OGH vom 20.06.2012, 9ObA102/11g
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf und Hon. Prof. Dr. Kuras sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger und KR Karl Frint als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, Kremser Landstraße 3, 3100 St. Pölten, vertreten durch die Nusterer Mayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei L***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Leopold Boyer, Rechtsanwalt in Zistersdorf, wegen 27.769,42 EUR sA und Feststellung (Streitwert 2.500 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Ra 21/11h 23, womit das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 9 Cga 69/09h 17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Am wurde ein bei der Beklagten beschäftigter Arbeiter bei einem Arbeitsunfall am linken Arm schwer verletzt, als er im Zuge von Reinigungsarbeiten (Wegschaufeln von Dreck) in eine ungesicherte Umlenkrolle einer Schottersiebanlage geriet. Ein Schutzgitter hätte den Unfall verhindern können. Der klagende Sozialversicherungsträger vertritt den Standpunkt, dass der Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit der Beklagten verursacht worden sei, und fordert von ihr gemäß § 334 Abs 1 ASVG Ersatz der an den Verletzten erbrachten Leistungen sowie die Feststellung der Haftung. Die Vorinstanzen gingen übereinstimmend davon aus, dass die Beklagte den Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht habe, und gaben dem Klagebegehren statt.
Die Beklagte wendet sich in ihrer außerordentlichen Revision gegen die Annahme grober Fahrlässigkeit und fordert die Berücksichtigung der Mitverantwortlichkeit des Geschädigten. Wenn der Arbeitgeber nicht mit einem Verhalten des Arbeitnehmers zu rechnen brauche, das zum Unfall führe, könne man nicht von grober Fahrlässigkeit ausgehen. Eine erhebliche Rechtsfrage liege insoweit vor, weil das Berufungsgericht zu dieser Frage keine Antwort geliefert habe, obwohl von der alleinigen Verantwortung des verletzten Arbeitnehmers auszugehen sei. Die Annahme groben Verschuldens der Beklagten begründe einen Wertungswiderspruch. Das Berufungsgericht weiche von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der groben Fahrlässigkeit ab. Die Revision sei daher zuzulassen.
Rechtliche Beurteilung
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist die Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nur dann zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist. Dies ist hier nicht der Fall.
Die Beklagte stellt nicht in Frage, dass der Arbeitgeber, der einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht, nach § 334 Abs 1 ASVG den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Gesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen hat. Die mangelnde Sicherung der die schweren Armverletzungen des Arbeiters verursachenden Umlenkrolle durch ein Schutzgitter stellt grundsätzlich eine dem Arbeitgeber zurechenbare Verletzung der einschlägigen Arbeitnehmerschutzvorschriften dar (siehe insbesondere die §§ 27, 43 Arbeitsmittelverordnung, BGBl II 2000/164). Wenn auch § 334 Abs 3 ASVG bestimmt, dass durch ein Mitverschulden des Versicherten die Haftung des Arbeitgebers gemäß § 334 Abs 1 ASVG weder aufgehoben noch gemindert wird, so ist die Auffassung der Beklagten richtig, dass ein allfälliges Mitverschulden des Versicherten bei der Beurteilung, ob der Arbeitsunfall durch eine grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers verursacht wurde, mitzuberücksichtigen ist (2 Ob 104/67 = SZ 40/55 ua). Dies wurde in der Berufungsentscheidung aber ohnehin beachtet.
Das Berufungsgericht setzte sich ausführlich mit der einschlägigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auseinander. Zutreffend hob es hervor, dass die Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften noch nicht per se ein grobes Verschulden begründet (RIS Justiz RS0052197 ua). Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber jene Aufmerksamkeit außer Acht gelassen hat, die in einem Betrieb der in Betracht kommenden Art im Interesse der Unfallverhütung erwartet werden muss (RIS Justiz RS0085463 ua). Wegen ihrer Einzelfallbezogenheit kann die Beurteilung des Verschuldensgrades regelmäßig nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RIS Justiz RS0087606 ua).
Warum die Beklagte meint, sie habe mit dem Unfall nicht rechnen müssen, ist nicht verständlich. Sie hebt selbst hervor, dass der Verletzte an der gegenständlichen Schottersiebanlage allein gearbeitet hat. Feststeht, dass die Anlage nur bei großen Wartungsarbeiten abgeschaltet wurde. Bei den üblichen Kontrollrundgängen des später Verletzten und wenn nicht zu viel Dreck wegzuschaufeln war, blieb die Anlage in Betrieb. Dass es nach der Art des Betriebs der Anlage - früher oder später - durch Unachtsamkeit zu einem ungewollten Kontakt mit der laufenden ungesicherten Umlenkrolle kommen kann, ist daher nicht etwas, womit die Beklagte „überhaupt nicht rechnen musste“. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte nach der Lage des Falls mangels Sicherung der Umlenkrolle durch ein Schutzgitter grobe Fahrlässigkeit zu verantworten habe, ist daher nicht unvertretbar.
Von einer Gefährdung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit durch die Berufungsentscheidung kann keine Rede sein. Es liegt auch kein „Wertungswiderspruch“ vor. Die Beurteilung des Berufungsgerichts bewegt sich vielmehr im Rahmen des bei der Beurteilung des Verschuldensgrades eingeräumten richterlichen Ermessens. Die Annahme, dass die Beklagte den gegenständlichen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht habe, weicht nicht von der einschlägigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab, insbesondere auch nicht von den von der Revisionswerberin genannten Entscheidungen. Sowohl in 2 Ob 104/67 (= SZ 40/55) als auch in 9 ObA 143/91 hielt der Oberste Gerichtshof ausdrücklich fest, dass § 334 Abs 3 ASVG nicht ausschließt, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mitberücksichtigt wird. Dieser Grundsatz wurde vom Berufungsgericht ohnehin zugrundegelegt. Letztlich war aber entscheidend, dass im vorliegenden Fall kein so gravierendes Mitverschulden des Verletzten hervorgekommen ist, das etwas am hervorgekommenen groben Verschulden des Arbeitgebers ändern würde. Der Umstand, dass in anderen Fällen der zu entscheidende Sachverhalt die Beurteilung zuließ, dass ein Schaden noch nicht als wahrscheinlich angesehen werden konnte, unterstreicht die Einzelfallbezogenheit der Beurteilung des Verschuldensgrades. Für den Standpunkt der Beklagten bei der Beurteilung des gegenständlichen Sachverhalts ist daraus aber nichts Entscheidendes zu gewinnen.
Mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).