VfGH vom 22.02.2010, b218/09
Sammlungsnummer
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Leitsatz
Verletzung im Eigentumsrecht durch Verhängung einer Geldstrafe wegen einer Geschwindigkeitsübertretung auf der A 12 Inntalautobahn mangels Rechtsgrundlage für die der Bestrafung des Beschwerdeführers zu Grunde liegende Geschwindigkeits- und Abstandsmessung; keine gesetzliche Ermächtigung für den Einsatz des hier verwendeten videogestützten Überwachungssystems iSd Datenschutzgesetzes; Datenschutzgesetz für sich genommen keine ausreichende gesetzliche Grundlage; Verwaltungsübertretungen kein Anwendungsfall einer verfassungsgesetzlichen Übergangsbestimmung im Datenschutzgesetz betreffend die Zulässigkeit bestimmter Datenanwendungen bis zu einem Stichtag auch ohne entsprechende Rechtsgrundlage
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom wurde über den Beschwerdeführer gemäß §§52 lita Z 10a und 99 Abs 3 lita Straßenverkehrsordnung (im Folgenden: StVO), eine Geldstrafe in Höhe von € 500,- (120 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe) zuzüglich Verfahrenskosten in der Höhe von € 50,- verhängt. Der Beschwerdeführer habe auf einem näher bezeichneten Abschnitt der Autobahn A 12 als Lenker eines Fahrzeuges die durch Straßenverkehrszeichen kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 60 km/h überschritten. Die Sachverhaltsfeststellungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung wurden auf das geeichte Messsystem "SUWO EDV-Service VKS 3.0, A05" gestützt.
1.2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom insofern Folge gegeben, als die Geldstrafe in der Höhe von € 500,- auf € 250,-, bei Uneinbringlichkeit 72 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe, herabgesetzt und die Kosten für das Verfahren vor der Behörde 1. Instanz mit € 25,-
festgesetzt wurden. Der Text des Spruches wurde dahin gehend berichtigt, dass die Strafsanktionsnorm des angefochtenen Bescheides "§99 Abs 2c Z. 9 StVO" zu lauten habe.
1.3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Unversehrtheit des Eigentums und auf Datenschutz behauptet wird.
2. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete keine Gegenschrift.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 250,- (zuzüglich Verfahrenskosten) verhängt. Der Bescheid greift in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Beschwerdeführers auf Unversehrtheit des Eigentums ein.
1.1. Dieser Eingriff wäre nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 13.587/1993 mwN, 15.364/1998, 15.768/2000, 16.113/2001, 16.430/2002) dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre oder auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruhte, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte, ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre.
1.2. Die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegende Verwaltungsübertretung wurden mit Hilfe eines videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmessgerätes ("SUWO EDV-Service VKS 3.0, A05") festgestellt.
Im Bescheid der Behörde erster Instanz werden der Vorgang der Geschwindigkeitsmessung und die Funktionsweise des Messgerätes wie folgt beschrieben:
"Das Straferkenntnis stützt sich auf die Anzeige eines unter Diensteid stehenden Beamten der Landesverkehrsabteilung Tirol [...], die aufgrund einer Videoaufzeichnung erstattet worden ist. ...
Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte durch ein geeichtes Messgerät der Type VKS 3.0.
Das Fahrzeug wird mit drei Videokameras auf einem Videorecorder aufgezeichnet, wobei die Messung mit einem Zeitmessgerät auf eine Messkonstante von 50 Metern durchgeführt wird. Die Messergebnisse resultieren aus diesem Zeit/Weg-Zusammenhang.
Die gesamte Messeinheit besteht aus einer Telebereichs-, einer Messbereichs- und einer Identifikationskamera. Alle drei Kameras werden von einer zentralen Steuereinheit geleitet.
Diese setzt sich aus zwei Bildschirmen, einem Videorecorder, einem Computer mit integriertem Zeitmessgerät zusammen. Die Telebereichs- und Messbereichskameras sind auf einer, die Autobahn überquerenden Brücke/Überführung montiert, wobei der Bildausschnitt durch den jeweiligen Zoombereich der Kameras bestimmt wird. Die Telekamera ermöglicht die Beobachtung des ankommenden Verkehrs auf eine Entfernung von ca. 800 Meter.
Die Messbereichskamera erfasst nur jenen Ausschnitt auf der Überholspur, auf dem die Fahrzeuge die markierte Wegstrecke von 50 Metern zurücklegen.
Die Identifikationskamera ist an der Mittelleitschiene unterhalb der Brücke montiert und ermöglicht eine Großaufnahme von Fahrzeugen (und deren Kennzeichen), die den Sicherheitsabstand nicht eingehalten haben.
Der Überwachungsbereich von 50 Metern ist durch Farbmarkierungen quer über die Fahrbahn gekennzeichnet. Die zentrale Steuereinheit befindet sich abseits der Autobahn in einem Dienstfahrzeug.
Auswertung der Geschwindigkeit:
Durch die Telekamera wird der Verkehr großräumig beobachtet. Dies ermöglicht eine Beobachtung aller Fahrzeuge und somit eine Auslese jener, deren Nichteinhalten der geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen durch die geltende Rechtsordnung gedeckt ist.
Die Bestimmung eines Fahrzeuges mit dem Verdacht auf Nichteinhalten geltender Geschwindigkeitsbeschränkungen erfolgt zunächst aufgrund einer subjektiven Einschätzung durch den Beamten, der das Gerät bedient. Sowohl der Zeitpunkt des Eintrittes als auch jener, zu dem das Fahrzeug den Messbereich (50 Meter) verlässt, wird festgehalten und daraus seine Fahrgeschwindigkeit errechnet."
1.3. Mit dem im vorliegenden Fall eingesetzten videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmessgerät werden somit Videoaufnahmen all jener Fahrzeuge gemacht, die im Zeitpunkt der Messung den betreffenden Fahrbahnabschnitt passieren, wobei - von den zwei weiteren Kameras - die Fahrzeugkategorie und auch etwaige Aufschriften auf den Fahrzeugen (zB die Namen natürlicher oder juristischer Personen, Markenzeichen usw.) und insbesondere auch das Kennzeichen der Fahrzeuge aufgenommen werden. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Fahrzeuginsassen (je nach Qualität der Kameras und der Einstellwinkel) erkennbar sind. Die Abstands- und Geschwindigkeitsmessung mit dem videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmessgerät basiert sohin auf der Ermittlung und Speicherung personenbezogener Daten. Auf Grund der unter Punkt II.1.2. dargestellten Funktionsweise des Geschwindigkeits- und Abstandmessgerätes wird davon ausgegangen, dass dabei zunächst die Daten aller Verkehrsteilnehmer gespeichert werden, unabhängig davon, ob eine Verwaltungsübertretung vorliegt oder nicht.
1.4. Für die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage von Eingriffen in das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums, die sich auf die Verwendung personenbezogener Daten stützen, gelten die Bedingungen des § 1 Abs 2 DSG 2000 sinngemäß. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist die Ermittlung und Verwendung personenbezogener Daten durch Eingriffe einer staatlichen Behörde wegen des Gesetzesvorbehalts des § 1 Abs 2 DSG 2000 nur auf Grund von Gesetzen zulässig, die aus den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Gründen notwendig sind und ausreichend präzise, also für jedermann vorhersehbar regeln müssen, unter welchen Voraussetzungen die Ermittlung bzw. die Verwendung personenbezogener Daten für die Wahrnehmung konkreter Verwaltungsaufgaben zulässig ist (vgl. VfSlg. 16.369/2001). Der jeweilige Gesetzgeber muss somit nach § 1 Abs 2 DSG 2000 eine materienspezifische Regelung in dem Sinn vorsehen, dass die Fälle zulässiger Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz konkretisiert und begrenzt werden.
1.5. Weder die StVO noch das Verwaltungsstrafgesetz oder auch das Kraftfahrgesetz (im Folgenden: KFG) enthielten jedoch in den für die Beurteilung des vorliegenden Sachverhaltes maßgeblichen Fassungen eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung im Sinne des § 1 Abs 2 DSG 2000 zum Einsatz entsprechender videogestützter Geschwindigkeits- und Abstandsmesssysteme. § 100 Abs 5b StVO, BGBl. 159/1960 idF BGBl. I 52/2005, regelt allein den Einsatz automatischer Geschwindigkeitsmesssysteme für die Feststellung der Überschreitung einer ziffernmäßig festgesetzten Höchstgeschwindigkeit. In § 134 Abs 3 KFG, BGBl. 267/1967 idF BGBl. I 6/2008, ist lediglich allgemein davon die Rede, dass Geschwindigkeitsübertretungen "mit Messgeräten" festgestellt werden können. Daneben lässt sich auch aus den Regelungen der StVO betreffend die Zuständigkeit und die Aufgaben der Straßenpolizeibehörden ("Überwachung der Einhaltung straßenpolizeilicher Vorschriften", vgl. insb. § 94b Abs 1 lita StVO, BGBl. 159/1960 idF BGBl. I 92/1998) in Verbindung mit den allgemeinen Grundsätzen über die Verwendung von Daten aus dem 2. Abschnitt des DSG 2000 (s. insb. §§6, 7, 8 DSG 2000) keine Ermächtigung zum Einsatz eines solchen videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmesssystems ableiten.
Der Verfassungsgerichtshof stellte in seinem Erkenntnis VfSlg. 18.146/2007 (Section Control) fest, dass sich aus den Regelungen der StVO betreffend Zuständigkeiten und Aufgaben der Straßenpolizeibehörden, sowie aus den im 2. Abschnitt des DSG 2000 enthaltenen allgemeinen Grundsätzen über die Verwendung von Daten lediglich die "näheren Grenzen der rechtlichen Ermächtigung" zur Ermittlung und Verwendung personenbezogener Daten im Rahmen eines automatischen Geschwindigkeitsmesssystems ergeben können. Diese können daher eine fehlende gesetzliche Ermächtigung im Sinne des § 1 Abs 2 DSG 2000 nicht ersetzen.
1.6. Das Erfordernis einer - über das DSG 2000 hinausgehenden - gesetzlichen Ermächtigung für die Datenanwendung wird durch die Verfassungsbestimmung des § 61 Abs 4 DSG 2000 bestätigt, wonach Datenanwendungen, "die für die in § 17 Abs 3 genannten Zwecke notwendig sind", bis auch ohne eine dem § 1 Abs 2 DSG 2000 entsprechende Rechtsgrundlage erfolgen konnten. Diese Bestimmung wäre überflüssig, würden bereits die Bestimmungen des DSG 2000 für sich genommen (allenfalls in Verbindung mit materiengesetzlichen Zuständigkeitsvorschriften) eine ausreichende gesetzliche Grundlage im Sinne des § 1 Abs 2 DSG 2000 bilden.
Beim Einsatz des videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmessgerätes zum Zweck der Verkehrsüberwachung handelt es sich aber auch um keinen Anwendungsfall der Verfassungsbestimmung des § 61 Abs 4 DSG 2000. Die Übergangsregelung bezieht sich u.a. auf jene Datenanwendungen, die "für Zwecke ... der Vorbeugung, Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten" von der Meldepflicht ausgenommen sind (§17 Abs 3 Z 5 DSG 2000), "soweit dies zur Verwirklichung des Zweckes der Datenanwendung notwendig ist." Nach den Erläuterungen zu § 17 Abs 3 DSG 2000 sollten nur jene Datenanwendungen ausgenommen werden, bei welchen die Nichtmeldung auf Grund der konkreten Zweckbestimmung der einzelnen Datenanwendung notwendig ist. Daraus erhellt, dass mit "Straftaten" Taten, die durch das Strafrecht im Sinne des Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG mit Strafe bedroht sind, nicht aber Verwaltungsübertretungen gemeint sein können.
1.7. Da die Geschwindigkeitsmessung, die die Grundlage für die Bestrafung des Beschwerdeführers bildete, sohin ohne gesetzliche Grundlage im Sinne des § 1 Abs 2 DSG 2000 durchgeführt worden ist, entbehrt der angefochtene Bescheid insofern ebenfalls der Rechtsgrundlage (vgl. ).
2. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-
enthalten.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.