VfGH vom 29.06.1995, B2627/94
Sammlungsnummer
14192
Leitsatz
Verletzung in den Rechten auf persönliche Freiheit und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Zurückweisung von Schubhaftbeschwerden aufgrund der Entlassung der Beschwerdeführer aus der Schubhaft; Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zur Prüfung solcher Beschwerden auch nach Entlassung des Schubhäftlings; keine Annahme einer Zuständigkeitsverschiebung zu den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts aus Gründen des Rechtsschutzes
Spruch
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihrer Rechtsvertreter die mit jeweils S 18.000,-- bestimmten Kosten dieser verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Bescheiden des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich (im folgenden: UVS) wurden die von den Beschwerdeführern gemäß § 51 des Fremdengesetzes, BGBl. 838/1992 (im folgenden: FrG), erhobenen Beschwerden als unzulässig zurückgewiesen, weil sich die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Einlangens der Beschwerden beim UVS nicht mehr in Schubhaft befunden hätten.
2. Gegen diese Bescheide wenden sich die vorliegenden, auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, in welchen die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide begehrt wird.
3. Der UVS als belangte Behörde dieser verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren hat die Verwaltungsakten vorgelegt und jeweils eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden beantragt wird. Hiezu führt der UVS aus, aufgrund der zur Zeit bestehenden Judikaturdivergenz zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof zu der Frage, ob eine Beschwerde nach § 51 FrG auch dann zulässig sei, wenn sich der Fremde nicht mehr in Schubhaft befinde, habe das zur Entscheidung in den vorliegenden Fällen berufene Organ "nach freier Überzeugung und in Abwägung von Argumenten der Plausibilität sowie Interpretation der anzuwendenden Rechtsgrundlagen zu judizieren und die Gründe hiefür in den zutreffenden Bescheidbegründungen darzulegen". Die bekämpften Entscheidungen verletzen nach Auffassung des UVS in keiner Weise die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte der Beschwerdeführer.
4. Die Beschwerdeführer zu B2627/94 und B2628/94 erstatteten eine Replik, in welcher sie ihren Rechtsstandpunkt bekräftigen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerden, welche in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm. § 35 VerfGG 1953 zur gemeinsamen Beratung und Beschlußfassung verbunden wurden, erwogen:
1. Da alle Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Beschwerden zulässig.
2. Gemäß § 51 Abs 1 FrG hat, wer gemäß § 43 festgenommen worden ist oder unter Berufung auf dieses Bundesgesetz angehalten wird, das Recht, den unabhängigen Verwaltungssenat mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen. Nach § 52 Abs 2 Z 2 FrG hat die Entscheidung des unabhängigen Verwaltungssenates über die Fortsetzung der Schubhaft binnen einer Woche zu ergehen, es sei denn, die Anhaltung des Fremden hätte vorher geendet. Gemäß § 52 Abs 4 FrG hat der unabhängige Verwaltungssenat, sofern die Anhaltung noch andauert, jedenfalls bestimmte Feststellungen zu treffen. Wie der Verfassungsgerichtshof in vergleichbaren Fällen (; vgl. weiters , , und vom selben Tage, B767/94 sowie B837/94) insbesondere auch unter Hinweis auf den letzten Satz des Art 6 Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684/1988 (im folgenden: BVG persFr.), ausgeführt und näher begründet hat, ist der unabhängige Verwaltungssenat nach dem FrG u.a. zur Prüfung der behaupteten Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme und Anhaltung in Schubhaft auch dann zuständig, wenn die Beschwerdeerhebung gemäß § 51 FrG erst nach Entlassung des Schubhäftlings aus der Schubhaft erfolgte. Der von der belangten Behörde unter Berufung auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (, und vom selben Tage, 94/02/0295) weiterhin vertretenen gegenteiligen Auffassung vermag sich der Verfassungsgerichtshof insofern nicht anzuschließen: Der Verwaltungsgerichtshof und die belangte Behörde berufen sich zur Stützung ihrer Rechtsmeinung vornehmlich auf den Wortlaut des § 51 Abs 1 FrG; diese Bestimmung verwende die Präsensform, woraus abzuleiten sei, daß das Recht zur Erhebung einer Schubhaftbeschwerde einem Fremden nicht mehr zustehe, wenn er aus der Schubhaft entlassen worden sei. Dieses Ergebnis entspreche auch Art 5 Abs 4 EMRK und Art 6 Abs 1 BVG persFr. sowie den Materialien hiezu; § 51 FrG stelle - nur - ein Haftprüfungsverfahren bereit.
Die von der belangten Behörde vertretene Auffassung, wonach eine Beschwerde iS des § 51 FrG an den unabhängigen Verwaltungssenat nur ein Haftprüfungsverfahren auslöse, steht jedoch nicht nur mit dem Wortlaut dieser Bestimmung in Widerspruch. Denn nach dieser Bestimmung wird eine Beschwerdemöglichkeit sowohl gegen die Anhaltung in Schubhaft als auch gegen den Schubhaftbescheid und die Festnahme eingeräumt. Vielmehr steht sie auch mit dem Sinn des behauptetermaßen allein gewährten bloßen Haftprüfungsverfahrens ("Habeas corpus") in Widerspruch: Danach wäre nämlich nicht maßgeblich, ob sich der Fremde zum Zeitpunkt der Einbringung einer auf § 51 FrG gestützten Beschwerde noch in Schubhaft befindet, sondern der Zeitpunkt der Entscheidung durch den unabhängigen Verwaltungssenat. Einer solchen Annahme stehen aber sowohl der Wortlaut und Sinn des Art 6 Abs 1, letzter Satz, BVG persFr., der das Vorliegen eines bloßen Haftprüfungsverfahrens ausschließt, als auch der Wortlaut des § 52 Abs 2 Z 2 FrG entgegen.
Insbesondere aber übersieht die belangte Behörde das vom Verfassungsgerichtshof schon in seiner Entscheidung vom , B960/93, ebenfalls relevierte Problem, daß sich das in § 51 Abs 1 FrG vorgesehene Rechtsmittel eben auch gegen den Schubhaftbescheid, nicht nur gegen die Festnahme und Anhaltung in Schubhaft wendet. Der Meinung der damals belangten Behörde, dem Rechtsschutzinteresse des Fremden sei dadurch entsprochen, daß nunmehr wieder der Rechtszug an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts eröffnet werde, hielt der Verfassungsgerichtshof entgegen, daß das FrG keinen Anhaltspunkt für eine solche Zuständigkeitsverschiebung biete.
Eine solche Zuständigkeitsverschiebung erschiene aber auch verfassungswidrig, weil einerseits Art 83 Abs 2 iVm. Art 18 B-VG den Gesetzgeber dazu verhält, klare und eindeutige Zuständigkeitsregelungen zu treffen (VfSlg. 9937/1984, 10311/1984, 11287/1987, ), bei einer solchen Auslegung des Gesetzes aber die Zuständigkeit von Umständen abhinge - nämlich dem Zeitpunkt der Entlassung aus der Schubhaft -, die vom Rechtsunterworfenen nicht vorhersehbar sind und eine willkürliche Änderung der Zuständigkeit ermöglichten (VfSlg. 13029/1992, 13042/1992).
Andererseits könnte sich bei einer solchen Auslegung des § 51 Abs 1 FrG eine - mit dem Rechtsschutzsystem der Art 130 ff. und des Art 144 B-VG unvereinbare - Rechtsschutzlücke ergeben. Letztinstanzliche Bescheide können vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts innerhalb von sechs Wochen ab Bescheiderlassung angefochten werden; diese Frist wurde durch das FrG nicht abgeändert und es wird hier auch nicht eine Unterbrechung dieser Frist normiert. Eine unmittelbare Anfechtung in Vollstreckung gesetzter Schubhaftbescheide vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts kommt wegen der Eröffnung der Beschwerdemöglichkeit an den unabhängigen Verwaltungssenat nicht in Betracht. Das würde in allen jenen Fällen, in denen ein Fremder vor, aber auch nach Ablauf der sechswöchigen Frist ab Erlassung des Schubhaftbescheides aus der Schubhaft entlassen wird, ohne daß er bis dahin eine Schubhaftbeschwerde erhoben hat, dazu führen, daß der Schubhaftbescheid weder vor dem unabhängigen Verwaltungssenat noch vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts anfechtbar wäre. Dies aber stünde mit dem Rechtsschutzsystem der österreichischen Bundesverfassung in Widerspruch. Der Verfassungsgerichtshof hat nämlich wiederholt festgestellt, daß jeder Verwaltungsakt, der in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift, bekämpfbar und letztlich vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts überprüfbar sein muß (VfSlg. 11590/1987, 12574/1990, 13223/1992, ; s. auch ).
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß Rechtsmittel immer befristet sind. Hier geht es nämlich nicht um eine gesetzlich vorgesehene, vom Rechtsunterworfenen im vorhinein erkennbare Befristung, sondern darum, daß durch die von ihm nicht vorhersehbare Entlassung aus der Schubhaft eine an sich gegebene Rechtsschutzmöglichkeit plötzlich wegfiele.
Die damit entstehende Rechtsschutzlücke betreffend die Bekämpfbarkeit des Schubhaftbescheides läßt sich auch nicht dadurch schließen, daß eine nach Beendigung der Schubhaft gemäß § 51 Abs 1 FrG erhobene Beschwerde nur hinsichtlich der Behauptung der Rechtswidrigkeit der Festnahme oder Anhaltung in Schubhaft für unzulässig erachtet würde, hinsichtlich der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides hingegen für zulässig. Zwar unterscheidet das FrG in seinem § 52 Abs 2 Z 2 und § 52 Abs 4 hinsichtlich der zu erledigenden Beschwerde zwischen der Entscheidung über die Fortsetzung der Schubhaft und der Entscheidung über die Beschwerde im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte (s. ); weiters legt § 52 Abs 4, letzter Satz, wonach die Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides als unzulässig zurückzuweisen ist, wenn der Fremde vor der Festnahme deswegen auch den Verwaltungsgerichtshof angerufen hat, die Möglichkeit einer differenzierten Behandlung der einzelnen Beschwerdepunkte nahe. Nicht zu entnehmen ist dem FrG hingegen, daß die einzelnen Beschwerdepunkte im Hinblick auf den Zeitpunkt der Einbringung der Schubhaftbeschwerde differenziert zu behandeln wären. Im Gegenteil: Würde der Auffassung gefolgt, daß aus der Verwendung der Gegenwartsform in § 51 Abs 1 FrG ("angehalten wird") die Unzulässigkeit der Einbringung einer Beschwerde gegen die Festnahme oder Anhaltung in Schubhaft nach Beendigung der Schubhaft zu schließen sei, müßte dies angesichts des Wortlauts dieser Bestimmung für die Beschwerde gegen den Schubhaftbescheid in gleicher Weise gelten; denn daß mit der Verwendung desselben, in Präsensform gefaßten Zeitwortes "angehalten wird" im ersten Halbsatz des § 51 Abs 1 FrG einmal das Präsens, das andere Mal die (Mit)Vergangenheit gemeint wäre, unterstellt auch die belangte Behörde nicht.
3. Folgte man der Auffassung der belangten Behörde, ergäbe sich eine der Bundesverfassung widersprechende Lücke im Rechtsschutzsystem. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich deshalb außer Stande, der - wenn auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folgenden - Auffassung der belangten Behörde beizutreten. Vielmehr hat er an seiner bisherigen Rechtsprechung festzuhalten.
Der UVS hätte die Schubhaftbeschwerden daher nicht aus den in den angefochtenen Bescheiden angeführten - im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof als unzutreffend erwiesenen - Gründen zurückweisen dürfen.
4. Durch die Zurückweisung der gemäß § 51 FrG erhobenen Beschwerden hat der UVS sohin zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert und die Beschwerdeführer in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt ().
5. Die angefochtenen Bescheide waren deshalb aufzuheben.
III. 1. Die Kostenentscheidung
stützt sich auf § 88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Betrag sind jeweils S 3.000,-- an Umsatzsteuer enthalten.
Die von den Beschwerdeführern zu B2627/94 und B2628/94 für die Erstattung der Replik begehrten Kosten waren nicht zuzusprechen, da es sich um keinen abverlangten Schriftsatz handelt und die Erstattung der Gegenäußerung, die bloß Rechtsausführungen enthält, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht geboten war (VfSlg. 11491/1987).
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4, erster Satz, und Z 2 VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.