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OGH vom 21.03.2017, 10ObS21/17m

OGH vom 21.03.2017, 10ObS21/17m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Nemetschke Huber Koloseus Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 72/16f-48, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Zuerkennung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes in der Leistungsart nach § 5b KBGG für den am geborenen Sohn C***** ab. Als Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin habe keine entsprechenden Unterlagen vorgelegt, aus denen hervorgehe, dass sie und ihr Kind den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen im Bundesgebiet haben.

Das Erstgericht sprach der Klägerin das pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Leistungsart nach § 5b KBGG von bis in Höhe von 26,60 EUR pro Tag sowie von bis in Höhe von 13,30 EUR pro Tag zu und wies das Mehrbegehren ab.

Es stellte fest, dass die Klägerin und ihr Kind ab der Geburt des Kindes (am ) bis spätestens ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Rumänien, spätestens ab aber in Österreich hatten. Eine übereinstimmende „hauptwohnsitzliche“ Meldung von Mutter und Kind an einer gemeinsamen Adresse (in Österreich) lag erst ab vor. In Rumänien wurden für das Kind von bis keine Familienleistungen nach den dortigen Rechtsvorschriften bezogen.

Soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich, ging das Erstgericht rechtlich davon aus, dass die Klägerin für den Zeitraum von bis die Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG (Hauptwohnsitzmeldung an der selben Adresse) nicht erfülle, ihr jedoch für den Zeitraum ab bis nach Maßgabe der für sie geltenden österreichischen Rechtsvorschriften Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in der Leistungsart nach § 5b KBGG zukomme, zumal anderweitige anspruchsausschließende Umstände im Verfahren nicht hervorgekommen seien. Mangels rechtzeitigen Nachweises von Untersuchungen nach der Mutter-Kind-Pass-Verordnung bestehe ab der Leistungsanspruch gemäß § 5b Abs 2 KBGG nur mehr in der reduzierten Höhe von 13,30 EUR pro Tag.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig ist. Das Erstgericht sei mangels entsprechenden Vorbringens nicht gehalten gewesen, sich mit dem Anspruch auf Familienbeihilfe (als Grundvoraussetzung für den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld) auseinanderzusetzen und dazu Feststellungen zu treffen. Das erstmals in der Berufung erstattete Vorbringen, erst jetzt sei bekannt geworden, dass der Klägerin mit (in Rechtskraft erwachsener) Beschwerdevorentscheidung vom die Familienbeihilfe mangels eines Lebensmittelpunkts in Österreich rückwirkend aberkannt und zurückgefordert worden sei, verstoße gegen das auch im Sozialrechtsverfahren geltende Neuerungsverbot.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei aus dem Rechtsmittelgrund der Nichtigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO als unzulässig zurückzuweisen.

Die (erstmals in der Revision geltend gemachte) Nichtigkeit infolge Nichtbeachtung der Bindungswirkung der Beschwerdevorentscheidung der Abgabenbehörde liegt nicht vor:

1.1 Nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG besteht Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, wenn für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl1967/376, besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird.

1.2 Durch das Abstellen auf den tatsächlichen Bezug der Familienbeihilfe ist klargestellt, dass die Gerichte an die rechtskräftigen Entscheidungen der zuständigen Finanzbehörde gebunden sind (ErläutRV 229 BlgNR 23. GP 4; 10 ObS 65/06s, SSV-NF 20/47; RIS-Justiz RS0036880; RS0036981; RS0036864).

2.1 Die Frage, wie weit die Rechtskraftwirkung eines Bescheids einer Verwaltungsbehörde geht, ist von den Gerichten aber selbstständig zu beurteilen. Nach der ständigen neueren Rechtsprechung entfaltet nur der Spruch rechtsgestaltender Bescheide einer Verwaltungsbehörde Bindungswirkung für die Gerichte (RIS-Justiz RS0037015). Nur das, was die Verwaltungsbehörde verfügt hat, ist für das Gericht verbindlich, nicht aber die Begründung des Bescheids (RIS-Justiz RS0036948). Selbst wenn die rechtliche Beurteilung auf identen Sachverhaltsgrundlagen beruhen sollte, wird sie von der Bindung nicht umfasst (RIS-Justiz RS0037015 [T2]).

2.2.1 Im vorliegenden Fall lautet der Kopf der – erstmals mit der Berufungsschrift – vorgelegten Beschwerdevorentscheidung des Finanzamts für den 8., 16. und 17. Bezirk vom dahin, dass die „Beschwerdevorentscheidung betreffend die Beschwerde ... gegen die Bescheide vom 5. und betreffend Rückforderung von Familienbeihilfe (samt Kinderabsetzbetrag) für die Zeiträume 06/2011 bis 09/2014 sowie Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend Ausgleichszahlung für Dezember 2009 bis Mai 2011“ ergeht und die Beschwerde als unbegründet abgewiesen wird.

2.2.2 Zur in dem Spruch erwähnten „Ausgleichszahlung für Dezember 2009 bis Mai 2011“ brachte die Klägerin in ihrer Berufungsbeantwortung vor, erst nach Klageerhebung im vorliegenden Verfahren habe das Finanzamt Wien 8/16/17 die Rechtmäßigkeit der bereits zur Auszahlung gelangten Familienbeihilfe in Frage gestellt und im Juli 2012 die Familienbeihilfe in eine Ausgleichszahlung umgewandelt.

2.3 Ausgehend von den oben dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung steht aufgrund der Bindungswirkung zum (entscheidungsrelevanten) Zeitraum bis demnach (nur) fest, dass das Verfahren betreffend die Ausgleichszahlung ab Dezember 2009 bis Mai 2011 wiederaufgenommen wird. Darüber hinaus kann für den Zeitraum bis aus dem Bescheid nichts abgeleitet werden. Insbesondere steht aufgrund der Bindungswirkung nicht fest, dass für diesen Zeitraum die Familienbeihilfe (bzw die Ausgleichszahlung) bereits rechtskräftig aberkannt worden ist oder rückgefordert wird oder dass das Arbeits- und Sozialgericht den Wohnsitz der Klägerin im Ausland als gegeben erachten müsste.

2.4 Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass sich aus der Beschwerdevorentscheidung bzw dem darin genannten Bescheid die Rückforderung von Familienbeihilfe (samt Kinderabsetzbetrag) für den Zeitraum Juni 2011 bis September 2014 ergibt, weil dieser Zeitraum nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist. Die Frage, ob für einen bestimmten Zeitraum Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld besteht, ist nämlich ausschließlich anhand der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten im jeweiligen Anspruchszeitraum zu beurteilen (RIS-Justiz RS0124614 [T1]).

3. Der behauptete Verstoß gegen die Bindungswirkung ist demnach nicht gegeben. Es liegt weder eine Nichtigkeit noch eine unrichtige rechtliche Beurteilung vor. Ein außerordentliches Rechtsmittel ist aber nicht schon deshalb vom Obersten Gerichtshof als zulässig zu behandeln, weil eine Nichtigkeit bloß behauptet wird, sich aber als unbegründet erweist (RIS-Justiz RS0043067).

4.1 Auch mit ihren weiteren Revisionsausführungen, es begründe einen rechtlichen Feststellungsmangel, dass das Erstgericht nicht (von Amts wegen) vor Schluss der mündlichen Verhandlung den Bezug der Familienbeihilfe „überprüft“ habe, zeigt die beklagte Partei keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

4.2 Nach § 87 Abs 1 ASGG trifft das Gericht die Pflicht von Amts wegen alle entscheidungsrelevanten Tatsachen zu erheben. Zu einer solchen amtswegigen Prüfung ist das Gericht nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats aber nur dann verpflichtet, wenn sich im Verfahren entsprechende Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, der für die Entscheidung von Bedeutung sein kann. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Akts Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, hat das Gericht diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RIS-Justiz RS0086455 [T1]). Diese Grundsätze betreffen das Verfahren erster Instanz, weil im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen ausnahmslos das Neuerungsverbot des § 482 Abs 2 ZPO gilt (RIS-Justiz RS0042049). Sind die Parteien – wie im vorliegenden Fall – schon in erster Instanz qualifiziert vertreten, wird die Amtswegigkeit der Beweisaufnahme nach § 87 Abs 1 ASGG auf die durch das Parteivorbringen festgesteckten Grenzen eingeengt (RIS-Justiz RS0086455 [T6]).

4.3 Ein Vorbringen zum Anspruch und Bezug der Familienbeihilfe – insbesondere ein Vorbringen, das den Anspruch und den tatsächlichen Bezug von Familienbeihilfe in Frage gestellt hätte – wurde im Verfahren erster Instanz nicht erstattet. Zudem hat das Erstgericht ausdrücklich festgehalten, dass im Verfahren auch keine anderweitigen anspruchsausschließenden Umstände für den noch Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden Zeitraum von bis hervorgekommen sind. Welches Vorbringen bzw welche (konkreten) Anhaltspunkte dennoch berücksichtigt hätten werden müssen und Anlass für eine amtswegige Beweisaufnahme zum Anspruch und tatsächlichem Bezug der Familienbeihilfe geben hätten müssen, wird in der Revision nicht aufgezeigt.

Dies führt zur Zurückweisung der Revision als unzulässig.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00021.17M.0321.000
Schlagworte:
Sozialrecht

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