VfGH vom 24.11.1983, B281/82
Sammlungsnummer
9836
Leitsatz
Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit; Verhaftung im Dienste der Strafjustiz; Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 175 Abs 1 Z 3 StPO liegt nicht vor MRK; Verstoß gegen Art 3 durch ungerechtfertigte Fesselung mit Handschellen
Spruch
Der Bf. ist am in G, Vbg., durch seine von Gendarmeriebeamten vorgenommene Festnehmung und anschließende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit und durch seine gleichfalls von Gendarmeriebeamten vorgenommene Fesselung mit Handschellen im Verlauf der vorbezeichneten Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht einer erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Alfred J beantragte mit seiner auf Art 144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerde an den VfGH der Sachenach die kostenpflichtige Feststellung, er sei am in G, Bezirk F, Bundesland Vbg., dadurch, daß ihn ein Gendarmeriebeamter festgenommen, angehalten und gefesselt habe, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG), sowie im Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden (Art3 MRK), verletzt worden.
1.1.2. Die Bezirkshauptmannschaft F als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und begehrte darin die Abweisung der Beschwerde.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß Gendarmerierevierinspektor Max F vom Gendarmerieposten G den Bf. am in G wegen des Verdachtes des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 (Abs1) StGB aus dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§175 Abs 1 Z 3 StPO) ohne richterlichen Befehl festnahm, mit Handschellen fesselte und kurze Zeit anhielt.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. Nr. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. Nr. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8146/1977), aber auch für die Fesselung einer Person mit Handschellen zutrifft (vgl. VfSlg. 7081/1973, 7377/1974, 8146/1977).
2.1.2.1. Demgemäß ist festzuhalten, daß sich die vorliegende Beschwerde gegen Akte unmittelbarer Verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art 144 Abs 1 B-VG wendet.
2.1.2.2. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde in vollem Umfang zulässig.
2.2.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. Nr. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des § 4 leg. cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.
2.2.2.1. Der VfGH geht bei der rechtlichen Beurteilung des Falles unter dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß der Bf. - der nach Lage der Verhältnisse im Verdacht einer mit Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten bedrohten, den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen strafbaren Handlung, nämlich des Vergehens nach § 136 Abs 1 StGB, stand - im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehls festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §§177, 447 Abs 1, 452 Z 1 (§9 Abs 1) StPO in Verbindung mit § 175 Abs 1 Z 3 StPO zulässig war.
2.2.2.2. Gemäß §§177 Abs 1 Z 2, 447 Abs 1, 452 Z 1 (§9 Abs 1) StPO darf im bezirksgerichtlichen Verfahren (s. VfSlg. 3850/1960, 5232/1966) die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen Vergehens verdächtig ist, in den Fällen des § 175 Abs 1 Z 3 StPO - wenn der Beschuldigte also Zeugen, Sachverständige oder Mitbeschuldigte zu beeinflussen, die Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren versucht hat oder wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, er werde dies versuchen - zum Zweck der Vorführung vor den Richter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung des richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich ist.
2.2.2.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH ist Verdunkelungsgefahr dann zu bejahen, wenn es wirklich zu einem Verdunkelungsversuch kam oder konkrete Anhaltspunkte darauf hinweisen, daß ein Versuch, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, unternommen werden würde (vgl. VfSlg. 3770/1960, 6560/1971, 6910/1972).
Daß der Bf. eine Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung bereits versucht habe, behauptet die bel. Beh. selbst nicht. Bestimmte Umstände, die darauf hindeuteten, daß ein solcher Versuch bevorstand, brachte die bel. Beh. gleichfalls nicht vor.
Die bloße Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung aber stellt noch nicht den Haftgrund nach § 175 Abs 1 Z 3 StPO her (vgl. VfSlg. 3770/1960, 3780/1960).
Der VfGH vermag hier selbst unter Zugrundelegung der Sachverhaltsschilderung der bel. Beh. das Vorliegen des - allein geltend gemachten - Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr nicht zu erkennen.
2.2.3. Daraus folgt, daß die Festnahme schon deshalb gesetzwidrig war, ohne daß es der Prüfung der Frage bedurfte, ob alle übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die bekämpfte Amtshandlung vorliegen.
2.2.4. Demgemäß wurde der Bf. - durch seine Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
2.3.1. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, die gemäß dem BVG BGBl. Nr. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art 3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
2.3.2.1. Eine - im Zuge der Festnehmung - notwendige Fesselung mit Handschellen stellt jedoch, wie der VfGH bereits in seinen Erk. VfSlg. 7081/1973 und 8146/1977 aussprach, keine hier allein in Betracht kommende "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" iS des Art 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar.
2.3.2.2. Selbst nach der Schilderung der bel. Beh. - und auch nach der unbedenklichen Zeugenaussage des einschreitenden Gendarmeriebeamten - verhielt sich der Bf. im Verlaufe der Amtshandlung in keiner Weise gewalttätig, sondern offenbar vollkommen ruhig und ließ sich auch widerstands- und anstandslos abführen, sodaß sein Verhalten keinerlei Grund für ein Anlegen von Handschellen bot; auch sonst war den Umständen nach eine Gefährdung des einschreitenden Gendarmeriebeamten keineswegs ernstlich zu befürchten: Zwei schon lange Jahre zurückliegende geringfügige (Vor-)Strafen des Bf. vermochten daran nichts zu ändern.
Eine ungerechtfertigte Fesselung - wie hier - verstößt aber gegen Art 3 MRK, wie der VfGH in seinen Erk. VfSlg. 7081/1973 und 8146/1977 darlegte.
2.3.3. Durch die in Rede stehende Fesselung wurde daher der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verletzt.
2.4. Aus diesen Erwägungen mußte spruchgemäß entschieden werden.