VfGH vom 11.10.1995, B2619/94
Sammlungsnummer
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Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung bereits abgelaufener Sichtvermerke aufgrund der Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus; kein Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller; verfassungskonforme Auslegung hinsichtlich der Zulässigkeit einer Antragstellung vom Inland aus in bestimmten Fällen geboten
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit 18.000,-- S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer ist polnischer Staatsangehöriger, lebt - den unwidersprochen gebliebenen Beschwerdeausführungen zufolge - seit nunmehr zehn Jahren in Österreich und ist mit einer in Österreich seit dem Jahre 1988 als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchlingskonvention anerkannten polnischen Staatsangehörigen verheiratet. Der Ehe entstammen zwei bereits in Österreich geborene Kinder.
Am beantragte der Beschwerdeführer die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, nachdem der ihm zuletzt erteilte Sichtvermerk am abgelaufen war.
2. Dieser Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf § 6 Abs 2 iVm § 13 des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992, idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer habe die Frist zur Stellung eines Verlängerungsantrages versäumt und hätte deshalb einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus stellen müssen; es sei daher die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen des Beschwerdeführers - auch im Zusammenhang mit seinen persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.
3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützte Beschwerde, mit der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.a) Der angefochtene, die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach dem AufG versagende Bescheid greift in das dem Beschwerdeführer, der sich seit nunmehr zehn Jahren in Österreich aufhält, durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.
b) Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).
2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom , B 1611-1614/94, dargelegt hat, ist in den - vom Regelungssystem des § 6 Abs 2 AufG nicht erfaßten - Fällen, in denen sich Fremde zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, abhängig von der jeweiligen Gestaltung des Falles, im Wege der Analogie entweder die Regelung des § 6 Abs 2 erster Satz, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus zu stellen sind, oder aber § 6 Abs 2 zweiter Satz, wonach solche Anträge auch vom Inland aus gestellt werden können, anzuwenden.
3. Die belangte Behörde hat im Fall des Beschwerdeführers, der sich bereits seit zehn Jahren rechtmäßig in Österreich aufgehalten hat und hier auch intensive familiäre Beziehungen aufweist, nur weil er den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit nach dem Ablauf der Geltungsdauer des ihm zuletzt erteilten Sichtvermerkes gestellt hat, die Bestimmung des § 6 Abs 2 erster Satz angewendet und die Aufenthaltsbewilligung, ohne auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers einzugehen, mit der Begründung versagt, der Antrag müsse vom Ausland aus gestellt werden. Sie hat damit dem § 6 Abs 2 AufG einen verfassungswidrigen, weil gegen Art 8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.
Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 3.000,-- S enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.
Fundstelle(n):
BAAAD-93179