OGH vom 11.01.2000, 10ObS184/99b

OGH vom 11.01.2000, 10ObS184/99b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Prof. Dr. Walter Schrammel (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Barbara R*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 312/98h-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 18 Cgs 117/98h-8, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten haben:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab Pflegegeld der Stufe 2 im Betrag von S 3.688 monatlich im Nachhinein am Ersten des Folgemonates zu zahlen.

Das Mehrbegehren der klagenden Partei auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes als jenes der Stufe 2 wird abgewiesen."

Text

Entscheidungsgründe:

Die am geborene Klägerin leidet an einer spastischen Spinalparalyse beider Beine infolge einer genetisch bedingten Erkrankung des Rückenmarks. Innerhalb der Wohnung ist die Klägerin nicht auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen; sie kann sich noch mit Armstützkrücken und orthopädischen Schuhen fortbewegen. Sachen kann sie dabei nur mit einer Umhängetasche tragen. Außerhalb der Wohnung kann sich die Klägerin nur im Rollstuhl fortbewegen.

Die Klägerin kann sich noch selbst an- und ausziehen, Medikamente und Mahlzeiten einnehmen, und bedarf auch für die Verrichtung der Notdurft keiner Hilfe. Mobilitätshilfe im engeren Sinn wird ebenfalls nicht benötigt. Bezüglich der Körperpflege bedarf die Klägerin der Hilfe beim Baden, beim Waschen der Beine und beim Zehennägelschneiden (fünf Monatsstunden). Mahlzeiten kann sich die Klägerin nur im Rollstuhl sitzend zubereiten. Sie ist nicht mehr in der Lage, Nahrungsmittel und Medikamente zu besorgen, die Wohnung und die persönlichen Gebrauchsgegenstände zu reinigen, die Leib- und Bettwäsche zu pflegen und die holzbetriebene Zentralheizung zu bedienen; sie bedarf auch der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Gewährung des Pflegegeldes zu der seit gebührenden Berufsunfähigkeitspension ab.

Dagegen richtet sich die Klage auf Gewährung des Pflegegeldes mindestens der Stufe 3 ab . Die Klägerin bräuchte sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung einen Rollstuhl.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, der Pflegebedarf der Klägerin erreiche nicht das zeitliche Mindestmaß von durchschnittlich mehr als 50 Stunden.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 3 in der Höhe von S 5.690 ab jeweils am Monatsersten im Voraus zu bezahlen; das Mehrbegehren, ein höheres Pflegegeld als Stufe 3 ab zu bezahlen, wies es hingegen ab. Dabei vertrat es unter Zugrundelegung des eingangs wiedergegebenen Sachverhaltes die Rechtsauffassung, dass die Klägerin zur Fortbewegung überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei, weil sie sich außer Haus nur mit dem Rollstuhl fortbewegen könne und auch in der Wohnung bei der Zubreitung von Mahlzeiten einen Rollstuhl benötige. Es gebühre ihr daher ein Pflegegeld der Stufe 3 (§ 8 EinstV [aF]), weil diagnosebezogen von einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden auszugehen sei.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei gegen den klagestattgebenden Teil des Ersturteils, soweit ein höheres Pflegegeld als Stufe 2 zuerkannt wurde, teilweise Folge und änderte das Ersturteil hinsichtlich der Fälligkeit dahin ab, dass das zuerkannte Pflegegeld jeweils erst am Monatsersten im Nachhinein zu zahlen sei. Gemäß § 17 BPGG iVm § 104 Abs 2 ASVG sei das Pflegegeld nicht, wie vom Erstgericht angenommen, im Voraus, sondern monatlich im Nachhinein am Ersten des Folgemonats auszuzahlen. Im Übrigen sei jedoch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes zu billigen. Zwar scheine das Angewiesensein auf einen Rollstuhl zur Fortbewegung nichts mit der Notwendigkeit der Rollstuhlbenützung bei der Zubereitung von Mahlzeiten zu tun zu haben, doch sei die diesbezügliche Sicht der Beklagten zu restriktiv. "Überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen" seien im Sinne des § 8 EinstV (aF) jene Personen, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, die Verrichtungen, zu denen sie sonst Hilfe benötigen würden, eigenständig vorzunehmen. Grundgedanke der Regelung sei demnach nicht nur die Fortbewegung im engeren Sinn, sondern die Erweiterung des Aktionsradius im Sinne einer größeren Selbständigkeit bei den Verrichtungen des täglichen Lebens. Das Erfordernis des Rollstuhles für die Zubereitung von Mahlzeiten falle auch darunter. Die Ansicht der Beklagten, die Zubereitung einer Mahlzeit ausschließlich im Sitzen sei gar nicht möglich, sei nicht begründet; es komme nur auf die entsprechende Gestaltung des Kocharbeitsplatzes an, ob sämtliche für die Zubereitung einer Mahlzeit erforderlichen Handgriffe im Sitzen ausführen zu können. Da die Klägerin somit nicht nur außer Haus, sondern auch innerhalb des Hauses zu gewissen lebensnotwendigen Verrichtungen den Rollstuhl brauche, sei sie insgesamt überwiegend auf den Gebrauch des Rollstuhles angewiesen. Es gebühre ihr daher ein Pflegegeld der Stufe 3.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass der Klägerin lediglich ein Pflegegeld der Stufe 2 ab monatlich im Nachhinein zu zahlen sei und das Mehrbegehren abgewiesen werde.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Strittig ist im Revisionsverfahren nur die Frage, ob die Klägerin, deren Pflegebedarf funktionsbezogen durchschnittlich nicht mehr als 120 Stunden monatlich beträgt, überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist, sodass diagnosebezogen von einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden auszugehen ist und deshalb (anstelle des mittlerweile unstrittigen Pflegegeldes der Stufe 2) ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 besteht.

In der Revision wird argumentiert, dass es bei der Anwendung des § 8 EinstV (aF) darauf ankomme, ob jemand "zur Fortbewegung" auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei; das Zubereiten einer Mahlzeit habe hingegen mit der "Fortbewegung" nichts zu tun. Im Übrigen sei es offenkundig, dass das Zubereiten der Mahlzeit nur im Sitzen nicht möglich sei, zumal das Tragen von Töpfen und Tellern mit heißem Kochgut mit beiden Händen im Rollstuhl sitzend ohne Selbstgefährdung gar nicht denkbar sei. Durch den Gebrauch des Rollstuhles würde, selbst wenn man der Argumentation des Berufungsgerichtes folge, beim Zubereiten von Mahlzeiten der Bewegungs- und Aktionsradius nicht erweitert. Diejenigen Kochtätigkeiten, die ohnehin im Sitzen verrichtet werden können, könnten auch auf einem normalen Sessel sitzend verrichtet werden; diejenigen Tätigkeiten, die Bewegung erfordern, seien hingegen im Rollstuhl nur mit Selbstgefährdung möglich. Aus 10 ObS 134/97x (= SSV-NF 11/57) folge, dass es nicht zumutbar sei, sämtliche bei der Zubereitung einer Mahlzeit anfallenden Tätigkeiten ausschließlich im Sitzen zu verrichten. Der Pflegebedarf der Klägerin sei daher funktionsbezogen zu ermitteln; er liege unter Berücksichtigung von 30 Stunden pro Monat für das Zubereiten von Mahlzeiten bei 85 Stunden monatlich, weshalb der Klägerin lediglich die Pflegestufe 2 gebühre.

Die Revision ist im Ergebnis berechtigt, wobei erübrigt es sich auf die einzelnen von der Revisionswerberin im Einzelnen vorgetragenen Argumente einzugehen. Zu berücksichtigen ist im Hinblick auf die ab in Kraft getretene Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene gerichtliche Verfahren, dass gemäß § 48 Abs 1 BPGG für die Zeit bis zum für die Beurteilung des Anspruches der Klägerin die Bestimmungen des § 4 BPGG vor der Novelle samt EinstV BGBl 1993/314 zu Grunde zu legen sind (10 ObS 372/97x; 10 ObS 410/98m), während für die Zeit ab dem der Anspruch hingegen nach der neuen Rechtslage zu beurteilen ist, wobei allerdings die zitierte EinstV erst mit Wirksamkeit vom aufgehoben und durch die neue EinstV BGBl II 1999/37 ersetzt wurde.

Weder die Anwendung der alten noch der neuen Rechtslage führt zu der von den Vorinstanzen vorgenommenen diagnosebezogenen Einstufung der Klägerin:

Sowohl nach alter Rechtslage (§ 8 EinstV BGBl 1993/314) als auch nach neuer Rechtslage (§ 4a BPGG idF BGBl I 1998/111) kommt eine solche diagnosebezogene Einstufung - abgesehen vom nunmehr nach neuer Rechtslage auch verlangten Erfordernis des Vorliegens ganz bestimmter, taxativ aufgezählter Diagnosen - nur bei solchen Personen in Betracht, die zur eigenständigen Lebensführung "überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen" sind. Nach den maßgeblichen Feststellungen kann sich die Klägerin außerhalb der Wohnung nur im Rollstuhl fortbewegen. In der Wohnung ist die Klägerin nach den Feststellungen nicht auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen, sondern kann sich - wenn auch mühsam - mit Armstützkrücken und orthopädischen Schuhen fortbewegen. Aus den Feststellungen ist abzuleiten, dass die pflegegeldrelevanten Verrichtungen im Wohnbereich, die die Klägerin teils verrichten, teils nicht verrichten kann, vom Gebrauch bzw nicht Gebrauch eines Rollstuhles nicht weiter tangiert werden. Lediglich die Zubereitung der Mahlzeiten wird vom Gebrauch eines Rollstuhles positiv beeinflusst, weil die Klägerin nach den bindenden Feststellungen des Erstgerichtes "Mahlzeiten ... nur im Rollstuhl zubereiten" kann. Auf die rechtlichen Überlegungen der Revisionswerberin, die diese Feststellung negieren und davon ausgehen, die Zubereitung von Mahlzeiten im Rollstuhl wäre weder möglich noch zumutbar, kann daher nicht weiter eingegangen werden, weil sie keine gesetzmäßige Rechtsrüge begründen (Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 9 zu § 471). Darauf kommt es hier jedoch ohnehin nicht an.

§ 8 EinstV aF wurden vor allem jene Personen unterstellt, die mit Hilfe des Rollstuhles ihren Bewegungsradius erweitern können und dadurch in die Lage versetzt werden, Verrichtungen wie sie in den §§ 1 und 2 EinStv vorgesehen sind, (weitgehend) eigenständig vorzunehmen (Pfeil, BPGG 100; DRdA 1997/45 [Pfeil]; 10 ObS 127/97t). Schon zur alten Rechtslage nach der EinstV aF und noch deutlicher zur neuen Rechtslage nach § 4a BPGG ist davon auszugehen, dass eine derart schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, welche ein überwiegendes Angewiesensein auf den Gebrauch des Rollstuhles rechtfertigt, nur dann vorliegt, wenn der Pflegebedürftige zur Fortbewegung "innerhalb und außerhalb der Wohnung" hierauf angewiesen wäre (so ausdrücklich auch die Materialien zur neuen Gesetzesbestimmung: RV 1186 BlgNR 20. GP 12). Schon auf Grund dieser (feststellungsmäßig durch die Tatsacheninstanzen abgesicherten) Gegebenheiten liegen die Voraussetzungen einer - wie von den Vorinstanzen angenommen - rein diagnosebezogenen Einstufung der Klägerin als einer überwiegend auf einen Rollstuhl angewiesenen Pflegebedürftigen nicht vor. Die gelegentliche Fortbewegung außerhalb der Wohnung im Rollstuhl (vgl 10 ObS 165/99h) fällt selbst unter Berücksichtigung auch des Aufwandes von einer Stunde täglich für die Zubereitung von Mahlzeiten "im Rollstuhl" gegenüber jenen pflegegeldrelevanten Verrichtungen, die die Klägerin innerhalb der Wohnung ohne Rollstuhl täglich bewältigen kann nicht so ins Gewicht, dass von einem überwiegenden Angewiesensein der Klägerin auf einen Rollstuhl gesprochen werden könnte. Auf die Frage, ob das vom Erstgericht festgestellte Zustandsbild der Klägerin ("spastische Spinalparalyse") aus einer der in § 4a Abs 1 BPGG genannten Diagnosen resultiert, braucht daher nicht eingegangen werden.

Damit kommt aber dem Umstand maßgebliche Bedeutung zu, dass der funktionsbezogen ermittelte monatliche Gesamtpflegebedarf von (unstrittig) 85 Stunden pflegestufenenscheidend ist. Sowohl nach alter als auch nach neuer Rechtslage besteht ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 erst bei einem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich (§ 4 Abs 2 BPGG). Daraus folgt - zusammenfassend -, dass die Klägerin sowohl nach der alten als auch nach der neuen Rechtslage Anspruch nur auf Pflegegeld der Stufe 2 hat, während ein Anspruch auf ein höheres Pflegegeld nicht zu Recht besteht. Der Revision der Beklagten war damit Folge zu geben.