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OGH vom 09.11.2010, 10Ob72/10a

OGH vom 09.11.2010, 10Ob72/10a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der nunmehr volljährigen M*****, geboren am , über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 151/10x 129, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom , GZ 31 PU 86/09b 113, ersatzlos aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Der am geborene Vater der mittlerweile volljährigen Antragstellerin ist aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Favoriten vom , GZ 14 P 278/96g 71, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 218 EUR an seine Tochter verpflichtet. Dieser Unterhaltsbemessung liegt zu Grunde, dass der Vater, der damals ein Arbeitslosengeld von 21,35 EUR täglich bezog, unter Einsatz seiner Kräfte bei einer dauerhaften Anstellung in seinem Beruf als Elektriker ein monatliches Einkommen von zumindest 1.090 EUR inklusive anteiliger Sonderzahlungen erzielen könnte.

Der Antragstellerin wurden zuletzt aufgrund des Beschlusses des Bezirksgerichts Favoriten vom (ON 38) Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Titelhöhe für die Zeit vom bis weitergewährt.

Mit Beschluss des Erstgerichts vom (ON 76) wurden die gewährten Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 218 EUR für den Zeitraum vom bis eingestellt. Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Vater vom bis Krankengeld in Höhe von 20,28 EUR täglich, somit 618,54 EUR monatlich, bezogen habe und ein längerer Krankengeldbezug eine Arbeitsunfähigkeit des Vaters indiziere. Der Anspannungsgrundsatz könne daher nicht angewendet werden. Die Vorschüsse seien im Hinblick auf die geringe, unter dem Existenzminimum liegende Höhe des Krankengelds für den genannten Zeitraum zur Gänze einzustellen. Nach Beendigung des Krankenstands komme jedoch der Anspannungsgrundsatz wieder zur Anwendung. Mit der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung des Rekursgerichts vom (ON 86) wurde der Beschluss des Erstgerichts hinsichtlich der gänzlichen Einstellung der Unterhaltsvorschüsse für den Zeitraum vom bis bestätigt.

Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss des Erstgerichts vom (ON 113) wurden die gewährten Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 218 EUR monatlich mit Ablauf des eingestellt. Das Erstgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Vater auch im Zeitraum vom bis Krankengeld in Höhe von 20,28 EUR täglich, somit 618,54 EUR monatlich, bezogen habe und er seit Pensionsvorschuss in Höhe des bisherigen Krankengelds beziehe. Der Bezug von Krankengeld bzw Pensionsvorschuss erwecke nach Ansicht des Erstgerichts begründete Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Unterhaltsschuldners. Deshalb könne dem Zeitraum des Krankengeldbezugs auch kein auf der Anspannung des Unterhaltsschuldners beruhendes höheres Einkommen zu Grunde gelegt werden. Da der Krankengeld und der Pensionsvorschussbezug unter dem Unterhaltsexistenzminimum liege, seien die bisher gewährten Unterhaltsvorschüsse gemäß § 20 UVG einzustellen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Antragstellerin dahin Folge, dass es den Beschluss des Erstgerichts ersatzlos aufhob. Nach seinen Ausführungen sei der berufliche Werdegang des Unterhaltsschuldners jedenfalls seit 2003 nahezu nahtlos durch den abwechselnden Bezug von Notstandshilfe und Krankengeld sowie seit durch den Bezug von Pensionsvorschuss gekennzeichnet. Die Zeiten des Krankengeldbezugs hätten mit Ausnahme des Zeitraums vom 9. 4. bis jeweils nur einige Tage bis zu ca drei Wochen betragen. Ungeachtet dessen habe der berufskundliche Sachverständige in einem im April 2009 erstatteten Gutachten ausgeführt, der Vater sei in der Lage gewesen, einer Vollzeitbeschäftigung als Elektrohelfer, Lagerarbeiter, Handelsarbeiter oder Produktionsmitarbeiter nachzugehen und ein Einkommen von rund 1.050 EUR monatlich zu erzielen. Der berufskundliche Sachverständige habe in diesem Gutachten unter anderem auch die mangelnden Bemühungen des Vaters zur Arbeitsplatzsuche ins Treffen geführt.

Unterhaltsvorschüsse seien nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG unter anderem dann einzustellen, wenn diese nach § 7 Abs 1 UVG zur Gänze zu versagen seien. Nach der seit geltenden Fassung des § 7 UVG sei mit einer Versagung nur dann vorzugehen, wenn sich aus der Aktenlage ergebe, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht nicht mehr bestehe oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt sei. Mit dieser Änderung des § 7 Abs 1 Z 1 UVG sei beabsichtigt worden, dass Unterhaltsvorschüsse nur versagt werden sollen, wenn das Gericht bereits aufgrund der Aktenlage also ohne weitere Erhebungen mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Vorliegen der Versagungsgründe iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG überzeugt sei. Von einer derartigen hohen Wahrscheinlichkeit könne jedoch im vorliegenden Fall nicht gesprochen werden, weil im Hinblick auf das im Akt erliegende Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen weiterhin andauernde unzureichende oder fehlende Bemühungen des Unterhaltsschuldners zur Arbeitsplatzfindung den Grund für den unter dem Existenzminimum liegenden Bezug darstellen könnten. Auch aufgrund einer Antragstellung auf Gewährung eines Pensionsvorschusses könne noch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine geminderte Arbeitsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit des Unterhaltsschuldners geschlossen werden.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs im Hinblick auf das Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des § 7 Abs 1 Z 1 UVG nF zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne einer Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses abzuändern.

Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Revisionsrekurswerber macht geltend, das Rekursgericht gehe aktenwidrig davon aus, dass sich im Akt ein Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen Dr. E***** zu den Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltsschuldners zum Zeitpunkt April 2009 befinde. Tatsächlich liege darüber nur eine bloße Mitteilung des Jugendwohlfahrtsträgers über ein von diesem Sachverständigen im Zuge eines gegen den Unterhaltsschuldner anhängigen Strafverfahrens in der Hauptverhandlung am erstattetes Gutachten vor. Die bloße Mitteilung über den angeblichen Inhalt des mündlichen Gutachtens sei keinesfalls mit einem tatsächlich vorliegenden Gutachten gleichzusetzen. Dem Akt sei lediglich zu entnehmen, dass sich der Vater vom 9. 4. bis im Krankenstand befunden habe, zuvor immer wieder Krankengeld bezogen habe und seit Pensionsvorschuss beziehe. Daraus ergebe sich zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass die Voraussetzungen für die Anspannung des Vaters nicht mehr gegeben seien und deshalb nur mehr der Krankengeld und Pensionsvorschussbezug in Höhe von jeweils lediglich 618,54 EUR monatlich zu berücksichtigen sei. Ausgehend davon habe das Erstgericht die Unterhaltsvorschüsse zu Recht mit Ablauf des eingestellt. Dementsprechend habe auch das Rekursgericht in seinem Beschluss vom (ON 86) die Voraussetzungen für die Einstellung der Vorschusszahlungen für den Zeitraum 1. 4. bis bejaht.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Das UVG wurde durch das FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, novelliert. Die geänderte Fassung ist im Wesentlichen am in Kraft getreten (§ 37 UVG).

1.1 Unverändert geblieben ist die Rechtslage über die Einstellung der Vorschüsse (§ 20 UVG). Nach § 20 Abs 1 Z 4 lit b UVG sind die Vorschüsse weiterhin auf Antrag oder von Amts wegen einzustellen, wenn nach § 7 Abs 1 die Vorschüsse zur Gänze zu versagen sind.

1.2 Nach der durch das FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, neu gefassten Bestimmung des § 7 Abs 1 Z 1 UVG hat das Gericht die Vorschüsse ganz oder teilweise zu versagen, soweit in den Fällen der §§ 3 und 4 Z 1 sich aus der Aktenlage ergibt, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht nicht (mehr) besteht oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt ist. Durch diese Gesetzesänderung sollten die Voraussetzungen für das Versagen von Titelvorschüssen nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG im Sinne einer Erhöhung der Auszahlungskontinuität der bewilligten Unterhaltsvorschüsse etwas verschärft werden. Die Möglichkeit der Versagung der Vorschüsse besteht daher für nach dem gefasste Gewährungsbeschlüsse nicht nur auf der Grundlage von „begründeten Bedenken“. Vielmehr wird angeordnet, dass sich die materielle Unrichtigkeit des bestehenden Unterhaltstitels ohne weiter klärende Erhebungen aus der Aktenlage ergeben muss. Damit soll verdeutlicht werden, dass im Rahmen der Prüfung nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG nF kein hypothetisches Unterhaltsfestsetzungsverfahren abzuführen ist. Nach der neuen Rechtslage sollen Titelvorschüsse nur versagt werden, wenn das Gericht bereits aufgrund der Aktenlage (also ohne weitere Erhebungen) „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ vom Vorliegen der Versagungsgründe des § 7 Abs 1 Z 1 UVG überzeugt ist ( Neumayr , Unterhaltsvorschuss neu, ÖJZ 2010/20, 164 ff [166]). Sollte dieser Grad der Überzeugung nicht aus der Aktenlage zu gewinnen sein, so ist ein Vorgehen nach Abs 1 wie auch die Durchführung weiterer Erhebungen mit dem Ziel, das Maß der Überzeugung entsprechend zu verdichten, nicht zulässig; ein Vorgehen nach § 12 UVG ist demnach im Bereich des § 7 Abs 1 UVG ebenfalls nicht angezeigt. Diese Gesetzesänderung soll auch zur Beschleunigung des Vorschussgewährungsverfahrens beitragen (vgl IA 673/A BlgNR 24. GP 41).

2. Im gegenständlichen Fall ist jedoch zu berücksichtigen, dass kein Vorschussgewährungsverfahren, sondern ein Einstellungsverfahren nach § 20 UVG vorliegt. Die Absicht des Gesetzgebers im Zuge der Erlassung des FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, war offenkundig darauf gerichtet, die aktenmäßigen Entscheidungsgrundlagen vor Vorschussbewilligung möglichst nicht zu verbreitern, sondern die Frage, ob der Vorschussanspruch materiell besteht oder nicht, in das Herabsetzungs und Einstellungsverfahren zu verschieben, in dem auf „verbreiteter“ Aktenlage zu entscheiden ist ( Neumayr aaO ÖJZ 2010/20, 164 ff [166]). Es entspricht der daher auch nach dem Inkrafttreten des FamRÄG 2009 weiterhin aktuellen ständigen Rechtsprechung, dass im Einstellungsverfahren ebenso wie im Herabsetzungsverfahren keine Einengung der Stoffsammlung nach § 11 UVG, sondern unbeschränkt der Stoffsammlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz) nach § 16 AußStrG gilt. Das Gericht hat daher von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen aufgeklärt werden, und sämtliche Hinweise auf solche Tatsachen entsprechend zu berücksichtigen.

2.1 Zutreffend hat bereits das Rekursgericht darauf hingewiesen, dass der berufliche Werdegang des Unterhaltsschuldners nach der Aktenlage (vgl die Bezugsbestätigung des AMS vom [ON 112] sowie die zahlreichen Auskünfte über Krankengeldbezug des Vaters) seit vielen Jahren durch den nahezu nahtlos wechselnden Bezug von Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe und Krankengeld bzw seit durch den Bezug von Pensionsvorschuss gekennzeichnet ist. Der der Vorschussgewährung zugrunde liegende Unterhaltstitel wurde aufgrund einer Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters, der damals ebenfalls bereits nicht mehr in einem aufrechten Arbeitsverhältnis stand, erlassen. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers kann aus dem bloßen Umstand, dass der Vater immer wieder Krankengeld bezogen hat und seit einen Pensionsvorschuss bezieht, noch nicht abgeleitet werden, dass es ihm nicht mehr möglich sei, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, das eine gesetzliche Unterhaltspflicht begründen würde. Es ist vielmehr durchaus möglich, dass trotz des Bezugs der erwähnten Versicherungsleistungen die Voraussetzungen für eine Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters auch im hier strittigen Zeitraum ab weiterhin vorlagen. Den Unterhaltspflichtigen trifft nämlich die Obliegenheit, im Interesse seiner Kinder alle seine Fähigkeiten und Kräfte zur Erlangung eines entsprechenden Einkommens einzusetzen. Nur dann, wenn ihm trotz entsprechender Anstrengung aus Gründen, wie etwa einer Krankheit oder schlechter Arbeitsmarktlage, eine Erwerbstätigkeit nicht möglich wäre, könnten die Unterhaltsvorschüsse trotz Fortbestehens des (höheren) Titels eingestellt oder herabgesetzt werden (1 Ob 78/03g mwN ua).

2.2 Mangels genauerer Sachverhaltsgrundlagen kann daher derzeit noch nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für eine Anspannung des unterhaltspflichtigen Vaters auch im hier strittigen Zeitraum ab weiterhin vorlagen. Erst nach Klärung dieser Frage wird beurteilt werden können, ob die im Unterhaltstitel festgesetzte Unterhaltspflicht des Vaters iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG weiterhin bestanden hat oder allenfalls zu hoch festgesetzt war.

3. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die in diesem Sinne erforderlichen Erhebungen vorzunehmen und sodann neuerlich zu entscheiden haben. Dabei wird es auch zu berücksichtigen haben, dass die Vertretungsbefugnis des Jugendwohlfahrtsträgers mittlerweile mit Erreichung der Volljährigkeit der Antragstellerin geendet hat und daher die Antragstellerin nunmehr dem Verfahren persönlich beizuziehen ist (vgl 3 Ob 199/09z mwN).