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OGH vom 22.03.2016, 11Os16/16m (11Os17/16h)

OGH vom 22.03.2016, 11Os16/16m (11Os17/16h)

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Margreiter, LL.B., als Schriftführerin in der Strafsache gegen Jozef G***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 11 U 12/12d des Bezirksgerichts Mürzzuschlag, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom (ON 52) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 11 U 12/12d des Bezirksgerichts Mürzzuschlag verletzen die am erfolgte Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten § 427 Abs 1 iVm § 478 Abs 1 StPO.

Das Urteil wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Mürzzuschlag verwiesen.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 11 U 12/12d des Bezirksgerichts Mürzzuschlag gegen Jozef G***** wegen § 127 StGB teilte die im Rechtshilfeweg um Zustellung der Ladung für die (im bereits zweiten Rechtsgang vgl ON 30, 37, 45) für anberaumte Hauptverhandlung ersuchte Staatsanwaltschaft B***** mit Schreiben vom mit, der Angeklagte befinde sich in der Justizvollzugsanstalt L***** in Haft (ON 47).

Diese Justizvollzugsanstalt nahm schließlich die Zustellung der Ladung für die Hauptverhandlung an den Angeklagten vor. Dem Bezirksgericht Mürzzuschlag teilte sie mit Schreiben vom mit, der Angeklagte würde am in das Regionalgefängnis A***** verlegt; seine Teilnahme an der genannten Verhandlung würde „mit großer Wahrscheinlichkeit“ nicht möglich sein (ON 48). Mit Schreiben vom übermittelte die Justizvollzugsanstalt dem Bezirksgericht den aktuellen Vollzugsplan betreffend G***** mit einem Vollzugsende am und einem Termin für die mögliche bedingte Entlassung am (ON 49).

Am übermittelte das Bezirksgericht dem Angeklagten die Mitteilung, wonach er sich „mangels persönlich gefertigten Schreibens noch nicht wirksam für ein Fernbleiben von der Hauptverhandlung“ entschuldigt habe, „sich aber auch mit der Durchführung der Hauptverhandlung … in seiner Abwesenheit einverstanden erklären“ könne. „Sollte bis zum keine entsprechende Erklärung einlangen, gehe das Gericht von seiner Zustimmung zur Durchführung der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit aus“ (ON 1 S 33).

Die Hauptverhandlung fand am in Abwesenheit des Angeklagten statt, wobei die Note vom verlesen wurde. Dem Richter war bekannt, dass sich der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt im Regionalgefängnis A***** in Haft befand (ON 51 S 4).

Mit Urteil vom selben Tag wurde G***** in Abwesenheit des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Die Urteilsausfertigung (ON 52) wurde dem Angeklagten am im Regionalgefängnis A***** zugestellt (ON 56).

Am langte beim Bezirksgericht ein Schreiben des Angeklagten ein, wonach dieser Berufung wegen des „Ausspruchs über die Strafe“ erhob und mitteilte, sich in Haft zu befinden. Er wies zudem auf sein Alter von 75 Jahren und seine schwere Herzerkrankung hin, die am operativ behandelt worden wäre (ON 58).

Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Beschluss vom , GZ 11 U 12/12 59, verwarf das Bezirksgericht Mürzzuschlag den Einspruch des Angeklagten gegen das Abwesenheitsurteil vom (ON 59) und legte die Akten dem Landesgericht Leoben zur Entscheidung über die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe vor. Dieses hat diesbezüglich zu AZ 9 Bl 4/14i bislang keine Entscheidung getroffen.

Rechtliche Beurteilung

Die am erfolgte Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten verletzt wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt das Gesetz in § 427 Abs 1 iVm § 478 Abs 1 StPO.

Gemäß § 427 Abs 1 erster Satz StPO darf bei sonstiger Nichtigkeit nur dann die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß § 164 StPO oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt worden ist.

Der Angeklagte kann gegen ein Urteil des Bezirksgerichts, das gemäß § 427 StPO in seiner Abwesenheit verkündet wurde, binnen 14 Tagen von der Zustellung des Urteils beim erkennenden Bezirksgericht Einspruch erheben, wenn ihm die Vorladung nicht gehörig zugestellt worden ist oder er nachweisen kann, dass er durch ein unabwendbares Hindernis abgehalten worden sei (§ 478 Abs 1 StPO).

Ist dem Gericht bereits vor Beginn der Hauptverhandlung bekannt, dass sich der Angeklagte im Ausland in Haft befindet, so hat es in der Regel (vgl aber unten) von einer Durchführung der Hauptverhandlung und der Urteilsfällung in dessen Abwesenheit Abstand zu nehmen. Dies ist unübersteigliche Konsequenz des in § 427 Abs 3 bzw § 478 Abs 1 statuierten Rechtsbehelfs des Einspruchs gegen das Abwesenheitsurteil, mit dem der Angeklagte in einem solchen Fall ohne Anfechtung des Urteilsinhalts die Neudurchführung des Verfahrens erzwingen kann. Eine Verfahrensdurchführung in Kenntnis der zu gewärtigenden Urteilskassierung wäre sinnwidrig (RIS Justiz RS0101569; Bauer/Jerabek , WK StPO § 427 Rz 14 mwN).

Dem Angeklagten steht es zwar grundsätzlich frei, in einem auf den Schutzzweck des § 427 StPO abgestimmten Bereich durch persönliche und unmissverständliche Erklärung der Verhandlung in seiner Abwesenheit zuzustimmen (RIS Justiz RS0115797; Bauer/Jerabek , WK StPO § 427 Rz 15). Wird der Angeklagte dazu aufgefordert zu erklären, ob er mit der Durchführung der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit einverstanden sei, darf dem Unterbleiben einer Erklärung allerdings kein solcher Erklärungsinhalt beigemessen werden.

Die vor dem Bezirksgericht Mürzzuschlag am erfolgte Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung gereichen dem Angeklagten zum Nachteil, weswegen sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, das Urteil vom (ON 52) aufzuheben.

Einer förmlichen Aufhebung auf dem kassierten Urteil beruhender Anordnungen und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS Justiz RS0100444; Ratz , WK StPO § 292 Rz 28).

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:0110OS00016.16M.0322.000