirkungen des Kartells auf Österreich keine Geldbuße verhängt worden sei.

4.I.4.3. Das Kartellgericht sieht diese Frage hingegen anders und verweist auf die Feststellungen im Bußgeldbescheid des deutschen Bundeskartellamts über das Telefonat zwischen der Erst- und der Zweitantragsgegnerin am , denen im Hinblick auf die Kürze der Entscheidung (22 Seiten im Vergleich zu der rund 400 Seiten umfassenden „Mitteilung der Beschwerdepunkte“) besondere Bedeutung zuzuerkennen sei, und betont deren Relevanz für den österreichischen Markt. Entgegen der nach der Entscheidung des Kartellgerichts ergangenen Stellungnahme des Vizepräsidenten des Bundeskartellamts vom , wonach Entscheidungen des deutschen Bundeskartellamts nach dessen Entscheidungspraxis grundsätzlich nur Auswirkungen wettbewerbswidrigen Verhaltens auf Deutschland ahnden würden, können der Entscheidung der zuständigen Beschlussabteilung des Bundeskartellamts selbst keine Details zur Berechnung der Geldbuße, insbesondere auch nicht der zugrunde gelegten Umsätze und deren Herkunft, entnommen werden.

4.I.4.4. Fraglich ist demnach weiters, ob es für die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ relevant ist, ob die Auswirkungen einer Zuwiderhandlung gegen europäisches Wettbewerbsrecht in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich berücksichtigt wurden, worauf sich Frage 3. bezieht.

4.II. Zur Erstantragsgegnerin:

4.II.1. Kronzeugenstatus

Die Erstantragsgegnerin hat von der österreichischen Bundeswettbewersbehörde Kronzeugenstatus zuerkannt erhalten. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung C-681/11, Schenker, auch ausgesprochen, dass Art 101 AEUV sowie Art 5 und 23 Abs 2 VO 1/2003 dahin auszulegen sind, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen einer Zuwiderhandlung erwiesen ist, in Ausnahmefällen auch darauf beschränken können, diese Zuwiderhandlung festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn das betreffende Unternehmen am nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat.

Entsprechend hat die Bundeswettbewerbsbehörde, an deren Anträge das Kartellgericht nach nationalem Recht insoweit gebunden ist, als sie nach § 36 Abs 1 KartG nur auf Antrag entscheiden kann, in Bezug auf die Erstantragsgegnerin die Feststellung des wettbewerbswidrigen Verhaltens auch nach Art 101 AEUV beantragt.

4.II.2. Bloße Feststellung der Zuwiderhandlung

Nun ist aber der Grundsatz „ne bis in idem“ nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur in wettbewerbsrechtlichen Verfahren zu beachten, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind (EuGH C-17/10, Toshiba, Rn 94, C-238/99 P, Limburgse Vinyl, Rn 59, C-204/00 P, Aalborg Portland, Rn 338 bis 340, C-289/04 P, Showa Denko, Rn 50; ebenso zu Art 54 SDÜ: C-398/12, Rn 41). Letztlich verbietet es der Grundsatz „ne bis in idem“ nach den Entscheidungen C-238/99 P, Limburgse Vinyl, Rn 59 und C-17/10, Toshiba, Rn 94, ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, nicht nur erneut zu verurteilen, sondern bereits, es auch nur zu verfolgen.

4.II.3. „Ne bis in idem“ bei bloßer Feststellung?

Es stellt sich daher die Frage, ob bei einem bloßen Feststellungsverfahren, in dem wegen der Teilnahme des Zuwiderhandelnden am nationalen Kronzeugenprogramm nur seine Zuwiderhandlung gegen europäisches bzw nationales Wettbewerbsrecht festgestellt werden kann, noch von einem auf die Verhängung von Geldbußen abzielenden Verfahren gesprochen werden kann, in dem der Grundsatz „ne bis in idem“ Anwendung zu finden hat, und ob in einem solchen bloßen Feststellungsverfahren eine unzulässige zweite Verfolgung liegt. Dazu war Frage 4. zu stellen.

B. Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über den Rekurs in Kartellsachen zu unterbrechen.

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Rechtsgebiet
Zivilrecht
Schlagworte
Europäische Rechtsanwälte,
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2020:0160OK00002.19H.0115.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
RAAAD-96185