VfGH vom 29.06.1995, B2689/94
Sammlungsnummer
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Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen für eine jugoslawische Familie mit langjährigem Aufenthalt im Inland und im Inland geborenen, österreichische höhere Schulen besuchenden Kindern; verfassungswidrige Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus aufgrund der bereits abgelaufenen Sichtvermerke; analoge Vorgangsweise zur Fallgruppe der Verlängerungsanträge verfassungsrechtlich geboten
Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, beiden Beschwerdeführern, zu Handen ihres Rechtsvertreters, die mit je 18.000 S bestimmten Kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführerin zu B2689/94 ist Staatsangehörige von Bosnien-Herzegowina; sie lebt seit 1987 in Österreich. Es besteht eine Lebensgemeinschaft mit einem indischen Staatsangehörigen, der zwei minderjährige Kinder entstammen, darunter der 1990 in Wien geborene Beschwerdeführer zu B2688/94. Der Lebensgefährte der Beschwerdeführerin lebt seit 1984 in Österreich und ist in Wien beschäftigt.
2. Der letzte Sichtvermerk der Beschwerdeführerin lief am ab. Dem unwidersprochen gebliebenen Beschwerdevorbringen zufolge wurde sie zwischen der neu eingerichteten Aufenthaltsbehörde (MA 62) und dem fremdenpolizeilichen Büro "hin und hergeschickt", weshalb ein Antrag erst am eingebracht wurde. Dieser Antrag wurde mit Bescheiden des Landeshauptmannes von Wien mit der Begründung abgewiesen, daß er verspätet gestellt worden sei.
Die gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen wurden mit im wesentlichen gleichlautenden Bescheiden des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf § 13 iVm § 6 Abs 2 des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992 - abgewiesen. Begründend wird ausgeführt, daß die Beschwerdeführer, welche die Frist zur Stellung eines Verlängerungsantrages versäumt hätten, einen Erstantrag vom Ausland aus hätten stellen müssen; es sei daher die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführer - auch im Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.
3. Gegen diese beiden Berufungsbescheide richten sich die vorliegenden, auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützten Beschwerden, mit denen insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:
1. Die angefochtenen, Aufenthaltsbewilligungen nach dem AufG versagenden Bescheide greifen in das den Beschwerdeführern, welche sich seit nahezu zehn Jahren bzw. seit ihrer Geburt in Österreich aufhalten, durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.
Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (VfSlg. 11638/1988).
2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom , B 1611-1614/94, mit näherer Begründung dargelegt hat, ist es im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des durch § 6 Abs 2 AufG geschaffenen Regelungssystems geboten, Fälle, in denen seit langer Zeit in Österreich aufhältige Fremde die Frist, innerhalb der ein Antrag iS des § 13 AufG zu stellen gewesen wäre, nur relativ geringfügig versäumt haben, den zweiten Satz des § 6 Abs 2 AufG zu unterstellen, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auch vom Inland aus gestellt werden können.
3. Die belangte Behörde hat dadurch, daß sie in den beiden Beschwerdefällen, welche Fremde betreffen, die bereits mehrere Jahre bzw. seit ihrer Geburt in Österreich leben, die Bestimmung des § 6 Abs 2 erster Satz AufG angewendet und die Versagung der Aufenthaltsbewilligungen, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführer einzugehen, mit der Begründung der verspäteten Antragstellung abgewiesen hat, § 6 Abs 2 einen verfassungswidrigen, weil gegen Art 8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt. Die angefochtenen Bescheide waren daher aufzuheben.
IV. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von je 3.000,-- S enthalten.
V. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.
Fundstelle(n):
FAAAD-93477