OGH vom 01.02.2011, 10Ob77/10m
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen M*****, geboren am ***** und I*****, geboren am *****, beide: *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung, Bezirke 1, 4 9, Amerlingstraße 11, 1060 Wien), über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 357/10s 9, womit infolge Rekurses der Minderjährigen der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom , GZ 2 PU 125/10a 3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
Die Minderjährigen sind - wie ihre Eltern - österreichische Staatsbürger. Seit September 2009 haben sie und die obsorgeberechtigte Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden. Der Vater lebt und arbeitet in Österreich.
Mit rechtskräftigen Beschlüssen vom , GZ 2 P 31/05m-U117, U118 hat das Erstgericht die den Kindern gewährten Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des Monats April 2010 eingestellt, weil aufgrund geänderter Rechtslage ab keine Exportverpflichtung mehr bestehe.
Die am eingebrachten Anträge der durch den Jugendwohlfahrtsträger vertretenen Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat das Erstgericht mit Beschluss vom abgewiesen (ON 3).
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Rekursgericht dem Rekurs der Minderjährigen gegen diese Entscheidung nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.
Nach der neuen Rechtslage bestehe - unabhängig davon, ob der geldunterhaltspflichtige Elternteil im Inland einer Beschäftigung nachgehe - ab keine Exportverpflichtung für Unterhaltsvorschüsse mehr. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der seit geltenden neuen Rechtslage existiere.
Der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs der Minderjährigen, der eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung im antragsstattgebenden Sinn anstrebt, ist nicht zulässig.
Die Rechtsmittelwerber berufen sich weiterhin darauf, es sei „fraglich“, ob durch Inkrafttreten der neuen Durchführungsverordnung der beabsichtigte Wegfall der Exportverpflichtung bewirkt werden könne; setze sich doch der Europäische Gerichtshof unter Berufung auf die Grundfreiheiten und die Freizügigkeits-VO über Ausnahmebestimmungen in Anhängen hinweg oder lasse er die in der Wanderarbeitnehmerverordnung gesetzten Grenzen der Sozialrechtskoordinierung im Hinblick auf die Unionsbürgerschaft außer Acht.
Dem ist - wie in den bereits veröffentlichten Entscheidungen des zuständigen Fachsenats 10 Ob 45/10f (EvBl 2010/155) und 10 Ob 70/10g - zu erwidern, dass von folgender neuer Rechtslage auszugehen ist:
1. Mit wurde die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des EuGH als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden (10 Ob 25/10i; 10 Ob 14/10x).
2. Seit dem sind Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen. Die vom EuGH für den österreichischen Unterhaltsvorschuss in der Rs Humer (vgl , Humer , Slg 2002, I 1205) nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht aufgrund der Unanwendbarkeit des Koordinierungsrechts nicht mehr (RIS-Justiz RS0125933 [T1]).
3. Es liegt hier auch keine Fallkonstellation vor, bei der allenfalls aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex Art 12 EG) oder aus der VO (EWG) 1612/68 ein Anspruch des Kindes auf österreichischen Unterhaltsvorschuss abgeleitet werden könnte (vgl Felten/Neumayr , Die neue Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2010, 164, 166 ff). Aufgrund der seit geltenden Rechtslage ist ein Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse in solchen Fällen daher zu verneinen.
4. Die neue VO (EG) 883/2004 enthält in ihrem Art 87 keine spezielle Übergangsbestimmung für bereits bewilligte Unterhaltsvorschüsse, die aufgrund der alten VO (EWG) 1408/71 in das EU Ausland exportiert werden. Bei Ansprüchen nach der VO (EWG) 1408/71 handelt es sich in der Regel um Ansprüche, die erst durch das Unionsrecht entstanden sind. Es steht daher dem europäischen Gesetzgeber auch zu, diese Ansprüche zu ändern (vgl Spiegel in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 5 Teil 2 Art 87 Rz 4). Da der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet ist, ist die Änderung der Rechtslage mit zu berücksichtigen und es ist für die Perioden ab dem demnach bereits die neue Rechtslage anzuwenden (10 Ob 14/10x mwN).
5. Die bekämpfte Beurteilung entspricht somit der zitierten ständigen Rechtsprechung (10 Ob 45/10f; 10 Ob 70/10g), weshalb der Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen ist (so bereits: 10 Ob 84/10s).