OGH vom 27.01.2009, 10Ob87/08d
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Celine P*****, geboren am , *****, vertreten durch das Land Oberösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Linz-Land, 4020 Linz, Kärntnerstraße 16), über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 248/08h-U19, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, der Beschluss des Bezirksgerichts Traun vom , GZ 1 P 18/08x-U1, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom , GZ 1 P 18/08x-U7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts in der berichtigten Fassung wiederhergestellt wird.
Text
Begründung:
Die am geborene Celine P***** ist das Kind von Eileen und Marco P*****. Die Minderjährige und ihre Eltern sind deutsche Staatsbürger. Jedenfalls zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz lebte die Minderjährige bei ihrer Mutter in Österreich, wo die Mutter als Arbeitnehmerin beschäftigt und daher auch sozialversichert war. Der Vater lebt in Deutschland und bezieht dort Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach deutschem SGB
II.
Am beantragte die Minderjährige die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Höhe von 245 EUR monatlich. Der Vater sei aufgrund einer vor dem Jugendamt der Stadt R***** abgeschlossenen Vereinbarung vom zur Unterhaltsleistung in dieser Höhe verpflichtet. Die Führung einer Exekution erscheine aussichtslos, weil weder im Inland noch im Ausland ein pfändbares Einkommen oder verwertbares Vermögen des Unterhaltsschuldners bekannt sei. Der Unterhaltsschuldner stehe in keinem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Die Minderjährige und ihre obsorgeberechtigte Mutter seien EU-Bürger. Da die Mutter in Österreich einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehe, falle sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71. Die Minderjährige habe daher in Österreich Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Das Erstgericht bewilligte der Minderjährigen monatliche Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Höhe von 245 EUR monatlich für die Zeit vom bis . Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahin ab, dass es den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abwies. Strittig sei, ob die Antragstellerin nach den Bestimmungen der VO 1408/71 Anspruch auf Unterhaltsvorschuss habe. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung falle eine Person, die zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des § Art Abs 1 iVm Art 1 lit f Z 1 der Verordnung sei. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g) knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 sei für das Bestehen eines solchen Anspruchs jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei. Danach habe ein im Inland aufhältiges Kind als Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats und Familienangehöriger eines nur in diesem Mitgliedstaat berufstätigen und allein dort in das System sozialer Sicherheit eingebundenen Geldunterhaltsschuldner keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse. Die Unterhaltsvorschüsse substituierten Geldleistungen des säumigen Unterhaltsschuldners. Das Kind, das im Haushalt seiner Mutter lebe und deshalb dieser gegenüber keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen habe, falle nur in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger des Vaters (Geldschuldners) in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71. Da der geldunterhaltspflichtige Vater als Bezieher von Leistungen nach dem deutschen Sozialgesetzbuch ausschließlich in das System sozialer Sicherheit in Deutschland eingebunden sei, habe die Antragstellerin keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gemäß § 62 Abs 1 AußStrG zulässig sei, weil die zitierte jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen abweiche und im vorliegenden Fall die Mutter der Antragstellerin - abweichend von den zu 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g entschiedenen Fällen - in Österreich als Arbeitnehmerin beschäftigt und damit in das österreichische Sozialversicherungssystem eingebunden sei. Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragstattgebenden Entscheidung des Erstgerichts.
Der Präsident des Oberlandesgerichts Linz als Vertreter des Bundes, der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.
Die Revisionsrekurswerberin verweist im Wesentlichen auf die frühere ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach alle in Österreich aufhältigen EWR-Bürger unter denselben Voraussetzungen wie inländische Kinder Ansprüche auf Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG hätten, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fielen. Dabei reiche es für den Anspruch des Kindes, wenn es zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger sei und sich als solcher innerhalb des EWR-Raums bewege. Der Anspruch könne daher auch von der obsorgeberechtigten Mutter, bei der das Kind lebe, abgeleitet werden. Da die Mutter der Minderjährigen im vorliegenden Fall in Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit Arbeitnehmerin in Österreich sei, könne das Kind als deren Angehörige den Anspruch auch von ihr ableiten. Die Mutter der Antragstellerin sei als Arbeitnehmerin in das österreichische Sozialversicherungssystem eingebunden. Insoweit unterscheide sich der gegenständliche Fall von den in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g beurteilten Sachverhalten. Es sei daher aufgrund der Erwerbstätigkeit der Mutter in Österreich gemäß Art 10 Abs 1 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 Österreich vorrangig für die Zahlung von Familienleistungen (Unterhaltsvorschuss) zuständig.
Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat zu dem von der Antragstellerin (allein) auf die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 idgF (im Folgenden: VO 1408/71) gestützten Anspruch auf Unterhaltsvorschuss Folgendes erwogen:
1. Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschriften der VO 1408/71 weiterhin in Geltung stehen, da bisher noch keine Durchführungsverordnung zu der Verordnung (EG) Nr 883/2004 erlassen worden ist (vgl RIS-Justiz RS0121167 ua).
2. Weiters steht aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (vgl , C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261; , C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205; , C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553) unbestritten fest, dass der von der Antragstellerin beanspruchte Unterhaltsvorschuss nach dem UVG eine Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 ist und damit in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.
3.1. Der persönliche Geltungsbereich der VO 1408/71 wird in ihrem Art 2 festgelegt. In dessen Abs 1 wird bestimmt, dass die Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene gilt. Der Begriff „Familienangehöriger" wird in Art 1 lit f Z i der VO definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl EuGH, , C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 34 mwN), kommt es für die unterhaltsberechtigte Antragstellerin, um in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 zu fallen, nur mehr darauf an, ob sie ihre Stellung von einem Elternteil ableiten kann (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom , C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 55 ua). Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn die Antragstellerin als Familienangehörige eines Arbeitnehmers, Selbständigen oder Studierenden anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i der VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (EuGH, , C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205 Rz 54; RIS-Justiz RS0116311). Dieser Grundsatz wurde auch in der vom Rekursgericht zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y) ausdrücklich aufrecht erhalten. Der Begriff des „Arbeitnehmers" wird in Art 1 lit a Z i der VO 1408/71 definiert. Danach besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der VO 1408/71, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
3.2. Im vorliegenden Fall war die Mutter der Antragstellerin, mit der sie in häuslicher Gemeinschaft lebt, nach den Feststellungen der Vorinstanzen jedenfalls zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz unselbständig erwerbstätig. Als Erwerbstätige, die einem Zweig der sozialen Sicherheit im Sinne des Art 4 der VO 1408/71 untersteht, fällt sie in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 und damit auch die Antragstellerin als ihr Kind (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom , C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 56 f). Es ist daher im vorliegenden Fall für die Frage des persönlichen Geltungsbereichs der VO 1408/71 nicht mehr entscheidend, ob auch der unterhaltspflichtige Vater der Antragstellerin, der in Deutschland Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bezieht, seiner Tochter den Status einer Familienangehörigen im Sinne der VO 1408/71 vermittelt. Die Frage, ob die Antragstellerin ihre Rechtsstellung gegebenenfalls auch von ihrem Vater ableiten könnte, muss daher in diesem Zusammenhang nicht mehr geprüft werden. Für die Anspruchsberechtigung nach der VO 1408/71 ist daher neben der Familienangehörigen-Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO 1408/71 erfasste Gruppe (Arbeitnehmer, Selbständige, Arbeitslose und Studenten) fällt (vgl Neumayr in Schwimann, ABGB3 § 1 UVG Rz 23). Diese Frage ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf die unbestritten vorliegende Arbeitnehmereigenschaft der Mutter der Antragstellerin zu bejahen.
4.1. Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Diese Voraussetzung ist dahin zu verstehen, dass eine Anwendung der Vorschriften über die Koordination von Leistungen der sozialen Sicherheit nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht kommt. Der danach als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt also voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (vgl Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN; RIS-Justiz RS0117828 [T1] ua). Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 20 mwN).
4.2. Der grenzüberschreitende Gesichtspunkt besteht im vorliegenden Fall darin, dass die Mutter, bei der sich die Antragstellerin aufhält, eine deutsche Staatsangehörige ist, die jedenfalls im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz in Österreich gearbeitet hat, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.
4.3. Als Ergebnis der bisher dargelegten Erwägungen ist daher festzuhalten, dass der zur Beurteilung stehende Sachverhalt sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht der VO 1408/71 unterliegt.
5. Nach Art 3 Abs 1 VO 1408/71 haben die Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, „soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen". Auch dieses Gleichbehandlungsgebot, das dazu dient, Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu beseitigen, die sich aus Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines einzelnen Mitgliedstaats ergeben, führt daher nicht zum Verbot einer unterschiedlichen Behandlung, die sich gegebenenfalls aus Unterschieden der aufgrund von Kollisionsnormen wie Art 13 Abs 2 VO 1408/71 anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften über Familienleistungen ergibt (, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 51; 4 Ob 4/07b).
6.1. Es ist daher im Folgenden zu prüfen, ob auf die Antragstellerin, die jedenfalls zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz gemeinsam mit ihrer Mutter in Österreich wohnte, das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz oder im Hinblick auf den Wohnort des Vaters (Geldunterhaltsschuldners) in Deutschland das deutsche Unterhaltsvorschussgesetz anzuwenden ist.
6.2. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für Familienleistungen und damit für den österreichischen Unterhaltsvorschuss richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff der VO 1408/71. Ziel dieser Bestimmungen ist es, dass jede Person einer einzigen bestimmten Sozialrechtsordnung unterliegt; es sollen daher durch die Verordnung weder Versicherungslücken noch Doppelversicherungen oder Doppelleistungen entstehen (vgl Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 13 VO 1408/71 Rz 1).
6.3. Gemäß Art 13 Abs 1 VO 1408/71 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; dieser ist nach Titel II der Verordnung zu bestimmen. Gemäß Art 13 Abs 2 lit a VO 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Gemäß Art 73 der VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates (Beschäftigungsstaat), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten. Dabei werden Familienleistungen gemäß Art 75 Abs 1 der VO 1408/71 in dem in Art 73 dieser Verordnung genannten Fall vom zuständigen Träger des Staats gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten. Sie werden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.
6.4. In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g) wurde die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.
6.5. Dieser Ansicht, die, wie im Revisionsrekurs zutreffend geltend gemacht wird, in Widerspruch zur früheren Judikatur des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) steht, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Es ist nach den zitierten Kollisionsnormen der VO 1408/71 vielmehr davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer ist im Rahmen der VO 1408/71 grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht (vgl Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom , C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 32 f). Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit den oben dargelegten Ausführungen, wonach sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, in Widerspruch stehen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 39).
6.6. Im vorliegenden Fall unterliegt die nach dem Akteninhalt zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz nur in Österreich unselbständig tätig gewesene Antragstellerin nach den dargestellten Kollisionsnormen allein österreichischem Recht. Ausgehend davon hat die Antragstellerin einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz.
7. An diesem Ergebnis würde sich auch nichts ändern, wenn der Vater der Antragstellerin ebenfalls von seinem Recht auf Freizügigkeit bereits Gebrauch gemacht, daher ebenfalls als Arbeitnehmer im Sinne der VO 1408/71 anzusehen wäre und die Antragstellerin im Hinblick auf Art 73 dieser Verordnung auch nach deutschem Recht Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätte. Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, sieht die VO 1408/71 die Prioritätsregeln des Art 76 dieser Verordnung sowie des Art 10 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 (im Folgenden: VO 574/72) vor. In Art 76 Abs 1 der VO 1408/71 ist der allgemeine Grundsatz festgelegt, dass im Fall einer Kumulierung von Familienleistungen aufgrund einer beruflichen Tätigkeit aus dem Wohnsitzstaat der Familienangehörigen und von Familienleistungen aus dem Beschäftigungsstaat, in dem die Berufstätigkeit ausgeübt wird, die Familienleistungen des Beschäftigungsstaats bis zur Höhe der Familienleistungen des Wohnsitzstaats ausgesetzt werden. Damit besteht eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats von einer Berufstätigkeit abhängen (Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 76 VO 1408/71 Rz 3). Art 76 Abs 1 VO 1408/71 wäre in Bezug auf den österreichischen Unterhaltsvorschuss aber nicht einschlägig, weil nach österreichischem Recht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss unabhängig von einer Erwerbstätigkeit gebührt. Es wäre daher die Prioritätsregelung in Form des Wohnortstaatprinzips des Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 heranzuziehen: Unterliegen die Eltern den Rechtsvorschriften verschiedener Staaten (Art 13 ff VO 1408/71), so ist demnach für die Familienleistungen vorrangig jener der beiden Staaten zuständig, in welchem sich die Familie mit dem Kind ständig aufhält (Wohnortstaatprinzip). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind (vgl Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 ff [25] mwN). Selbst wenn daher im vorliegenden Fall der Vater der Antragstellerin in Deutschland erwerbstätig wäre, wäre nach der zutreffenden Rechtsansicht der Revisionsrekurswerberin Österreich, wo die Mutter der Antragstellerin im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erster Instanz erwerbstätig war und die Antragstellerin lebte, für die Gewährung des Unterhaltsvorschusses vorrangig leistungszuständig (vgl Neumayr aaO § 1 UVG Rz 41). Ob der Vater der Antragstellerin in Deutschland „Arbeitnehmer" im Sinn der VO 1408/71 ist und die Antragstellerin in Deutschland ebenfalls Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse hätte, braucht daher im vorliegenden Fall im Hinblick auf die dargestellte Rechtslage nicht geprüft zu werden (vgl 9 Ob 157/02g).
8. Da die Entscheidung über den Vorschussantrag auf der Sachverhaltsgrundlage zu fällen ist, die im Entscheidungszeitpunkt erster Instanz vorlag (vgl Neumayr aaO § 11 UVG Rz 14 sowie § 13 UVG Rz 1 mwN), hat das Erstgericht die beantragten Vorschüsse aufgrund der dargelegten Erwägungen im Ergebnis zu Recht gewährt. Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses der Minderjährigen spruchgemäß zu entscheiden.
9. Nach der vom Jugendwohlfahrtsträger in Entsprechung dessen Mitteilungspflicht nach § 21 UVG erstatteten Bekanntgabe vom 6. 11. bzw (ON 26 und 29) sind die Mutter und die Minderjährige seit nunmehr in Deutschland wohnhaft. Da jedoch im Revisionsrekursverfahren weiterhin das Neuerungsverbot besteht und daher auf neue Tatsachen und Beweismittel grundsätzlich nicht Bedacht zu nehmen ist (vgl Fucik/Kloiber, AußStrG § 66 Rz 7 mwN), bleibt die Beurteilung der Frage, ob dieser Umstand sowie eine damit offenbar verbundene Beendigung der Beschäftigung der Mutter in Österreich einen Grund für eine amtswegige Einstellung der Vorschüsse nach § 20 UVG bildet, dem Erstgericht überlassen.