OGH vom 20.12.2011, 12Os73/11v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ludwig als Schriftführer im Verfahren zur Unterbringung der Darinka M***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom , GZ 36 Hv 101/09v 51, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, der Betroffenen und deren Verteidigers Dr. Fuchs, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:
Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung der Darinka M***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung der Darinka M***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB abgewiesen.
Dem Antrag zufolge hat die Genannte Anfang 2007 in V***** im Gasthof „R*****“ unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis beruht,
1./ Simon B***** durch die Äußerung, ihn „abzustechen“, und
2./ Michael Bu*****, indem sie mit einem erhobenen Küchenmesser auf ihn zulief und in einem äußerst aggressiven Zustand ankündigte, zuzustechen,
jeweils gefährlich mit dem Tode bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen (ON 46).
Dagegen richtet sich die von der Staatsanwaltschaft aus den Nichtigkeitsgründen des § 433 Abs 1 StPO iVm § 281 Abs 1 Z 9 lit a und Z 11 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde.
Ausgehend von den im angefochtenen Urteil festgestellten „sonstigen Voraussetzungen des § 21 StGB“ - wonach die Betroffene zwei dem Tatbestand der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 (erster Fall) StGB subsumierbare Anlasstaten begangen habe, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind und nur deshalb nicht bestraft werden können, weil sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB) begangen wurden, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad (und zwar auf einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie) beruht (US 3) - erblickt die Staatsanwaltschaft in der unterlassenen Anordnung einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB eine rechtsfehlerhafte Beurteilung der gesetzlichen Kriterien der Gefährlichkeitsprognose, weil ein voraussichtlicher oder (wie hier) bereits erzielter Erfolg einer Behandlung für die Frage der Anordnung einer solchen Maßnahme unerheblich sei, wenn damit keine Heilung verbunden sei und somit die Gefährlichkeit nur unter der Bedingung der Aufrechterhaltung der Behandlung hintangehalten werde.
Rechtliche Beurteilung
Die Beschwerdeführerin macht damit - weil die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 Abs 1 StGB einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO darstellt ( Lendl , WK StPO § 260 Rz 35) - der Sache nach Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO geltend (vgl RIS-Justiz RS0113980 sowie Ratz in WK² Vorbem zu §§ 21 - 25 Rz 8 mwN).
Den erstrichterlichen Urteilsannahmen zufolge leidet die Betroffene weiterhin an einer geistig-seelischen Abartigkeit höheren Grads, wobei ihre Gefährlichkeit infolge einer seit zwei Jahren andauernden fachärztlichen Behandlung und familiären Betreuung „gebannt“ und im Urteilszeitpunkt „nicht davon auszugehen“ ist, „dass sie künftig wegen ihrer Krankheit Straftaten begeht“ (US 3). Sollte die fachärztliche Behandlung hingegen unterbleiben, wäre Gefährlichkeit anzunehmen und müsse wegen ihrer Geisteskrankheit auch mit Messerattacken mit schweren Verletzungsfolgen gerechnet werden (US 3, 4 oben).
Der Ansicht des Erstgerichts zuwider ist die Maßnahme aber auch anzuordnen, wenn eine stationäre Anhaltung zur Verhinderung der Prognosetat nicht erforderlich ist, die Unterbringungsanordnung jedoch nach Maßgabe der (normativ verstandenen) Gefährlichkeit, wie sie sich nach den gesetzlich abgegrenzten Erkenntnisquellen darstellt, gerechtfertigt ist (vgl Ratz in WK², Vorbem §§ 21 bis 25 Rz 7 und § 45 Rz 9 und 13). Wird eine bestehende Gefährlichkeit durch eine medikamentöse oder andere Behandlung lediglich eingedämmt (hintangehalten), aber nicht dauerhaft beseitigt, und verlangt deren weitere Eindämmung die Fortsetzung der Behandlung, steht die solcherart durch Therapie lediglich unter Kontrolle gebrachte Gefährlichkeit einer Anwendung der Bestimmung des § 21 Abs 1 StGB nicht entgegen ( Ratz in WK² § 45 Rz 13; Birklbauer , SbgK § 45 Rz 54).
Nur wenn zwischen Anlasstat und Hauptverhandlung ein (von den Behandlungsaussichten zu unterscheidender; vgl dazu Ratz in WK² Vorbem zu §§ 21-25 Rz 5) Behandlungserfolg eintritt, der die Gefährlichkeit in einem Maß reduziert erscheinen lässt, dass von einer Unterbringung im Maßnahmenvollzug Abstand genommen werden kann, so liegt - unabhängig davon, ob dies im Rahmen der vorläufigen Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO, der vorläufiger Unterbringung nach § 438 StPO oder aufgrund einer ärztlichen Behandlung auf freiem Fuß erfolgt - gar kein Fall einer Unterbringung nach § 21 StGB vor, weil ohne die vom Gesetz verlangte (stets auf den Urteilszeitpunkt bezogene) Gefährlichkeit die freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahme nach dem Gesetzlichkeitsprinzip des § 1 Abs 1 StGB (vgl Art 7 Abs 1 MRK) überhaupt nicht, also auch nicht bedingt angeordnet werden darf (RIS-Justiz RS0121151, RS0119302; Ratz in WK² § 45 Rz 10; Eder Rieder/Mitterauer , ÖJZ 2008, 51).
Würde sich die Gefährlichkeitsprognose nach § 21 Abs 1 StGB nach dem Erfordernis des Vollzugs der Maßnahme richten, bliebe für die Anwendung des § 45 Abs 1 StGB, der ausdrücklich auf den die Gefährlichkeit hintanhaltenden Behandlungserfolg anknüpft, kein Raum.
Somit war der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Folge zu geben und das angefochtene Urteil aufzuheben.
Folgende prozessuale Tatsachen (RIS-Justiz RS0114094 uvm; Ratz , WK-StPO § 288 Rz 41-44) waren weiters festzustellen:
Über den ursprünglich erhobenen Strafantrag der Staatsanwaltschaft (ON 5) entschied der Einzelrichter des Landesgerichts Innsbruck mit nach § 107 Abs 1 und 2 StGB schuldig sprechendem Urteil vom . Unter Bedachtnahme gemäß §§ 31, 40 StGB auf das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom , AZ 39 Hv 4/08z, sah er von der Verhängung einer Zusatzstrafe ab (ON 8).
Während die Angeklagte dieses Urteil bekämpfte, erhob die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel. Der Berufung der Angeklagten wegen Nichtigkeit gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Sache an das Landesgericht Innsbruck zu neuer Verhandlung und Entscheidung (ON 19). Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens tauschte die Staatsanwaltschaft den Strafantrag schließlich gegen den Unterbringungsantrag nach § 21 Abs 1 StGB aus (ON 46, 47).
Weil die Staatsanwaltschaft das Urteil des Einzelrichters vom unbekämpft ließ und, sobald ein Urteil wie hier im ersten Rechtsgang bloß zu Gunsten des Angeklagten angefochten worden ist das Verschlechterungsverbot des § 290 Abs 2 StPO für alle weiteren Stadien des Strafverfahrens gilt (RIS-Justiz RS0114094, RS0115529; Ratz , WK-StPO § 293 Rz 22) und jede einzelne Unrechtsfolge betrifft (RIS-Justiz RS0100700; Ratz , WK-StPO § 290 Rz 50 f), war der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung der Darinka M***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB abzuweisen.