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VfGH vom 13.12.2001, b227/99

VfGH vom 13.12.2001, b227/99

Sammlungsnummer

16402

Leitsatz

Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf eine mündliche Verhandlung vor einem unparteiischen Tribunal durch Unterlassung der Durchführung einer (volks)öffentlichen Verhandlung im Verfahren vor der Landes-Grundverkehrskommission; Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung wie zB im Fall Ringeisen aufgrund der Rechtsansicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte über die Ungültigkeit des österreichischen Vorbehalts zu Art 6 EMRK

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem unparteiischen Tribunal im Sinne des Art 6 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 29.500,- (€ 2143,85) bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Schriftsatz vom beantragte der Beschwerdeführer beim Landesgrundverkehrsreferenten die Erteilung einer Bieterbewilligung gemäß § 20 Abs 3 Tiroler Grundverkehrsgesetz 1996 (TGVG 1996) für die am beim Bezirksgericht Kitzbühel stattfindende Wiederversteigerung eines Grundstückes. Mit Bescheid vom versagte der Landesgrundverkehrsreferent die Bieterbewilligung. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid der Landes-Grundverkehrskommission vom - ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung - abgewiesen. Die beantragte Bieterbewilligung sei nicht zu erteilen, da dies den Vorschriften des § 6 Abs 1 lita und b TGVG 1996 widersprechen würde.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.

3. Die Beschwerde rügt eine Verletzung des Rechtes auf "ein gerichtliches und öffentliches Verfahren in Zivilsachen" (Art6 Abs 1 EMRK). Verfahren betreffend die Genehmigung von Rechtsgeschäften durch die Grundverkehrsbehörden seien als Verfahren, die zivile Rechte betreffen und damit in den Schutzbereich dieses Grundrechtes fallen, qualifiziert worden. Gleiches müsse daher für die zum Eigentumserwerb im Rahmen einer Versteigerung erforderliche Bieterbewilligung gelten. Art 6 Abs 1 EMRK verlange unter anderem, daß die Entscheidung des Tribunals öffentlich gefaßt und das Urteil verkündet werde. Der belangten Behörde könne zwar die Qualität eines Tribunals beigemessen werden, allerdings sei keine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt worden. Der Beschwerdeführer habe auf diese Verhandlung auch nicht verzichtet. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof könne die fehlende Verhandlung in der zweiten Instanz nicht ersetzen, zumal dem Verfassungsgerichtshof lediglich kassatorische Entscheidungsbefugnis zukomme und das Höchstgericht den Bescheid nicht "allumfassend" zu prüfen habe, sondern lediglich im Hinblick auf allfällige Verfassungswidrigkeiten.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Art 6 Abs 1 EMRK lautet:

"Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muß öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozeßparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang."

Österreich hat zu dieser Bestimmung einen Vorbehalt gemäß Art 64 EMRK (nunmehr Art 57 EMRK) abgegeben. Dieser Vorbehalt besagt,

"... daß ... die Bestimmungen des Artikels 6 der Konvention

mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in Artikel 90 des

Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 festgelegten

Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in

keiner Weise beeinträchtigt werden ... ".

Art 90 Abs 1 B-VG lautet:

"Die Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden Gericht sind mündlich und öffentlich. Ausnahmen bestimmt das Gesetz."

2. Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis VfSlg. 7208/1973 in Übereinstimmung mit der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Ringeisen (, Serie A 13, § 98) geäußerten Rechtsansicht die Auffassung vertreten, Art 6 EMRK gebiete nicht die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung in Verwaltungsangelegenheiten, weil der von Österreich hiezu bezüglich des gerichtlichen Verfahrens gemachte Vorbehalt auch für Verfahren gelte, die vor einem Tribunal im Sinne des Art 6 EMRK durchgeführt würden.

Art 90 Abs 1 B-VG bezieht sich zwar dem Wortlaut nach lediglich auf die Öffentlichkeit von Verhandlungen in Zivil- und Strafsachen vor Gerichten. Der Verfassungsgerichtshof hat bisher jedoch folgende Rechtsansicht vertreten:

"Der aus diesem Vorbehalt gezogene Größenschluß besagt lediglich, daß Art 6 EMRK, wenn er schon der gesetzlichen Normierung von Ausnahmen vom (verfassungsgesetzlich festgelegten) Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlungen in gerichtlichen Verfahren betreffend Zivil- und Strafsachen nicht entgegensteht, umsoweniger gesetzliche Regelungen ausschließt, die für Verwaltungsverfahren (auch vor Tribunalen im Sinne des Art 6 EMRK) den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit festlegen." (VfSlg. 11855/1988)

Bisher sah der Verfassungsgerichtshof keinen Anlaß, von dieser Judikatur abzugehen (VfSlg. 13432/1993, 14210/1995, 15081/1998), zumal die dieser Judikatur zugrundeliegende Auffassung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Ettl (Urteil vom , ÖJZ 1988/2) ausdrücklich geteilt wurde.

3. Im Fall Eisenstecken gegen Österreich (Urteil vom , ÖJZ 2001/7) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nunmehr allerdings - von seiner früheren Rechtsprechung abgehend - den österreichischen Vorbehalt zu Art 6 EMRK ausdrücklich als ungültig angesehen.

3.1. Es handelte sich um ein - nach dem AVG durchgeführtes - Verfahren zur Erteilung einer grundverkehrsbehördlichen Genehmigung, in dessen Verlauf die angefochtene Entscheidung von der Landes-Grundverkehrskommission in nichtöffentlicher Sitzung getroffen wurde. Der Verfassungsgerichtshof wies die gegen den letztinstanzlichen Bescheid erhobene Beschwerde ab (VfSlg. 14010/1995), worauf der Beschwerdeführer den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung des Art 6 EMRK anrief.

3.2. Zur Gültigkeit des österreichischen Vorbehalts vertrat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte folgende Ansicht: Der Vorbehalt enthalte keine "kurze Inhaltsangabe" des Gesetzes, von dem gesagt werde, daß es nicht mit Art 6 EMRK übereinstimme. Ein Vorbehalt, welcher lediglich auf eine ermächtigende, nicht erschöpfend formulierte Bestimmung der Verfassung Bezug nehme und welcher nicht auf diejenigen besonderen Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung Bezug nehme, welche öffentliche Verfahren ausschlössen, biete nicht in ausreichendem Maß eine Garantie, daß er nicht über die (von Österreich) ausdrücklich ausgeschlossenen Bestimmungen hinausgehe (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Eisenstecken, , ÖJZ 2001/7, Rz 29). Der Vorbehalt entspreche daher nicht den Voraussetzungen des Art 57 Abs 2 EMRK und sei ungültig.

Weiters vertrat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ansicht, daß es irrelevant sei, ob der Beschwerdeführer eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren beantragt habe oder nicht, weil mündliche Verhandlungen nach § 40 Abs 1 AVG jedenfalls nicht öffentlich seien. Er sprach aus, daß der Beschwerdeführer grundsätzlich ein Recht auf eine Verhandlung nach Art 6 Abs 1 EMRK gehabt hätte, weil keine der Ausnahmen, die dort festgelegt worden seien, auf den Fall anwendbar gewesen wäre.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam zum Schluß, daß durch das Unterlassen der Grundverkehrsbehörden, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden sei.

4. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich nunmehr gehalten, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in dessen neuer Bewertung des österreichischen Vorbehaltes zu Art 6 Abs 1 EMRK zu folgen.

5.1. Die Ungültigkeit des österreichischen Vorbehalts zu Art 6 Abs 1 EMRK hat zur Folge, daß in Verwaltungsverfahren, in welchen über den "Kernbereich" von civil rights abgesprochen wird, eine (volks)öffentliche Verhandlung vor einem Tribunal durchzuführen ist. Einschränkungen der Öffentlichkeit dürfen hier nur vorgesehen werden, soweit Art 6 EMRK dies zuläßt.

5.2. Bei Verfahren betreffend die grundverkehrsbehördliche Genehmigung von Rechtsgeschäften oder die Erteilung der Bieterbewilligung steht außer Zweifel, daß es sich um Verfahren handelt, die civil rights in ihrem "Kernbereich" berühren (vgl. zur Feststellung, daß grundverkehrsbehördliche Verfahren civil rights berühren und daher ein Art 6 EMRK entsprechendes Tribunal zu entscheiden hat VfSlg. 11131/1986, 11211/1987, 12074/1989, 13209/1992, 14109/1995).

6.1. Im Verwaltungsverfahren nach dem AVG - das im grundverkehrsbehördlichen Verfahren anzuwenden ist (ArtII Abs 2 Z 17 EGVG) - können die Verwaltungsbehörden gemäß § 39 Abs 2 AVG eine mündliche Verhandlung anordnen. Nähere Vorschriften über den Ablauf der mündlichen Verhandlung finden sich in den §§40 ff. AVG.

Das TGVG 1996 idF LGBl. 59/1997 enthält keine Bestimmungen bezüglich der Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Mit der Novelle LGBl. 75/1999 zum TGVG 1996 wurde jedoch Abs 6 in § 28 eingefügt. Nach dieser Bestimmung hat die Landes-Grundverkehrskommission unter bestimmten Voraussetzungen eine öffentliche mündliche Verhandlung anzuberaumen. Die Novelle, welche am in Kraft trat, ist für den vorliegenden Fall nicht relevant.

6.2. Der Verfassungsgerichtshof ging bisher davon aus, daß das AVG (abgesehen von 67 d AVG) keine (volks)öffentlichen Verhandlungen kenne und für die mündlichen Verhandlungen (nur) Parteiöffentlichkeit vorsehe (VfSlg. 6808/1972). Das AVG enthält jedoch keine Bestimmung, die es ausschlösse, in den von Art 6 EMRK geforderten Fällen eine (volks)öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

6.3. Im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Eisenstecken war die belangte Behörde verpflichtet, gemäß Art 6 Abs 1 EMRK eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Für diese hat - abgesehen von den nach Art 6 Abs 1 EMRK zulässigen Ausnahmen - der Grundsatz der Volksöffentlichkeit zu gelten.

Da es die Landes-Grundverkehrskommission unterlassen hat, eine (volks)öffentliche Verhandlung durchzuführen, liegt eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK vor. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf eine mündliche Verhandlung vor einem unparteiischen Tribunal aufzuheben. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen.

7. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Verfahrenskosten sind S 4500,- (€ 327,03) an Umsatzsteuer sowie der Ersatz der gemäß § 17a VerfGG zu entrichtenden Gebühr von S 2500,- (€ 181,68) enthalten.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.