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VfGH vom 30.06.1993, B302/93

VfGH vom 30.06.1993, B302/93

Sammlungsnummer

13489

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks wegen denkunmöglicher Anwendung einer Bestimmung des FremdenG; sachliche Rechtfertigung des Ausschlusses der Berufung gegen die Versagung oder Ungültigerklärung eines Sichtvermerks

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bundespolizeidirektion (BPD) Wien versagte mit Bescheid vom gemäß § 10 Abs 1 Z 4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, dem Beschwerdeführer (einem nigerianischen Staatsangehörigen) die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (nämlich des FrG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die BPD Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs 2 FrG).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2.a) Die hier maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen des FrG lauten auszugsweise:

"Erteilung des Sichtvermerkes

§ 7.(1) Ein Sichtvermerk kann einem Fremden auf Antrag erteilt werden, sofern ein gültiges Reisedokument vorliegt und kein Versagungsgrund gemäß § 10 gegeben ist. Der Sichtvermerk kann befristet oder unbefristet erteilt werden.

(2) ....

(3) Die Behörde hat bei der Ausübung des in Abs 1 eingeräumten Ermessens vom Grund des beabsichtigten Aufenthaltes des Sichtvermerkswerbers ausgehend einerseits auf seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere seine familiären Bindungen, seine finanzielle Situation und die Dauer seines bisherigen Aufenthaltes, andererseits auf öffentliche Interessen, insbesondere die sicherheitspolizeilichen und wirtschaftlichen Belange, die Lage des Arbeitsmarktes und die Volksgesundheit Bedacht zu nehmen.

(4) - (7) ...."

"Sichtvermerksversagung

§ 10.(1) Die Erteilung eines Sichtvermerkes ist zu versagen, wenn

1. - 3. ....

4. der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde;

5. - 7. ....

(2) - (4) ...."

b) Die Erläuterungen zu der das FrG betreffenden Regierungsvorlage (692 BlgNR 18. GP) weisen zu § 10 darauf hin, daß die Sichtvermerksversagungsgründe im wesentlichen jenen des (bisher) geltenden Rechtes (nämlich des § 25 Abs 3 Paßgesetz 1969) entsprächen.

3.a) § 10 Abs 1 Z 4 FrG gleicht seiner Vorgängerbestimmung, nämlich dem § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 (wonach die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen war, wenn "die Annahme gerechtfertigt ist, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde").

b) Die sprachlich weitestgehende Übereinstimmung der beiden Normen und der aus den oben (II.2.b) wiedergegebenen Erläuterungen zur Regierungsvorlage des FrG hervorgehende Wille des Gesetzgebers lassen erkennen, daß die beiden Gesetzesbestimmungen inhaltlich ident sind.

Der Verfassungsgerichtshof hat in dem in einem Gesetzesprüfungsverfahren ergangenen Erkenntnis vom , G212-215/92 u.a. Zlen., dargetan, daß gegen § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 die in den (damaligen) Einleitungsbeschlüssen enthaltenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht zutreffen, weil eine verfassungskonforme Interpretation möglich ist. Diese zu § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 angestellten Überlegungen sind nach dem Gesagten auf § 10 Abs 1 Z 4 FrG zu übertragen.

c) Der Verfassungsgerichtshof hegt unter dem Gesichtspunkt des vorliegenden Beschwerdefalles auch keine sonstigen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 10 Abs 1 Z 4 FrG oder die weiteren, bei der Bescheiderlassung angewendeten Rechtsvorschriften:

aa) Auch wenn - entgegen den vorstehenden Ausführungen - die Rechtslage zuungunsten des Beschwerdeführers verschlechtert worden wäre, bestünden an sich gegen eine solche Verschlechterung keine verfassungsrechtlichen Einwände (vgl. zB B 1387,1542/92).

bb) Gemäß § 70 Abs 1 FrG ist gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz grundsätzlich die Berufung an die Sicherheitsdirektion zulässig; nur gegen die Versagung oder Ungültigerklärung eines Sichtvermerkes ist dem § 70 Abs 2 FrG zufolge eine Berufung ausgeschlossen.

Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur dargetan hat, bleibt - von verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Schaffung eines Instanzenzuges abgesehen - dem Gesetzgeber bei der Regelung einer Materie die Entscheidung überlassen, ob ein administrativer Instanzenzug überhaupt eingerichtet wird (vgl. zB VfSlg. 8937/1980, S 214; 9331/1982, S 65; 9600/1983, S 12 f.).

Die unterschiedliche Behandlung der von Abs 1 des § 70 FrG erfaßten Fälle und jener, die Abs 2 regelt, ist sachlich zu rechtfertigen und begegnet daher unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgrundsatzes keinen Bedenken. Dem Gesetzgeber kann nämlich nicht entgegengetreten werden, wenn er bei der Behandlung von Sichtvermerksanträgen einer raschen rechtskräftigen Erledigung den Vorzug vor der Einräumung eines administrativen Rechtsmittels gegeben hat.

cc) Gemäß § 28 Abs 2 FrG brauchen EWR-Bürger (das sind dem vorangehenden Abs 1 zufolge "Fremde, die Staatsangehörige einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) sind") zur Einreise und zum Aufenthalt keinen Sichtvermerk.

Diese Bestimmung ist im Hinblick darauf, daß das EWR-Abkommen (noch) nicht in die österreichische Rechtsordnung eingegangen ist, (derzeit) nicht anwendbar. Deshalb erübrigen sich im Zusammenhang mit § 28 Abs 2 FrG (gegenwärtig) alle verfassungsrechtlichen Überlegungen. (Zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, vgl. im übrigen , S 11, betreffend das AsylG 1991).

d) Der Beschwerdeführer wurde sohin nicht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.

4. Hingegen ist der belangten Behörde die Verletzung des durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens zur Last zu legen:

a) Der Verfassungsgerichtshof hat im oben (II.3.b) zitierten Erkenntnis vom unter Pkt. IV.3.a mit näherer Begründung ausgeführt:

"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."

Gleiches gilt infolge seiner inhaltlichen Identität mit § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 (s.o. II.3.a und b) auch für § 10 Abs 1 Z 4 FrG.

b) Ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist der BPD Wien im vorliegenden Fall anzulasten:

Der Beschwerdeführer ist mit einer Österreicherin verheiratet und hat ein in Österreich lebendes, minderjähriges Kind. Diese Umstände waren der Behörde auch bekannt. Die Behörde ging jedoch in der bekämpften Erledigung davon aus, daß sie sich bei Vollziehung des § 10 Abs 1 Z 4 FrG nicht damit auseinanderzusetzen habe, ob durch die Sichtvermerksversagung das Privat- und Familienleben (Art8 EMRK) des Sichtvermerkswerbers tangiert wird.

Die erwähnte Interpretation durch die belangte Behörde unterstellt nun aber - wie im sinngemäß hier heranzuziehenden Erkenntnis vom (s.o. II.3.a und b) nachgewiesen wird - dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt.

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Widerspruchs zu Art 8 EMRK aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.