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OGH vom 12.08.1997, 10ObS222/97p

OGH vom 12.08.1997, 10ObS222/97p

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl.Ing.Walter Holzer und Dr.Friedrich Stefan (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr.Karlheinz W*****, vertreten durch Dr.Gerhard Roth, Rechtsanwalt in Murau, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1053 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr.Paul Bachmann, Dr.Eva-Maria Bachmann und Dr.Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 35/97x-13, womit das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 23 Cgs 255/96d-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im Zuspruch eines Mehrbegehrens eines Pflegegeldes in Höhe der Differenz zwischen der Stufe 4 und der Stufe 5 aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger leidet an langjähriger Zuckerkrankheit mit daraus resultierender Unterschenkelamputation links im Jahre 1985. Da es ihm nicht möglich ist, mit einer Prothese zu gehen, ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Die oberen Extremitäten zeigen keine Einschränkungen, sodaß der Kläger in der Lage ist, sich im Rollstuhl innerhalb und außerhalb des Hauses fortzubewegen. Überdies besteht eine Stuhl- und Harninkontinenz. Es ist (nunmehr im Verfahren dritter Instanz) unstrittig, daß sein Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt.

Mit dem bekämpften Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom auf Erhöhung des gemäß § 4 BPGG zuerkannten Pflegegeldes der Stufe 3 ab.

Mit seiner Klage stellte der Kläger das Begehren auf Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 5 ab dem Tag der Antragstellung.

Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 5 ab dem unter Abzug der gesetzlich anrechenbaren Vorleistungen. Es traf die eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Feststellungen einschließlich der weiteren, daß für den Kläger ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand in Form einer dauernden Bereitschaft, nicht jedoch einer dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich sei; die Pflege in koordinierten Pflegeeinheiten sei beim Kläger nicht ausreichend.

Ausgehend davon bejahte das Erstgericht das Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes im Sinne des § 4 Abs 3 BPGG iVm § 6 EinstV.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei, welche das Ersturteil nur hinsichtlich des die Stufe 4 übersteigenden Pflegegeldes bekämpfte, keine Folge. Es übernahm die Feststellungen und auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, daß das Klagebegehren, soweit es auf ein die Stufe 4 übersteigendes Pflegegeld gerichtet ist, abgewiesen werde; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unstrittig ist zunächst davon auszugehen, daß der Pflegebedarf des Klägers durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Damit sind bei ihm - wie dies von der beklagten Partei im Rechtsmittel ausdrücklich zugestanden wird - jedenfalls die Voraussetzungen für eine Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 4 nach § 4 Abs 3 BPGG erfüllt. Für das Vorliegen der vom Kläger begehrten und von den Vorinstanzen bejahten Pflegegeldstufe 5 bedarf es nach dieser Gesetzesstelle allerdings auch noch eines zusätzlichen außergewöhnlichen Pflegeaufwandes. Dieser wird nach § 6 der EinstV dahingehend definiert, daß die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Diese Frage kann jedoch nach den bisherigen Feststellungen des Erstgerichtes nicht abschließend beantwortet werden. Es handelt sich hiebei - ungeachtet des § 9 Abs 2 Z 5 EinstV - nicht nur um Tatfragen, sondern vorrangig um Fragen der rechtlichen Beurteilung (nämlich Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen im Sinne des § 4 Abs 3 BPGG iVm § 6 EinstV), wofür von den Tatsacheninstanzen verläßliche Tatsachenfeststellungen erforderlich sind. Die Vorinstanzen haben sich jedoch damit begnügt, die vom internistischen Sachverständigen bejahte dauernde Bereitschaft, nicht aber dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im Rahmen ihrer Feststellungen zu übernehmen, es im übrigen aber unterlassen, zu hinterfragen (und demgemäß auch konkret festzustellen), warum eine solche Bereitschaft tatsächlich erforderlich ist, obwohl beim Kläger kein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten, sondern bloß eine Stuhl- und Harninkontinentz (iS des § 8 Z 2 EinstV) vorliegt. Der (medizinische) Sachverständige hat nicht rechtlich zu beurteilen, ob die aufgezeigten Anspruchskriterien erfüllt sind; er hat vielmehr nur die dem Tatsachenbereich zuzuordnenden Einzelheiten aufzuzeigen, welche sodann vom Tatsachenrichter soweit festzustellen sind, daß daraus alle für den Subsumtionsvorgang rechtlichen Schlußfolgerungen eindeutig und zweifelsfrei gezogen werden können (so jüngst auch 10 ObS 183/97b). Die Aussage des Berufungsgerichtes, hiefür müßten beim Kläger "offenbar gesundheitliche Erfordernisse zugrunde liegen" (Seite 6 der Entscheidung), erschöpft sich in einer bloß spekulativ gehaltenen Vermutung ohne tatsächlich zugrundeliegendes beweismäßig gesichertes Tatsachensubstrat. Gleiches gilt auch für die - ebenfalls dem Sachverständigengutachten entnommene - Abstellung auf das Erfordernis "koordinierter Pflegeeinheiten". Die in den Richtlinien des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger für die einheitliche Anwendung des BPGG, Amtliche Verlautbarung Nr. 120/1994, veröffentlicht in SozSi 1994, 686, iVm dem Konsensuspapier für die Differenzierung der Pflegestufen 4 bis 7 für maßgeblich erachteten Pflegeeinheitenregelungen sind nämlich - wie der Oberste Gerichtshof inzwischen bereits vielfach ausgesprochen hat - mangels Deckung im Gesetz (BPGG bzw ASVG) für die Gerichte nicht verbindlich. Eine derartige Vorgabe ist auch § 6 EinstV nicht zu entnehmen (10 ObS 2349/96f = ARD 4821/34/97 = ASoK 1997, 230; 10 ObS 2396/96t = ARD 4821/33/97, 4821/34/97; 10 ObS 2425/96g; 10 ObS 87/97k uva).

Zutreffend verweist damit die Revisionswerberin darauf, daß die entsprechenden Feststellungen im aufgezeigten Umfange zu präzisieren und zu verbreitern sind. Da es zur Abklärung dieser aufgezeigten Feststellungsmängel einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache im aufgezeigten Umfang spruchreif zu machen (die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 4 ab blieb von der beklagten Partei bereits in ihrer Berufung unbekämpft und ist damit in Rechtskraft erwachsen), waren die Urteile der Vorinstanzen insoweit aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt ist in § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 ASGG begründet.