OGH vom 18.07.2002, 10ObS220/02d
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Michael Mutz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Eva-Maria Florianschütz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Karl K*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Alexander Klauser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 29/02i-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 1 Cgs 2/01t-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird, soweit sie Nichtigkeit geltend macht, zurückgewiesen.
Im Übrigen wird der Revision Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag des Klägers vom auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Mit seiner Protokollarklage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe ab dem Stichtag. Er sei gelernter Kaufmann und habe diese Tätigkeit zwei Jahre hindurch ausgeübt. In den letzten 15 Jahren sei er als angelernter Maschinist bei Baufirmen tätig gewesen. Auf Grund seiner Leidenszustände sei er nicht mehr imstande, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger habe während der letzten 15 Jahre vor dem Antrag eine Tätigkeit als Angestellter ausgeübt. Er könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine Reihe von Beschäftigungen verrichten, sodass er nicht invalid nach § 255 Abs 3 ASVG sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, dass der am geborene Kläger ursprünglich eine kaufmännische Lehrausbildung absolviert habe und danach als kaufmännischer Angestellter, Maschinist und Fabriksarbeiter tätig gewesen sei. In den letzten 15 Jahren vor Antragstellung sei der Kläger - nach seinen eigenen Angaben - bei Baufirmen als angelernter Maschinist tätig gewesen. Der Baumaschinist bediene üblicherweise als kurz angelernte (unter sechs Monaten Anlernzeit) Arbeitskraft Bagger, Stampf-, Rüttel- und Aufbruchgeräte sowie Betonmischanlagen. Seit 1993 gehe der Kläger keiner geregelten Beschäftigung mehr nach. Der Kläger könne auf Grund seiner Leidenszustände noch leichte und mittelschwere Arbeiten ohne Steigen auf Hochleitern, Gerüsten oder ähnlichen erhöht exponierten Stellen und ohne Arbeiten in gehäuft gebückter Haltung (unter Tischhöhe und öfter als 5 x pro Stunde) verrichten. Er sei unterweisbar und könne eingeordnet werden. Die Fingerfertigkeit sei erhalten, außer für Feinmanipulation mit der linken Hand.
Der Kläger sei auf Grund seines medizinischen Leistungskalküls noch in der Lage, die Tätigkeiten einer Bedienungskraft für Halbautomaten in der Metall- und Elektroindustrie sowie eines Museumsaufsehers zu verrichten.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass der Kläger seinen erlernten Beruf innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag nicht ausgeübt habe und für die von ihm behauptete angelernte Berufstätigkeit als Baumaschinist lediglich eine kurze Anlernzeit von weniger als 6 Monaten erforderlich sei und daher einen (gemeint: keinen) Berufsschutz begründe. Der Kläger sei unter Berücksichtigung der noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht invalide im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG. Das Berufungsgericht wies die Nichtigkeitsberufung des Klägers zurück und gab im Übrigen der Berufung nicht Folge. In Behandlung der Nichtigkeitsberufung stellte das Berufungsgericht einen ganz offenkundigen Schreibfehler im Ersturteil richtig, wonach für die vom Kläger behauptete angelernte Berufstätigkeit als Baumaschinist eine kurze Anlernzeit von weniger als sechs Monaten erforderlich sei und daher diese Tätigkeit keinen Berufsschutz begründe. Das Berufungsgericht verneinte im Übrigen das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und billigte auch dessen rechtliche Beurteilung der Sache. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung auf Grund unrichtiger Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung als nichtig aufzuheben, in eventu im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision wegen Nichtigkeit ist unzulässig; im Übrigen kommt dem Rechtsmittel im Sinne der beschlossenen Aufhebung Berechtigung zu. Eine Nichtigkeit des Verfahrens erster Instanz kann in der Revision nicht geltend gemacht werden, wenn der Nichtigkeitsgrund - wie im vorliegenden Fall - nach Geltendmachung in der Berufung schon vom Berufungsgericht verneint wurde; die Entscheidung des Berufungsgerichtes ist insoweit unanfechtbar (vgl Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 2 zu § 503 mwN; MGA, ZPO15 ENr 6 zu § 503 mwN ua). Dies gilt auch in Sozialrechtssachen (SSV-NF 1/36 ua). Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt ebenfalls nicht vor. Diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung. Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat, können im Revisionsverfahren auch in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (MGA aaO ENr 36 und 38 zu § 503 mwN ua).
Unrichtige Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung gehören nicht zu den im § 503 ZPO abschließend aufgezählten zulässigen Revisionsgründen. Der Revisionswerber wendet sich in diesem Zusammenhang jedoch inhaltlich auch gegen die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, wonach er keinen Berufsschutz genieße. Bei der Frage, ob dem Versicherten Berufsschutz zukommt, handelt es sich aber um keine Tatfrage, sondern um eine Rechtsfrage, die anhand konkreter Feststellungen über Ausbildung, Tätigkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten zu beantworten ist (SSV-NF 13/23 ua). Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, eine unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozessvorbringens hierüber keine ausreichende Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte nur als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht auf Grund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass ein Versicherter Berufsschutz genießt, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die Art der Tätigkeit (SSV-NF 14/36 mwN ua). Vom Fehlen jeglichen Anhaltspunktes für einen möglichen Berufsschutz des Klägers kann hier jedoch nicht gesprochen werden.
Hat ein Versicherter Versicherungsmonate in mehreren Zweigen der Pensionsversicherung nach dem ASVG (nämlich der Arbeiter und der Angestellten) erworben, so kommen für ihn gemäß § 245 Abs 1 ASVG die Leistungen des Zweiges der Pensionsversicherung in Betracht, dem er leistungszugehörig ist. Im vorliegenden Fall steht die Leistungszugehörigkeit des Klägers zur Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter unbestritten fest. Aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist aus der Pensionsversicherung der Arbeiter die Invaliditätspension zu leisten (§ 222 Abs 1 Z 2 lit a ASVG). Die besonderen Leistungsvoraussetzungen für die Invaliditätspension finden ihre Regelung in § 255 ASVG. Obwohl die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter für den Kläger leistungszuständig ist, kann sich die Lösung der Frage, ob der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit eingetreten ist, nach § 273 ASVG richten, nämlich dann, wenn die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag erworbenen Beitragsmonate überwiegend auf Beschäftigungen zurückgehen, die ihrem Inhalt nach gemäß § 14 ASVG die Zugehörigkeit des Klägers zur Pensionsversicherung der Angestellten begründet hätten. Im vorliegenden Fall hat die beklagte Partei in ihrer Klagebeantwortung selbst vorgebracht, dass der Kläger im maßgebenden Zeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als Angestellter beschäftigt gewesen sei. Auch aus dem im erstinstanzlichen Verfahren verlesenen Anstaltsakt ergibt sich, dass die vom Kläger innerhalb des genannten Zeitraumes nach dem ASVG erworbenen 6 Beitragsmonate auf eine Tätigkeit als Angestellter im Zeitraum vom bis zurückgehen. Auf eine Beschäftigung in diesem Zeitraum hat auch bereits der Kläger in seiner Protokollarklage hingewiesen. Wenn aber im Hinblick auf die vom Versicherten tatsächlich ausgeübte Tätigkeit - weil dieser etwa tatsächlich ausschließlich Angestelltentätigkeiten verrichtete - die auf Arbeitertätigkeiten abgestellten Bestimmungen unanwendbar wären -, wäre der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension nach § 273 ASVG zu beurteilen. Der Umstand, dass der Kläger selbst im Verfahren das Vorliegen einer Angestelltentätigkeit bisher nicht behauptet hat, ist nicht entscheidend, weil, wie bereits erwähnt, die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Frage der Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung ist und daher das Gericht diese Frage bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte von Amts wegen zu überprüfen, mit den Parteien zu erörtern und darüber Feststellungen zu treffen hat (SSV-NF 13/51 mwN ua).
Im fortzusetzenden Verfahren wird daher der Berufsverlauf des Klägers insbesondere im maßgebenden Zeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag mit den Parteien zu erörtern sein und es werden dazu entsprechende Feststellungen zu treffen sein, wobei auch noch der genaue Inhalt der vom Kläger in diesem Zeitraum tatsächlich verrichteten Tätigkeit näher festzustellen sein wird. Wenn das Erstgericht nach dieser Verfahrensergänzung zum Ergebnis gelangt, dass die vom Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag erworbenen Beitragsmonate überwiegend auf Angestelltentätigkeiten zurückgehen, dann wäre der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension unter Zugrundelegung des Berufsunfähigkeitsbegriffes des § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen und es käme dem Kläger auch der in dieser Bestimmung normierte Berufsschutz zu. Das Verweisungsfeld gemäß § 273 Abs 1 ASVG wird durch den Beruf bestimmt, den der Versicherte zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübt hat. Sollte der Kläger im maßgebenden Zeitraum hingegen tatsächlich nicht überwiegend Angestelltentätigkeiten verrichtet haben, wäre sein Anspruch auf Invaliditätspension nach § 255 ASVG zu beurteilen. Der Umstand, dass der Kläger nach dem Inhalt des Pensionsaktes im Zeitraum vom bis insgesamt 52 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem GSVG erworben hat, kann bei der Prüfung der Frage, ob der Kläger berufsunfähig im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG oder invalid im Sinn des § 255 ASVG ist, nicht berücksichtigt werden (SSV-NF 9/10 ua).
Das Verfahren erweist sich daher in mehrfacher Hinsicht als ergänzungsbedürftig. Im fortzusetzenden Verfahren wird das Erstgericht zunächst die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben, um prüfen zu können, ob dem Kläger auf Grund seines Leistungskalküls die Ausübung der zuletzt effektiv verrichteten Berufstätigkeit weiterhin zugemutet werden kann. Wenn dies nicht der Fall ist, werden diejenigen Feststellungen zu treffen sein, die im Sinne des Gesagten für die Beurteilung der Frage notwendig sind, ob der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension entsprechend seiner Leistungszugehörigkeit zur Pensionsversicherung der Arbeiter nach § 255 ASVG zu beurteilen oder ob hiefür § 273 ASVG maßgebend ist. Je nach dem Ergebnis, das die rechtliche Beurteilung dieser Feststellungen bringt, wird zu prüfen sein, welche Verweisungstätigkeiten der Kläger auf Grund seines Leistungskalküls noch verrichten kann (SSV-NF 3/2 ua; RIS-Justiz RS0084387). Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Hinzuweisen ist darauf, dass die Kostenbemessungsgrundlage im vorliegenden Verfahren gemäß § 77 Abs 2 ASGG S 50.000,-- bzw für nach dem vorgenommene Vertretungshandlungen EUR 3.600,-- beträgt (vgl Art 37 Z 5 BGBl I 2001/98).