VfGH vom 16.06.2000, b306/99

VfGH vom 16.06.2000, b306/99

Sammlungsnummer

15812

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung einer Niederlassungsbewilligung an ein etwa 4-jähriges Kind aufgrund unrechtmäßiger Einreise nach Österreich; schwerwiegender Mangel der Bescheidbegründung; verfehlte Interessenabwägung im Hinblick auf die in Österreich lebende Familie des Beschwerdeführers

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 27.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Vater des am in Novi Sad/Jugoslawien geborenen minderjährigen Beschwerdeführers (welcher seit mehreren Jahren als jugoslawischer Staatsangehöriger in Österreich aufenthaltsberechtigt ist und über eine Arbeitsbewilligung verfügt) brachte am für seinen Sohn bei der Österreichischen Botschaft in Belgrad einen Antrag auf Erteilung einer Bewilligung nach dem AufenthaltsG ein, der nach Weiterleitung an das Amt der NÖ Landesregierung von diesem mit Schreiben vom an den Magistrat der Stadt Wien abgetreten wurde. Im sodann eingeleiteten Verfahren wurde der Vater des Beschwerdeführers zum Antrag einvernommen und gab (ua.) folgendes an:

"Mein Sohn ist seit Juni 1996 in Österreich. Ich bin damals mit meinem Auto über die Grenze gefahren. Niemand hat gefragt, ob er ein Visum hat. Er ist seither in Österreich ohne Sichtvermerk aufhältig. Seit ist er angemeldet. Ich habe noch ein zweites Kind, das schon Visum hat."

Wie aus dem Verwaltungsakt weiters hervorgeht, ist der beschwerdeführende Minderjährige im Reisepaß seiner Mutter eingetragen, der (ua.) eine vom bis gültige Aufenthaltsbewilligung erteilt worden war. Gemäß einem im EDV-Verfahren hergestellten Ausdruck verfügt die am geborene minderjährige Schwester des Beschwerdeführers anscheinend gleichfalls über eine Niederlassungsbewilligung (und zwar vorerst mit "Eingangsdatum ", "Bewilligungsablaufdatum " sowie "Eingangsdatum ", "Bewilligungsablaufdatum ").

2. Der Landeshauptmann von Wien wies mit Bescheid vom den - im Hinblick auf das Inkrafttreten des FrG 1997 als Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gewerteten - Antrag vom "aufgrund sichtvermerksfreier Einreise nach Österreich zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 10 Abs 1 Z 3 FrG 1997" ab. Dies wurde nach einer inhaltlichen Wiedergabe der zitierten Gesetzesstelle damit begründet, daß der minderjährige Antragsteller als jugoslawischer Staatsangehöriger im Jahr 1996 sichtvermerksfrei nach Österreich eingereist sei. Wie der Vater niederschriftlich angegeben habe, sei der minderjährige Antragsteller im Auto des Vaters nach Österreich eingereist, ohne einen Sichtvermerk zu haben. Er habe mit dem am durch den Vater an die Österreichische Botschaft Belgrad gestellten Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung seinen nach dieser Einreise begonnenen Aufenthalt in Österreich fortsetzen wollen, weshalb der Sichtvermerksversagungsgrund des § 10 Abs 1 Z 3 FrG verwirklicht worden sei. Laut Angabe des Vaters sei der Antragsteller seit aufrecht im Bundesgebiet gemeldet.

3. Die gegen diesen Bescheid des Landeshauptmannes ergriffene Berufung blieb erfolglos. Der Bundesminister für Inneres stützte seinen abweisenden Bescheid vom im Spruch gleichfalls auf § 10 Abs 1 Z 3 FrG 1997. Nach einer kurzen Darstellung des Verwaltungsgeschehens sowie der inhaltlichen Zitierung der Absätze 1 und 3 des § 8 und des § 10 Abs 1 Z 3 FrG 1997 führte die Berufungsbehörde begründend weiters an, diese Beurteilung (nämlich die Versagung der Bewilligung "nach sichtvermerksfreier Einreise") werde durch die Tatsache gestützt, daß (wie der Vater bei der Einvernahme auch selbst angegeben habe) der Beschwerdeführer im Jahr 1996 ohne im Besitz eines Sichtvermerks zu sein (trotz bestehender Sichtvermerkspflicht) nach Österreich gereist und seit polizeilich aufrecht gemeldet sei. Darin liege ein Versagungsgrund und es könne dem Beschwerdeführer daher auch keine Niederlassungsbewilligung erteilt werden. Unter Bezugnahme auf Art 8 Abs 2 EMRK führte die Rechtsmittelinstanz in der Begründung ferner an, sie habe sehr wohl berücksichtigt, daß durch den Aufenthalt der Eltern des Beschwerdeführers und seiner Schwester in Österreich unabsprechbare familiäre Bindungen zum Bundesgebiet bestünden. Dennoch könne unter den gegebenen Umständen keinesfalls ein Aufenthaltstitel erteilt werden, da nach der vorstehenden Abwägung (nämlich die Bedachtnahme auf die Dauer des Aufenthalts und das Ausmaß der Integration des Antragstellers und seiner Familienangehörigen sowie der Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen) die öffentlichen Interessen zur Erreichung der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele höher zu werten seien, als die nachteiligen Folgen einer Verweigerung des Aufenthaltstitels auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers. Das Interesse an einem geordneten Fremdenwesen erfordere es, daß Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhielten. Des weiteren sei der Beschwerdeführer bislang in seinem Heimatstaat aufhältig gewesen und es sei daher keinerlei soziale Integration in Österreich vorhanden.

4. Gegen diese Rechtsmittelentscheidung richtet sich die vorliegende Verfassungsgerichtshofbeschwerde, in welcher der Beschwerdeführer die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend macht und die Bescheidaufhebung begehrt.

Der belangte Bundesminister legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

5. Die im gegebenen Zusammenhang in Betracht zu ziehenden §§8 Abs 1 und Abs 3, 10 Abs 1 und 28 Abs 1 FrG 1997, BGBl. I 75, lauten (auszugsweise) wie folgt:

"Erteilung der Einreise- und Aufenthaltstitel

§8. (1) Einreise- und Aufenthaltstitel können Fremden auf Antrag erteilt werden, sofern diese ein gültiges Reisedokument besitzen und kein Versagungsgrund wirksam wird (§§10 bis 12). Visa können nur befristet, Aufenthaltstitel auch unbefristet erteilt werden. Visa und befristete Aufenthaltstitel dürfen nur insoweit erteilt werden, als ihre Gültigkeitsdauer jene des Reisedokumentes nicht übersteigt. Die Gültigkeitsdauer des Reisedokumentes soll jene eines Visums um mindestens drei Monate übersteigen. Sammelvisa dürfen nur Fremden erteilt werden, denen ein Sammelreisepaß ausgestellt wurde.

(3) Die Behörde hat bei der Ausübung des in Abs 1 eingeräumten Ermessens jeweils vom Zweck sowie von der Dauer des geplanten Aufenthaltes des Fremden ausgehend

1. auf seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere seine familiären Bindungen, seine finanzielle Situation und die Dauer seines bisherigen Aufenthaltes,

2. auf öffentliche Interessen, insbesondere die sicherheitspolizeilichen und wirtschaftlichen Belange, die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Volksgesundheit und

3. auf die besonderen Verhältnisse in dem Land des beabsichtigten Aufenthaltes

Bedacht zu nehmen.

Versagung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels

§10. (1) Die Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn

...

3. der Aufenthaltstitel - außer für Saisonarbeitskräfte (§9), für begünstigte Drittstaatsangehörige (§47) oder Angehörige von Österreichern (§49) - nach sichtvermerksfreier Einreise (§28 oder § 29) erteilt werden soll;

4. sich der Fremde nach Umgehung der Grenzkontrolle nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält;

...

Sonstige Ausnahmen von der Sichtvermerkspflicht

§28. (1) Sofern die Bundesregierung zum Abschluß von Regierungsübereinkommen gemäß Art 66 Abs 2 B-VG ermächtigt ist, kann sie zur Erleichterung des Reiseverkehrs unter der Voraussetzung, daß Gegenseitigkeit gewährt wird, vereinbaren, daß Fremde berechtigt sind, ohne Visum in das Bundesgebiet einzureisen und sich in diesem aufzuhalten. Solche Fremde bedürfen für den Zeitraum eines Jahres nach einer Zurückweisung gemäß § 52 Abs 2 Z 3, nach einer Zurückschiebung oder nach einer Ausweisung zur Einreise in das Bundesgebiet und zum Aufenthalt in diesem dennoch eines Visums."

Die Bestimmungen im Fremdengesetz 1992, BGBl. 838, über die Sichtvermerksversagungsgründe (§10 Abs 1) lauteten (auszugsweise) wie folgt:

"Sichtvermerksversagung

§10. (1) Die Erteilung eines Sichtvermerkes ist zu versagen, wenn

...

6. der Sichtvermerk zeitlich an einen Touristensichtvermerk anschließen oder nach sichtvermerksfreier Einreise (§12 Aufenthaltsgesetz oder § 14) erteilt werden soll;

7. sich der Sichtvermerkswerber nach Umgehung der Grenzkontrolle im Bundesgebiet aufhält."

II. Die Beschwerde, deren meritorischer Erledigung Verfahrenshindernisse nicht entgegenstehen, erweist sich im Ergebnis als gerechtfertigt:

1.a) Der von den Behörden beider Rechtsstufen als Versagungsgrund für die angestrebte Niederlassungsbewilligung herangezogene § 10 Abs 1 Z 3 FrG 1997 stellt (abgesehen von bestimmten, in der Gesetzesvorschrift ausdrücklich angeführten Ausnahmen) darauf ab, daß der Aufenthaltstitel nach sichtvermerksfreier Einreise erteilt werden soll. Sowohl der Vergleich mit der entsprechenden Vorgängerbestimmung im FrG 1992 als auch die in § 10 Abs 1 Z 3 FrG 1997 enthaltene Bezugnahme auf den unter der Rubrik "Sonstige Ausnahmen von der Sichtvermerkspflicht" stehenden § 28 FrG 1997 zeigt, daß unter einer sichtvermerksfreien Einreise eine solche Einreise zu verstehen ist, der - verallgemeinernd gesagt - keine Sichtvermerkspflicht entgegensteht: So war gemäß § 10 Abs 1 Z 6 FrG 1992 die Erteilung eines Sichtvermerks zu versagen, wenn "der Sichtvermerk zeitlich an einen Touristensichtvermerk anschließen oder nach sichtvermerksfreier Einreise (§12 AufenthaltsG oder § 14) erteilt werden soll(te)"; schon diese damalige Gleichstellung der Einreise aufgrund eines Touristensichtvermerks mit der sichtvermerksfreien Einreise zeigt deutlich, daß unter der letzteren ebenfalls eine gesetzmäßige - auf Freiheit von der Sichtvermerkspflicht beruhende - Einreise verstanden werden muß. Aus dem im gegebenen Zusammenhang schon bezogenen § 28 FrG 1997 geht gleichfalls mit voller Deutlichkeit hervor, daß die Befugnis zur sichtvermerksfreien Einreise in einer Ausnahme von der Sichtvermerkspflicht begründet ist, und zwar dahin, daß bestimmte Fremde berechtigt sind, ohne Visum in das Bundesgebiet einzureisen und sich in diesem aufzuhalten.

Das grundsätzlich gleiche Gesetzesverständnis liegt auch der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zugrunde:

Der Verwaltungsgerichtshof nahm für das Vorliegen des Sichtvermerksversagungsgrundes des § 10 Abs 1 Z 6 zweiter Fall FrG 1992 an, daß der Fremde nach einer zulässigen sichtvermerksfreien Einreise weiterhin im Bundesgebiet verblieben war. Der Umstand, daß ein Beschwerdeführer jedoch nicht sichtvermerksfrei, sondern ohne im Besitz eines erforderlichen Sichtvermerks zu sein, sohin unrechtmäßig ins Bundesgebiet eingereist war, vermochte eine auf § 10 Abs 1 Z 6 FrG 1992 gestützte Entscheidung der Fremdenbehörde, nämlich die Abweisung des Antrages des Fremden, nicht zu tragen ( Zl. 96/19/2584). Diese Ansicht wurde vom Verwaltungsgerichtshof im Grundsätzlichen auch zum FrG 1997 vertreten (vgl. Zl. 98/19/0239). Wenn nun die im vorliegenden Beschwerdefall belangte Behörde - den von der Fremdenbehörde erster Instanz eingeschlagenen Weg weiter beschreitend - den geschilderten Versagungsgrund auf die von ihr angenommene Sachlage anwendet, daß der minderjährige Beschwerdeführer von seinem Vater entgegen bestehender Sichtvermerkspflicht ohne Besitz eines Sichtvermerks nach Österreich gebracht wurde und sich hier aufhält, so ist ihr - sofern nicht überhaupt eine denkunmögliche Gesetzeshandhabung vorliegt - zumindest ein schwerwiegender Mangel der Bescheidbegründung anzulasten, weil sie nicht einmal andeutungsweise erklärt, weshalb die in Rede stehende Gesetzesvorschrift, welche einen absoluten Versagungsgrund festlegt, entgegen der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch in Fällen, in denen das Fehlen des erforderlichen Sichtvermerks von den Grenzbeamten nicht beanstandet wurde, Platz greifen soll. Weiters ist auch - im Hinblick auf die aktenkundige Eintragung des Beschwerdeführers im Reisepaß seiner Mutter und das Vorbringen des Vaters über die Modalitäten der Einreise (keine Fragestellung durch die Grenzkontrollorgane ob ein Visum vorliegt) - anzunehmen, daß der Versagungsgrund der Umgehung der Grenzkontrolle nach § 10 Abs 1 Z 4 FrG 1997 nicht vorliegt.

b) Zum eben dargelegten Mangel des bekämpften Bescheides tritt hinzu, daß nach der Lage der Verwaltungsakten - abgesehen vom langjährig in Österreich aufenthaltsberechtigten und hier berufstätigen Vater des minderjährigen Beschwerdeführers - jedenfalls dessen Mutter, also die Ehegattin des Vaters und anscheinend auch seine minderjährige Schwester über gültige Aufenthaltsbewilligungen verfügten, worüber in der knapp gehaltenen Bescheidbegründung keine näheren Tatsachenfeststellungen getroffen werden; dies insbesondere trotz des niederschriftlich festgehaltenen Vorbringens des Vaters des Beschwerdeführers im Verfahren erster Instanz, er "habe noch ein zweites Kind, das schon Visum hat" sowie der im Akt befindlichen, die Aufenthaltsbewilligung der Kindesmutter bekundenden Kopien eines Teils ihres Reisepasses. Geht man aber von diesen in den Einzelheiten feststellungsbedürftigen Umständen des gesetzlich erlaubten Aufenthaltes der übrigen Familienmitglieder zur Zeit der Erlassung des Berufungsbescheides an den damals etwa 4-jährigen Beschwerdeführer aus, so ist die von der belangten Behörde unter dem Aspekt des Art 8 Abs 2 EMRK vorgenommene Interessenabwägung wohl gleichfalls verfehlt. Es erscheint nämlich auf dem Boden der gegebenen Sachlage und vor allem unter Bedachtnahme auf die von der Behörde nur nebenher erwähnte familiäre Situation des Beschwerdeführers die Annahme als schlechthin unverständlich, weshalb beim minderjährigen Beschwerdeführer, einem - wie schon erwähnt wurde - damals etwa 4-jährigen Kind, trotz der Lebensführung innerhalb der in Österreich seßhaften Familie (beide Elternteile und die Schwester) "keinerlei soziale Integration in Österreich vorhanden ist".

2. In Anbetracht der dargestellten gravierenden Mängel des bekämpften Bescheides, die bereits in die Verfassungssphäre reichen, liegt gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes eine Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (BVG BGBl. 390/1973) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) vor. Der angefochtene Bescheid war sohin aufzuheben, sodaß es sich erübrigte, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen.

III. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG; vom zugesprochenen Kostenbetrag entfallen 4.500 S auf die Umsatzsteuer.

IV. Diese Entscheidung wurde gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung getroffen.