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OGH vom 13.08.2008, 14Os108/08a

OGH vom 13.08.2008, 14Os108/08a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Puttinger als Schriftführer in der Strafsache gegen Dieter D***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall und 15 StGB und einer anderen strafbaren Handlung, AZ 32 HR 20/08b des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Johann L***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom , AZ 18 Bs 223/08p (ON 98), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Johann L***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe :

Mit Beschluss der Einzelrichterin im Ermittlungsverfahren des Landesgerichts Wiener Neustadt vom , GZ 32 HR 20/08b-87, wurde die über Johann L***** am verhängte (ON 23) und bereits wiederholt fortgesetzte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO neuerlich fortgesetzt.

Einer dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom , AZ 18 Bs 223/08p (ON 98), keine Folge und ordnete seinerseits die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem schon vom Erstgericht angenommenen Haftgrund der Tatbegehungsgefahr mit Wirksamkeit bis an.

Nach den - teilweise durch ausdrücklich identifizierenden Verweis auf die Vorentscheidung vom , AZ 18 Bs 76/08w, und den angefochtenen erstgerichtlichen Beschluss getroffenen (BS 3) - Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts ist Johann L***** (unter anderem) dringend verdächtig, zwischen Jänner 2005 und Oktober 2007 in Wiener Neustadt und Wien im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit den Mitbeschuldigten Dieter D*****, Rudolf S***** und Helmut H***** mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz und in der Absicht, sich durch wiederkehrende Begehung von Betrug mit einem 3.000 Euro übersteigendem Schaden eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, eine Mehrzahl von Personen durch Täuschung über seine (Rück-)Zahlungsfähigkeit und -willigkeit zur Gewährung von Privatdarlehen in Höhe von insgesamt ca 700.000 Euro veranlasst und am Werner V***** durch Vortäuschung seiner eigenen Entführung und einer Lösegeldzahlungsverpflichtung zur Übergabe von 500.000 Euro zu verleiten versucht zu haben, wodurch die Genannten in dieser Höhe geschädigt wurden bzw werden sollten.

Als gesetzliche Bezeichnung dieser für sehr wahrscheinlich gehaltenen Taten wurde das Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall und 15 StGB genannt.

In der vom Beschwerdeführer gerügten Untätigkeit der Staatsanwaltschaft seit Einlangen des ihn betreffenden Abschlussberichts (§ 100 Abs 2 Z 4 StPO) am (ON 5) erblickte das Oberlandesgericht trotz danach unternommener Ermittlungsschritte gegen den - erst im Mai 2008 in Deutschland festgenommenen und nach Österreich ausgelieferten - Mitbeschuldigten Dieter D***** eine Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots, weil das gegen Letztgenannten geführte Verfahren „zur Vermeidung von Verzögerungen der Haftsache ausgeschieden hätte werden müssen (§ 27 StPO)", hielt aber Verhältnismäßigkeit der seit ca fünfeinhalb Monate andauernden Untersuchungshaft angesichts der zu erwartenden Strafe, der Bedeutung der Sache und der Täterpersönlichkeit für gegeben und damit Enthaftung des Beschuldigten für nicht geboten (BS 4 f).

In seiner dagegen erhobenen Grundrechtsbeschwerde erachtet sich der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt, weil das Oberlandesgericht den von ihm gerügten Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zwar in der Begründung des Beschlusses, nicht aber in dessen Spruch zugestanden und zudem seine Enthaftung nicht angeordnet habe, obwohl es zufolge fehlender Anordnungsbefugnis gegenüber der Staatsanwaltschaft nicht in der Lage gewesen sei, dem von dieser bewirkten Verfahrensstillstand durch Anordnung verfahrensbeschleunigender Maßnahmen effektiv abzuhelfen und solcherart die Grundrechtsverletzung auf andere Weise als durch die Enthaftung auszugleichen.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer Stellungnahme zur Grundrechtsbeschwerde völlig zutreffend darlegt, kommt dieser keine Berechtigung zu.

Was die sogenannte Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft anlangt, hat der Oberste Gerichtshof, ausgehend von der Vorgabe des GRBG, wonach nicht die Haft, vielmehr die vom Oberlandesgericht getroffene Entscheidung über die Haft den Prozessgegenstand bildet, in jüngerer, jedoch bereits gefestigter Rechtsprechung stets in zwei Schritten geprüft, ob angesichts der vom Oberlandesgericht angeführten bestimmten Tatsachen der von diesem gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war (§ 180 Abs 1 zweiter Satz StPO aF, nunmehr § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO) und - zusätzlich nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung - ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 193 Abs 1 StPO aF, nunmehr § 177 Abs 1 StPO). Eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen wurde stets auch ohne Verletzung des § 180 Abs 1 zweiter Satz StPO aF als grundrechtswidrig im Sinn einer Verletzung des § 193 Abs 1 StPO aF angesehen (vgl RIS-Justiz RS0120790).

Diese Rechtsprechung wurde auch nach Inkrafttreten des StPRG seit uneingeschränkt fortgesetzt (vgl nur 15 Os 27/08x, EvBl 2008/82, 415). Sie fußt auf der Überlegung, dass die richterliche Haftprüfung nicht bloß der Entscheidung über Fortdauer oder Aufhebung der Untersuchungshaft, vielmehr darüber hinausgehend der Einhaltung sämtlicher haftrelevanter Vorschriften dient, sodass das Oberlandesgericht der Haftbeschwerde Folge geben kann, ohne den Beschwerdeführer zu enthaften (vgl 14 Os 43/07s, EvBl 2007/101, 552).

Prozessgegenstand jeder richterlichen Haftprüfung ist demnach stets auch die Einhaltung aller die Haft regelnden gesetzlichen Vorschriften (vgl Ratz, Der OGH in Strafsachen und die Europäische Menschenrechtskonvention, FS Machacek/Matscher, 1037 [1042]). Denn auch die einleitenden Worte des Art 5 Abs 1 zweiter Satz MRK verlangen neben den nachfolgend genannten Fällen gerechtfertigter Haft stets, dass die Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich zulässige Weise" erfolgt, hier also nach Maßgabe (auch) der einfachgesetzlichen, die Haft regelnden Vorschriften verhängt und fortgesetzt wird. Dazu zählen unter anderem die Einhaltung der Begründungsvorschriften des § 174 Abs 3 Z 4 und Abs 4 zweiter Satz StPO, auf deren Befolgung der vom Zwangseingriff Betroffene demnach ebenso ein subjektives Recht hat (das er sogar mit Grundrechtsbeschwerde geltend machen kann; vgl nur RIS-Justiz RS0120817), und die Einhaltung des Beschleunigungsgebots, selbst wenn dessen Verletzung noch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Haft nach § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO und damit zur Enthaftung führt.

Nach Maßgabe dieser am Erfordernis eines effektiven Grundrechtsschutzes ausgerichteten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann vermittels eines Antrags auf Freilassung nach § 176 Abs 1 Z 2 StPO auch bloß eine - die Verhältnismäßigkeit des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO gar nicht in Frage stellende - Verletzung des Beschleunigungsgebots nach §§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO releviert werden, ohne dass der Beschuldigte (§ 48 Abs 2 StPO) indes an einem anderen - gegenüber dem in Haftsachen bestehenden Rechtszug subsidiären (grundlegend: 14 Os 62/08m) - Rechtsbehelf gehindert wäre. Anders als nach dem bis zum geltenden Recht ist nämlich vorherige Befassung der Ratskammer nun nicht mehr vorgesehen.

Da die Staatsanwaltschaft erst mit Einbringung der Anklage zur Beteiligten des Verfahrens wird (§ 210 Abs 2 zweiter Satz StPO), ihr im Ermittlungsverfahren hingegen die Leitung zukommt (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO), ist vielfach nur sie zu die Haft verkürzender Verfahrensbeschleunigung in der Lage (vgl § 99 Abs 1 StPO in Betreff von die Kriminalpolizei bindender Anordnungen).

Hat aber die Staatsanwaltschaft über Einspruch wegen Rechtsverletzung ergangene stattgebende Entscheidungen des Gerichts (§ 106 Abs 1 Z 2 StPO) dadurch zu befolgen, dass sie „den entsprechenden Rechtszustand mit den" ihr „zu Gebote stehenden Mitteln herzustellen" hat (§ 107 Abs 4 StPO), und sind Staatsanwälte nach Art 90a B-VG Organe der Gerichtsbarkeit, so kann nicht zweifelhaft sein, dass diese Pflicht per analogiam auch bezüglich der in Haftsachen ergehenden gerichtlichen Entscheidungen besteht, weil sonst das Beschleunigungsgebot in Haftsachen, das wegen seiner grundrechtlichen Bedeutung gleich zweimal als subjektives Recht des Beschuldigten (§ 48 Abs 2 StPO) ausdrücklich im neuen Gesetz hervorgestrichen wird, weitgehend der gerichtlichen Kontrolle entzogen würde und gegenüber dem alten Recht eine vom Gesetzgeber keinesfalls beabsichtigte, nicht hinnehmbare Lücke im (Grund-)Rechtsschutz entstünde.

Dem Gericht ist mithin die Anordnung konkreter verfahrensbeschleunigender Maßnahmen keineswegs untersagt (vgl auch § 108 Abs 1 Z 2 StPO). Diese können unter Umständen auch zur Hintanhaltung einer Grundrechtsverletzung geboten sein. Da aber die bei der gerichtlichen Haftprüfung analog anzuwendende Bestimmung des § 107 Abs 4 StPO nicht von konkreten Anordnungen spricht und auch § 86 Abs 1 zweiter Satz StPO - anders als etwa § 260 Abs 1 StPO für Strafurteile - für den Spruch eines über Haftbeschwerde ergehenden Beschlusses keine Formvorschriften kennt, bietet der gesamte Inhalt eines Beschlusses Raum für derartige Anordnungen.

Tatsächlich hat das Oberlandesgericht Wien solche auch getroffen, indem es zur Verfahrensbeschleunigung die Ausscheidung des Verfahrens gegen Dieter D***** nach § 27 StPO verlangte, die eine von diesem unabhängige Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung oder das (beschleunigte) Setzen weiterer Ermittlungsschritte in Betreff des Beschwerdeführers ermöglicht hätte (BS 4).

Diese Maßnahmen erscheinen dem Obersten Gerichtshof zum Ausgleich der in der (zugleich anerkannten) Verletzung des Beschleunigungsgebots gelegenen Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit hinreichend. Mehr als Feststellung und Anordnung kompensatorisch beschleunigender Maßnahmen aber standen, weil Enthaftung nicht sachgerecht war, dem über eine Haftbeschwerde entscheidenden Oberlandesgericht nicht zu Gebote, sodass in seiner Entscheidung eine Grundrechtsverletzung nicht zu erblicken ist.