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OGH vom 18.12.2006, 8Ob121/06m

OGH vom 18.12.2006, 8Ob121/06m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Langer als Vorsitzende sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Kuras und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lovrek und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin Sieglinde H*****, geboren am , *****, vertreten durch die Bewohnervertreterin iSd § 8 Abs 2 und 3 HeimAufG Maga Rosalinde P*****, Verein für Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft & Bewohnervertretung, *****, diese vertreten durch Dr. Georg Schwab, Rechtsanwalt in Wels, über den Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin gegen den Beschluss des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Rekursgericht vom , GZ 6 R 120/06y-11, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichtes Schärding vom , GZ 1 HA 1/06z-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie einschließlich ihrer unbekämpften und bestätigten Teile insgesamt wie folgt zu lauten haben:

„Die an der Bewohnerin Sieglinde H***** vorgenommene freiheitsbeschränkende Maßnahme - Hindern am Verlassen des Hauses durch Versperren der Haustüre während des Tages (6 Uhr bis 22 Uhr) - wird für unzulässig erklärt.

Der Antrag, auch das Versperren der Haustüre in der Nacht und die medikamentöse Behandlung der Bewohnerin als Freiheitsbeschränkung für unzulässig zu erklären, wird abgewiesen."

Text

Begründung:

Die 46-jährige Bewohnerin leidet an einer psychischen Erkrankung im Sinne eines chronisch-schizophrenen Residualsyndroms. Seit dem Jahr 1996 ist ihr für die Besorgung aller Angelegenheiten ein Sachwalter bestellt. Seit befindet sie sich in Betreuung des Vereins ***** in dessen „Haus *****". In diesem Haus leben noch acht weitere Personen, die allesamt an einer geistigen Behinderung oder an einer psychischen Erkrankung leiden. Die Pflege erfolgt - rund um die Uhr - durch eine permanent anwesende Behindertenbetreuerin.

Die Bewohnervertreterin beantragte, Freiheitsbeschränkungen der Bewohnerin für unzulässig zu erklären. Die Bewohnerin könne das Haus nicht verlassen, weil die Haustür Tag und Nacht versperrt sei und sie keinen Schlüssel besitze. Zudem bestehe der Verdacht, dass die Bewohnerin eine medikamentöse Behandlung erhalte, die freiheitsbeschränkend wirke. Diese Freiheitsbeschränkungen seien ohne ärztliche Anordnung erfolgt und nicht schriftlich dokumentiert. Die Bewohnerin sei nicht iSd § 7 Abs 1 HeimAufG aufgeklärt worden. Ebenso wenig sei die Bewohnervertreterin iSd § 7 Abs 2 HeimAufG verständigt worden. Die Freiheitsbeschränkungen seien daher schon aus formellen Gründen nicht zulässig.

Die Leiterin der Einrichtung bestritt, dass das HeimAufG auf das „Haus *****" anwendbar sei und dass die im Antrag angeführten Maßnahmen unzulässige Freiheitsbeschränkungen seien.

Das Erstgericht erklärte die freiheitsbeschränkende Maßnahme des Hinderns der Bewohnerin am Verlassen des Hauses durch Versperren der Haustür für unzulässig und wies das darüber hinaus gehende Mehrbegehren der Bewohnervertreterin ab.

Die Abweisung des Antrags hinsichtlich der medikamentösen Behandlung der Bewohnerin erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Gegenstand des Verfahrens ist daher nur mehr das Versperrthalten der Haustür. Dazu stellte das Erstgericht folgenden Sachverhalt fest:

Die Eingangstür des Hauses ***** sei meistens - und zwar Tag und Nacht - zugesperrt. Bewohner, die das Haus verlassen wollen, haben aber die Möglichkeit, die anwesende Betreuerin aufzusuchen, die dann die Eingangstür aufsperrt und den betroffenen Bewohner befragt, wo er hingehe und wie lange er voraussichtlich ausbleiben werde. Bei seiner Rückkehr muss der Bewohner läuten, worauf ihm die Haustür aufgesperrt wird.

Im ersten Stock des in leichter Hanglage gelegenen Hauses befindet sich eine unversperrte „Balkontür", durch die man auf einen Balkon gelangt, von dem man durch ein Gartentor in den Garten kommt. Das Gartentor weist einen einfachen Schließmechanismus auf und kann durch einen Hebel geöffnet werden. Vom Garten aus gelangt man über eine Wiese auf die öffentliche Straße.

Warum die Haustür der Einrichtung zugesperrt wird, ist - ebenso wenig wie Beginn und Dauer dieser Maßnahme - dokumentiert. Es liegen auch keine ärztlichen Zeugnisse oder Nachweise über die notwendigen Verständigungen bzw ärztlichen Anordnungen vor.

Die Bewohnerin hat bezüglich freiheitsbeschränkende Maßnahmen keine Urteils- und Einsichtsfähigkeit. Die Möglichkeit, über die Balkontür das Haus zu verlassen, ist ihr nicht bewusst; sie kennt diese Möglichkeit nicht. Eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung, die beschränkende Maßnahmen erforderliche machen würde, liegt bei der Bewohnerin nicht vor.

In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht von der Anwendbarkeit des HeimAufG aus. Durch das Versperren der Haustür werde die Freiheit der Bewohnerin in unzulässiger Weise eingeschränkt, woran auch der Umstand nichts ändere, dass ihr die entsprechende Einsichts- und Urteilsfähigkeit fehle. Überdies sei die angeordnete Maßnahme schon wegen des Fehlens der formellen Voraussetzungen unzulässig.

Über Rekurs der Leiterin der Einrichtung änderte das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluss die erstgerichtliche Entscheidung iSd Abweisung des gesamten Antrags der Bewohnervertreterin ab.

Das Rekursgericht bejahte das Rechtschutzinteresse der Leiterin der Einrichtung an der Bekämpfung der erstgerichtlichen Entscheidung und ging ebenfalls von der Anwendbarkeit des HeimAufG auf die hier betroffene Einrichtung aus. Die Anzahl der Pflegeplätze - das Gesetz gelte für Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können - bedinge eine Organisation der Pflege oder Betreuung, die dazu führe, dass auftretende Probleme nicht mehr allein durch zwischenmenschliche Zuwendung wie etwa in einer Familie gelöst werden könnten. Dass trotz Überschreiten der Mindestgröße auf Grund besonderer Lebensbedingungen in der Einrichtung familienähnliche Strukturen gegeben seien, sei nicht hervorgekommen. Das Versperren einer Haustür zur Verhinderung des Verlassens des Hauses könne eine Freiheitsbeschränkung iS dieses Gesetzes bewirken. Dass eine Person zum Öffnen der Tür über entsprechendes Ersuchen bereit stehe, ändere daran nichts. Hier habe die Bewohnerin aber die Möglichkeit, über einen anderen Ausgang das Haus ungehindert zu verlassen. Wenn ihr dies auf Grund ihrer psychischen Beeinträchtigung nicht bewusst sei, so habe sie doch bei Entfaltung eines entsprechenden „natürlichen" (also die Einsichtsfähigkeit nicht voraussetzenden) Willens die Möglichkeit, den Ausgang zu finden und das Haus so zu verlassen. Das Versperren der Eingangstür stelle daher keine Freiheitsbeschränkung, sondern eine zulässige „negative Konfinierung" dar, sodass der Antrag der Bewohnervertreterin zur Gänze abzuweisen sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der vom Rekursgericht zugelassene Revisionsrekurs der Bewohnervertreterin mit dem Antrag, den erstgerichtlichen Beschluss wiederherzustellen.

Der Rekurs ist zulässig und teilweise auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsschutzinteresse der Leiterin der Einrichtung an der Bekämpfung der erstgerichtlichen Entscheidung wurde vom Rekursgericht zu Recht bejaht (7 Ob 226/06w unter Hinweis auf Barth/Engel, Heimrecht; § 16 HeimAufG Anm 8 mwN; Zierl, Heimrecht, 165 f; Klaushofer, HeimAufG: Ein erster Überblick, ZfV 2004/1229, 590 [605] FN 163 ff; Barth, Spezielle Fragen zum Gerichtsverfahren nach HeimAufG, RZ 2006, 2 [9] mit Hinweis auf das Antragsrecht des Einrichtungsleiters nach § 11 Abs 1 HeimAufG).

Auch die Rechtsauffassung der zweiten Instanz über die Anwendbarkeit des HeimAufG ist zutreffend (in diesem Sinn bereits die ebenfalls das Haus ***** betreffende Entscheidung 7 Ob 226/06w).

Nicht beizupflichten ist jedoch den Ausführungen des Rekursgerichtes, mit denen es eine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG verneint.

Eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des HeimAufG kann zwar nur an jemandem vorgenommen werden, der grundsätzlich (noch) über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen (Fort-)Bewegung (mit Ortsveränderung) verfügt. Auf die Bildung eines (vernünftigen) Fortbewegungswillens und darauf, ob sich der betroffene Bewohner der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bewusst ist, kommt es dabei allerdings nicht an (so bereits 6 Ob 198/02i, noch zur Rechtslage nach dem UbG; zum HeimAufG: 7 Ob 226/06w mwN).

Eine Freiheitsbeschränkung iSd HeimAufG liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Dabei ist zunächst die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bereich wesentlich (Barth/Engel, Heimrecht, § 3 Anm 2). Der räumliche Umfang der Beschränkung spielt für die Freiheitsbeschränkung keine Rolle. Auch die Bewegungsbeschränkung auf die Einrichtung in ihrer Gesamtheit unter Wahrung freier Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Areals der Einrichtung ist daher eine Freiheitsbeschränkung (Barth/Engel, aaO Anm 10).

Das Versperren des Eingangstores während des Tages mit der Wirkung, dass damit der Bewohner am Verlassen der Einrichtung gehindert wird, ist daher als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (zum UbG:Kopetzky, Grundriss des Unterbringungsrechts 21). Dass ein Betreuer um Aufsperren der Tür ersucht werden kann, ändert daran nichts, weil die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines anderen (hier: des Betreuers) eine nicht mehr bloß unwesentliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit darstellt (Barth/Engel, aaO Anm 8). Hingegen wurde das Versperrthalten einer Tür während der Nachtzeit von der Rechtsprechung zum UbG als zulässige Vorsichtsmaßnahme zur Verhinderung des unkontrollierten Ein- und Ausgangs qualifiziert, wie sie auch außerhalb von psychiatrischen Anstalten nicht ungewöhnlich und nicht als Ausdruck eines Zwangs zum Verbleib in der Einrichtung zu deuten ist (5 Ob 571/93; so auch Kopetzky, aaO). Zur nunmehrigen Rechtslage wird in der Lehre die Auffassung vertreten, dass in Pflegeeinrichtungen selbst in der Nacht jedenfalls die Möglichkeit gegeben sein muss, die Einrichtung kontrolliert zu verlassen (Barth/Engel, aaO Anm 10; offenbar ebenfalls in diesem Sinn: Zierl, Heimrecht 126).

Auf dieser Grundlage kann im hier zu beurteilenden Fall im Versperrthalten der Eingangstür in der Nacht keine unzulässige Freiheitsbeschränkung erblickt werden. Nach den Feststellungen ist es den Bewohnern möglich, vom im Haus anwesenden Betreuer das Aufsperren der Tür zu verlangen. Eine Einschränkung dieser Möglichkeit auf die Zeit des Tages ist den Feststellungen nicht zu entnehmen und wird auch im Revisionsrekurs nicht behauptet. Gemessen an den personellen Möglichkeiten einer Einrichtung der hier zu beurteilenden Größe reicht dies aber aus, um noch von einer kontrollierten Möglichkeit des Ausgangs auszugehen, die nicht über die allgemein für die Nachtzeit üblichen Vorsichtsmaßnahmen hinausgeht.

Für die Nachtzeit - die im Sinne der allgemeinen Verkehrsübung im hier zu beurteilenden Zusammenhang mit der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr anzusetzen ist - war daher der Antrag der Bewohnervertreterin abzuweisen.

Für die verbleibende Zeit war diesem Antrag hingegen stattzugeben.

Wie schon ausgeführt, stellt das Versperrthalten der Eingangstür einer Pflegeeinrichtung während des Tages auch dann eine Freiheitsbeschränkung dar, wenn der Bewohner einen Betreuer ersuchen kann, ihm die Tür zu öffnen. Dass eine alternative Möglichkeit besteht, die Einrichtung zu verlassen (hier: über eine „Balkontür" und durch den Garten) ändert daran jedenfalls dann nichts, wenn der Bewohner - wie hier - auf Grund seiner psychischen Erkrankung diese Möglichkeit nicht kennt und ihm jegliches Bewusstsein für diese Möglichkeit fehlt. Damit erweist sich nämlich das Versperrthalten der Eingangstür sehr wohl als Freiheitsbeschränkung, weil für den Bewohner in seiner konkreten Situation keine alternative Möglichkeit besteht, die Einrichtung zu verlassen.

Dass der Bewohnerin generell Urteils- und Einsichtsfähigkeit im Zusammenhang mit Freiheitsbeschränkungen fehlt, vermag hingegen im Lichte der schon oben wiedergegebenen Rechtslage am Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung nichts zu ändern.

Da im Übrigen feststeht, dass die Voraussetzungen des § 4 HeimAufG bei der Bewohnerin nicht vorliegen - nach den Feststellungen besteht weder Selbst- noch Fremdgefährdung - ist daher in Stattgebung des Antrags die Unzulässigkeit der festgestellten Freiheitsbeschränkung auszusprechen.