OGH vom 10.05.1989, 9ObA120/89
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr.Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Gamerith und Dr.Maier sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Walter Zeiler und Wilhelm Hackl als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Gertraud P***, Kassierin, Innsbruck, Kajetan-Sweth-Straße 54, vertreten durch Dr.Heinz Mildner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Herbert G***, Pensionist, Innsbruck, Innrain 109, vertreten durch Dr.Walter Gattinger, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 325.375,23 brutto und S 16.500 netto sowie Ausstellung eines Dienstzeugnisses (Gesamtstreitwert S 347.875,23 sA), infolge Rekurses des Beklagten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 5 Ra 94/88-34, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 46 Cga 38/87-24, als nichtig aufgehoben wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der Beschluß des Berufungsgerichtes wird aufgehoben und diesem die Entscheidung über die bisher nicht erledigten Teile der Berufung unter Abstandnahme von dem als gegeben erachteten Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO aufgetragen.
Die Klägerin ist schuldig, dem Beklagten die mit S 12.983,40 bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (hievon S 2.163,90 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Begründung:
Das Erstgericht wies das auf Zahlung von S 325.375,23 brutto sA und S 16.500 netto sA sowie auf Ausstellung eines Dienstzeugnisses gerichtete Klagebegehren ab. Es hatte die letzte Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung für den anberaumt und verhandelte damals im Gerichtsgebäude des Landesgerichtes Innsbruck von 14 Uhr 50 bis 21 Uhr. Von 19 Uhr bis 19 Uhr 30 wurde die Verhandlung "zur allgemeinen Regenerierung" unterbrochen und danach fortgesetzt. Die Tore des Gerichtsgebäudes des Landesgerichtes Innsbruck waren um diese Zeit (auf Grund der generellen Nachtsperre) bereits geschlossen.
Der Klagevertreter brachte in der Berufung vor, er habe sich während der Unterbrechung von 19 Uhr bis 19 Uhr 30 aus dem Gerichtsgebäude entfernt; erst nach längerem Klopfen sei es ihm gelungen, von einer Reinigungskraft wieder eingelassen zu werden. Die Schließung des Gebäudes "vor Beginn der Verhandlung um 19 Uhr 30" begründe Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 7 ZPO, weil die Öffentlichkeit in ungerechtfertigter Weise ausgeschlossen worden sei. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin wegen Nichtigkeit Folge. Es hob das Ersturteil und das vorangegangene Verfahren ab der Fortsetzung der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am um 19 Uhr 30 unter Rechtskraftvorbehalt als nichtig auf und trug dem Erstgericht in diesem Umfang die neuerliche Verhandlung und Urteilsfällung auf. Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß die Öffentlichkeit der Verhandlung nur gewahrt sei, wenn jedermann, der an ihr teilnehmen wolle, nicht nur bei Nachfragen den Ort der Verhandlung leicht feststellen könne, sondern auch ohne Hindernis zu ihr Zutritt habe. Es müsse gewährleistet sein, daß jedermann - wenn auch in den Grenzen der konkreten Raumverhältnisse - Zutrittsmöglichkeit habe. Es dürften keine den Zutritt zur Verhandlung ausschließenden Hindernisse aufgestellt werden. Dadurch, daß im Zeitpunkt der Fortsetzung der Verhandlung um 19 Uhr 30 das Eingangstor zum Gerichtsgebäude gesperrt gewesen sei, sei Zuhörern der Zutritt zur Verhandlung verwehrt und damit die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden.
Der im Verfassungsrang (Art 90 Abs 1 B-VG und Art 6 Abs 1 MRK) stehende Grundsatz der Öffentlichkeit dürfe nicht dahin einschränkend ausgelegt werden, daß nur ein Teil der Verhandlung öffentlich abgeführt werden müsse. Insbesondere nach einer Verhandlungspause müsse jedermann und nicht nur den Personen, die schon vorher als Zuhörer teilgenommen hatten, die Möglichkeit des Zutritts gegeben werden. Den rechtspolitischen Erwägungen, daß der Grundsatz der Öffentlichkeit bei seiner Schaffung gegen eine Kabinettsjustiz des Monarchen gerichtet gewesen sei und daher heute keine rechtspolitische Bedeutung mehr habe, sei entgegenzuhalten, daß gerade im modernen demokratischen Staatswesen die Öffentlichkeit der Verhandlungen als Kontrolle der Rechtsprechung durch die demokratische Gesellschaft gesehen werden könne. Im Gegensatz zu § 281 Abs 3 StPO wirke der Nichtigkeitsgrund des ungerechtfertigten Ausschlusses der Öffentlichkeit in der Zivilprozeßordnung absolut und sei daher auch ohne vorherige Rüge durch die Parteien wahrzunehmen.
Der Beklagte erhebt gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes Rekurs und beantragt sinngemäß, die Nichtigerklärung des Ersturteiles aufzuheben; der Oberste Gerichtshof möge "in der Sache selbst" entscheiden und der Berufung der Klägerin keine Folge geben. Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, dem Rekurs des Beklagten nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist zulässig.
Beschlüsse des Berufungsgerichtes, mit denen es die Nichtigkeit des erstrichterlichen Urteiles und die Zurückweisung der Klage ausgesprochen, also den Rechtsschutz definitiv verweigert hat, sind gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO anfechtbar, ohne daß es des Ausspruches eines Rechtskraftvorbehaltes bedarf (vgl SZ 59/28 = EvBl 1987/58). Hat hingegen das Berufungsgericht - wie im vorliegenden Fall - das Ersturteil und das Verfahren vor dem Erstgericht ganz oder - wie hier - teilweise wegen Nichtigkeit aufgehoben, nicht aber auch die Klage zurückgewiesen, dann ist dieser Beschluß nur anfechtbar, wenn ihn das Berufungsgericht gemäß § 479 Abs 1 ZPO mit einem Rechtskraftvorbehalt versieht (Fasching IV 410 ff, insbesondere 412;
derselbe LB Rz 1981; SZ 19/305; EvBl 1955/121; RZ 1965, 161;
Arb 7164; SZ 51/152; SZ 52/153; SZ 59/16) und damit die Anfechtungsmöglichkeit nach § 519 Abs 1 Z 3 ZPO eröffnet. Das ist hier - unter Beachtung der Voraussetzungen des § 45 Abs 4 ASGG - geschehen.
Der Rekurs ist auch rechtzeitig. Gemäß § 521 Abs 1 ZPO beträgt die Rekursfrist vierzehn Tage, wenn jedoch das Rekursverfahren zweiseitig (§ 521 a ZPO) ist, vier Wochen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil sich der innerhalb der Vierwochenfrist erhobene Rekurs gegen einen Aufhebungsbeschluß nach § 519 Abs 1 Z 3 ZPO richtet und damit der Fall des § 521 a Abs 1 Z 2 ZPO gegeben ist. Jene Bestimmung gilt nämlich auch dann, wenn die Aufhebung mit Rechtskraftvorbehalt wegen Nichtigkeit erfolgte (Fasching LB Rz 1966).
Der Rekurs ist auch berechtigt.
Gemäß Art 90 Abs 1 B-VG sind die Verhandlungen in Zivil- und Strafsachen vor dem erkennenden Gericht mündlich und öffentlich. Ausnahmen bestimmt das Gesetz. Im Einklang damit bestimmt § 171 Abs 1 ZPO, daß die Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte, einschließlich der Verkündung der richterlichen Entscheidung, öffentlich erfolgt. Gemäß § 171 Abs 2 ZPO haben als Zuhörer nur erwachsene unbewaffnete Personen Zutritt. Personen, welche vermöge ihres öffentlichen Dienstes zum Tragen einer Waffe verpflichtet sind, darf der Zutritt nicht verweigert werden. Die Bestimmung des § 172 ZPO gibt dem Richter das Recht, die Öffentlichkeit aus im einzelnen bestimmten Gründen auszuschließen. Das steht in Übereinstimmung mit dem erwähnten Gesetzesvorbehalt des Art 90 Abs 1 B-VG. In Art 6 Abs 1 MRK wurden die Gründen, aus denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden darf, ähnlich wie in § 172 ZPO konkretisiert. Wurde die Öffentlichkeit in ungerechtfertigter Weise ausgeschlossen, ist das angefochtene Urteil und, soweit der Grund der Nichtigkeit das vorangegangene Verfahren ergreift, auch dieses aufzuheben (§ 477 Abs 1 Z 7 ZPO).
Die Bestimmungen der ZPO über die Öffentlichkeit der Verhandlung wenden sich primär an den erkennenden Richter, der den Zutritt nur bei Fehlen der Voraussetzungen des § 171 Abs 2 ZPO verweigern und die Öffentlichkeit nur aus den Gründen des § 172 ausschließen darf (bzw auszuschließen hat). Darüber hinaus können aber auch von außen kommende, durch den erkennenden Richter nicht beeinflußbare Umstände zur Verletzung des Grundrechts der Öffentlichkeit führen. Als Beispiel nennt Fasching in II 822, daß die Verwaltungsbehörde, etwa aus politischen Gründen, (gezielt) den Zutritt zu einer öffentlichen Verhandlung durch Absperrmaßnahmen verhindert. Damit ist aber nicht gesagt, daß alle äußeren Einflüsse, die tatsächlich eine Teilnahme von (potentiellen) Zuhörern verhindern, bereits ein mit Nichtigkeit bedrohter ungerechtfertigter Ausschluß der Öffentlichkeit im Sinne des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO sind. Sind die Zugänge zum Gerichtsgebäude aus Gründen der öffentlichen Sicherheit versperrt, so ist darin, daß das Gericht (nämlich der erkennende Richter) nicht für einen freien Zutritt sorgt, keine Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Verhandlung gelegen. Eine solche liegt in diesem Fall auch nicht in der Maßnahme der Verwaltungsbehörde (= Justizverwaltung), da sie nicht auf die Verweigerung des Zutritts gerichtet ist (Fasching aaO). Die bei allen in den Abendstunden nicht mehr regelmäßig benützten Gebäuden der öffentlichen Verwaltung nach Maßgabe des ordentlichen Betriebes durch den zuständigen Hausverwalter angeordnete Sperre aller Zugänge ist eine übliche, sachlich gerechtfertigte Sicherungsmaßnahme, die keinesfalls darauf abzielt, nach § 171 Abs 2 ZPO an sich zutrittsberechtigten Personen die Teilnahme an einer Verhandlung vor dem erkennenden Gericht zu verweigern. Die Verwaltungsbehörde darf bei der Anordnung einer dartigen allgemein üblichen Sperre des Gebäudes während der Nachtstunden davon ausgehen, daß in dieser Zeit im allgemeinen keine Verhandlungen (vor dem erkennenden Gericht) stattfinden. Sie greift daher durch eine solche im vorhinein auf Dauer angeordnete generelle Maßnahme nicht in das Öffentlichkeitsgebot der Art 90 Abs 1 B-VG, Art 6 Abs 1 MRK und des § 171 Abs 1 ZPO ein. Ebensowenig schließt aber der erkennende Richter, der ausnahmsweise, um eine Rechtssache zu Ende zu bringen, mit den Parteien über den Zeitpunkt der allgemeinen Sperre der Tore eines Gerichtsgebäudes hinaus mit den bereits anwesenden Zuhörern weiter verhandelt, die Öffentlichkeit ungerechtfertigterweise im Sinne des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO aus. Obwohl die Öffentlichkeit der Verhandlung im allgemeinen nur dann hergestellt ist, wenn jedermann, der an ihr teilnehmen will, ohne Hindernis Zutritt hat, sind nach allgemeiner Auffassung auch Einschränkungen in bezug auf die Platzverhältnisse am Verhandlungsort, die, wenn der Richter in seinem Arbeitszimmer verhandeln muß, einschneidend sein können, durchaus zulässig. Kann aber selbst weiteren Zuhörern wegen beengter Raumverhältnisse sogar der Zutritt verweigert werden, ist es auch unbedenklich, daß der Richter für den allfälligen Einlaß von weiteren Personen in das Gerichtsgebäude zu dem Zweck, daß sie an der noch in Gang befindlichen Verhandlung trotz der üblichen Nachtsperre des Gerichtsgebäudes als weitere Zuhörer teilnehmen können, nicht Sorge tragen muß. Bei unvorhergesehenen Verspätungen hätte der Richter diese Möglichkeit auch gar nicht, weil die Anordnung einer späteren Haustorsperre grundsätzliche Sache der Justizverwaltung ist, mit der er erst das Einvernehmen herstellen müßte. Kann der erkennende Richter das nicht mehr, müßte er, läge im Weiterverhandeln schon ein mit Nichtigkeit bedrohter Verstoß im Sinne des § 477 Abs 1 Z 7 ZPO, die Verhandlung vertagen. Dies liefe aber - im Ergebnis - auf einen Eingriff in seine verfassungsgesetzlich gewährleistete Unabhängigkeit (Art 87 Abs 1 B-VG) hinaus. Bei wertender Abwägung zwischen den verfassungsgesetzlichen Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit und der Öffentlichkeit der Verhandlung muß angesichts der hier nur geringfügigen praktisch bedeutungslosen, aus Sicherheitsgründen notwendigerweise erfolgten Beschränkung der Volksöffentlichkeit (die nur in der Verhinderung des Zutritts allfälliger weiterer, um diese Zeit in aller Regel ohnehin nicht zu erwartender Zuhörer besteht), die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit in der Verhandlungsdisposition durchschlagen. Der Beschluß des Berufungsgerichtes ist daher aufzuheben und diesem die Entscheidung über den bisher nicht erledigten Inhalt der Berufung aufzutragen. Die vom Rekurswerber beantragte Sachentscheidung über die Berufung durch den Obersten Gerichtshof ist nicht zulässig, weil dadurch den Parteien eine Rechtsmittelinstanz entzogen würde.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 52 Abs 1 Satz 2 ZPO. Die Klägerin hat die Kosten des von ihr veranlaßten Zwischenstreites zu tragen.