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OGH vom 10.11.2009, 10Ob72/09z

OGH vom 10.11.2009, 10Ob72/09z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Lukas Karim L*****, geboren am , vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie - Rechtsvertretung Bezirke 12, 13 und 23, 1230 Wien, Rößlergasse 15), über den Revisionsrekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 319/09a-22, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom , GZ 1 P 65/06a-U13, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wie folgt zu lauten hat:

„Dem minderjährigen Lukas Karim L*****, geboren am , wird für den Zeitraum vom bis gemäß § 4 Z 2 UVG ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 160,24 EUR gewährt.

Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien wird um die Auszahlung der Vorschüsse an den Zahlungsempfänger ersucht.

Dem Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, die Pauschalgebühr in Höhe von 80 EUR binnen 14 Tagen zu bezahlen, und zwar auf die Kontoverbindung BLZ 60000 KtoNr 00005460580 des Bezirksgerichts Liesing.

Weiters wird dem Unterhaltsschuldner aufgetragen, alle Unterhaltsbeträge - sonst hätten sie keine schuldbefreiende Wirkung - an den in der Pflegschaftssache genannten Jugendwohlfahrtsträger als gesetzlichen Vertreter des Kindes zu zahlen.

Der Jugendwohlfahrtsträger wird ersucht, die bevorschussten Unterhaltsbeträge einzutreiben und soweit eingebracht monatlich dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien zu überweisen.

Das Mehrbegehren auf Zuerkennung eines weiteren Unterhaltsvorschusses von 218,76 EUR monatlich wird abgewiesen."

Text

Begründung:

Der am geborene minderjährige Lukas Karim L***** ist nach der Aktenlage das Kind des Ammar C***** und der am verstorbenen Karin L*****. Der Minderjährige wird von den mütterlichen Großeltern betreut. Er besuchte im Schuljahr 2008/09 die Mittelschule und bezieht eine Waisenpension von 437,52 EUR netto monatlich inklusive anteiliger Sonderzahlungen.

Der Vater ist aufgrund eines vor dem Jugendwohlfahrtsträger am abgeschlossenen Vergleichs zu einer Unterhaltsleistung von 126,45 EUR monatlich an den Minderjährigen verpflichtet. Mit Beschluss des Erstgerichts vom wurden dem Minderjährigen zuletzt Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Titelhöhe von 126,45 EUR monatlich für die Zeit vom bis weiter gewährt.

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte für den Minderjährigen nunmehr die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 2 UVG in Richtsatzhöhe ab dem , weil eine Erhöhung des mehr als drei Jahre alten Unterhaltstitels aus Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners nicht gelinge.

Das Erstgericht gewährte dem Minderjährigen für die Zeit vom bis Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in der Richtsatzhöhe gemäß § 6 Abs 2 Z 3 UVG von derzeit 379 EUR monatlich und verpflichtete den Unterhaltsschuldner zur Entrichtung der Pauschalgebühr von 189,50 EUR. Es begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass weder der Vertreter des Minderjährigen noch die Pflegepersonen (Großeltern des Minderjährigen) Kenntnis über den tatsächlichen Aufenthalt des Vaters, der französischer und tunesischer Staatsbürger sei, hätten. Es sei nicht bekannt, ob sich der Vater in Tunesien, in Frankreich oder in einem anderen Land aufhalte. Er habe bei seiner Ausreise aus Österreich keine Zustelladresse bekannt gegeben. Es habe den Anschein, er wolle sich seiner Unterhaltsverpflichtung entziehen. Er vereitle durch sein Verhalten eine Erhöhung der Unterhaltsbeiträge entsprechend den Bedürfnissen des Minderjährigen. Es sei nicht offenbar, dass der unterhaltspflichtige Vater zu keiner Unterhaltsleistung im Stande sei, weshalb dem Minderjährigen Vorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in der jeweiligen Richtsatzhöhe zustünden.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes teilweise Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass dem Minderjährigen für die Zeit vom bis gemäß § 4 Z 2 UVG Unterhaltsvorschüsse in der monatlichen Höhe von lediglich 344 EUR gewährt werden und das Mehrbegehren abgewiesen werde. Weiters wurde die vom Unterhaltsschuldner zu entrichtende Pauschalgebühr mit 172 EUR festgesetzt. Es verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach bei der Anrechnung eines Eigeneinkommens des Minderjährigen auf den Anspruch auf Vorschüsse in Richtsatzhöhe (§ 4 Z 2 und 3 UVG) der auf den geldunterhaltspflichtigen Elternteil anrechenbare Teil des Eigeneinkommens des Minderjährigen, im Zweifel die Hälfte, vom Richtsatzbetrag gemäß § 6 Abs 2 UVG abzuziehen sei. Diese Rechtsprechung gehe jedoch von der Fallkonstellation aus, dass der andere Elternteil den Minderjährigen betreue und dadurch seine Unterhaltspflicht erfülle. Bei der hier vorliegenden Drittpflege sei hingegen eine Unterhaltsgewährung durch Betreuung nicht zu berücksichtigen. Es erscheine daher eine Kürzung der Unterhaltsvorschüsse in Richtsatzhöhe nur dann angemessen, wenn die Summe aus Richtsatz und Eigeneinkommen des Minderjährigen den Gesamtunterhaltsbedarf übersteige. Bei dem am geborenen Minderjährigen sei von einem Durchschnittsbedarf (Regelbedarf) von derzeit 391 EUR monatlich auszugehen. Der Gesamtunterhaltsbedarf in Höhe des doppelten Regelbedarfs betrage daher 782 EUR monatlich. Vermindere man diesen Gesamtunterhaltsbedarf von 782 EUR monatlich um das Eigeneinkommen des Minderjährigen von 437,52 EUR monatlich, so verbleibe ein ungedeckter Geldunterhaltsbedarf von gerundet 344 EUR monatlich, welcher durch Vorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG zu substituieren sei.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zu der rechtserheblichen Frage, wie ein Eigeneinkommen eines Minderjährigen bei Drittpflege auf den Anspruch auf Richtsatzvorschüsse anzurechnen sei, noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes mit dem Antrag, dem Minderjährigen lediglich Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 160,24 EUR monatlich zu gewähren.

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel keine Folge zu geben. Weitere Revisionsrekursbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber verweist in seinen Ausführungen auf die ständige Rechtsprechung, wonach eigene Einkünfte eines Minderjährigen bei der Bemessung des Richtsatzvorschusses im Zweifel zur Hälfte vom altersentsprechenden Richtsatz abzuziehen seien. Diese Anrechnung des Eigeneinkommens müsse auch dann gelten, wenn der Minderjährige aufgrund einer Geldunterhaltspflicht sowohl des Vaters als auch der Mutter „doppelt" Richtsatzvorschüsse erhalte. Es sei nicht nachvollziehbar, warum von dieser Rechtsprechung abgewichen werden solle, wenn sich der Minderjährige in Drittpflege befinde. In diesem Fall werde zwar keine Unterhaltsgewährung durch Betreuung von einem Elternteil geleistet. Der Zweck des UVG sei aber nicht eine völlige Substitution von Unterhaltsleistungen, sondern nur die Sicherstellung einer Mindestversorgung. Eine derartige Sicherstellung der Mindestversorgung sei aber auch im Fall einer Drittpflege gegeben, wenn der ständigen Rechtsprechung folgend die Hälfte des Eigeneinkommens des Minderjährigen vom altersentsprechenden Richtsatz abgezogen werde.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu.

1. Lebt das Kind nicht im Haushalt der Eltern, weil es sich zur Gänze in Drittpflege befindet, sind nach der Grundregel des § 140 Abs 1 ABGB beide Elternteile nach ihrer Leistungsfähigkeit geldunterhaltspflichtig. Der nach § 34 AußStrG zu bestimmende Gesamtunterhaltsbedarf des Kindes ergibt sich bei ausschließlicher Drittpflege aus mit dieser verbundenen Kosten zuzüglich jener Kosten, die aus den zusätzlichen Kinderbedürfnissen (zB Kleidung usw) resultieren. Ein allfälliges Eigeneinkommen des Kindes vermindert den Unterhaltsbedarf in voller Höhe (vgl Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht4 83; Barth/Neumayr in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 140 Rz 126 jeweils mwN).

2. Der Tod des Elternteils, in dessen Obsorge der unterhaltsberechtigte Minderjährige bis dahin gestanden war, bewirkte eine Veränderung seiner Lebensverhältnisse in der Weise, dass die Betreuung des Minderjährigen durch seine Mutter ersatzlos entfallen ist, der Minderjährige daher auf Betreuung in anderer Weise angewiesen ist und dieser Aufwand aus den zum Lebensunterhalt insgesamt zufließenden Mitteln, also sowohl aus dem Pensionseinkommen als auch aus Unterhaltszahlungen des Vaters zu decken ist. Die primäre gesetzliche Unterhaltspflicht der Eltern konzentriert sich in diesem Fall auf den Vater, der im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit die gesamte Bedarfslücke zu decken hat (vgl 2 Ob 135/97k, 2 Ob 549/94, 6 Ob 569/91 ua). Es wurde ebenfalls bereits ausgesprochen, dass sich für die Ermittlung jenes Einkommens, mit dem der Minderjährige alle seine Bedürfnisse einschließlich des für Betreuungsleistungen nötigen Aufwands bestreiten könnte, keine allgemeingültigen Regeln aufstellen lassen. Für einfache Verhältnisse kann aber der Ausgleichszulagenrichtsatz im Sinn des § 293 ASVG als Richtschnur gelten. Steht daher nach dem Tod der den Minderjährigen betreuenden Mutter das Obsorgerecht etwa den Großeltern zu, besteht der Unterhaltsanspruch des Minderjährigen gegenüber seinem Vater in der Differenz zwischen der „Richtsatzpension" (Ausgleichszulagenrichtsatz nach ASVG) und dem Eigeneinkommen (Waisenpension) des Minderjährigen, wobei Betreuungsleistungen der Großeltern unberücksichtigt bleiben und daher auch den Unterhaltsanspruch des Minderjährigen gegenüber seinem Vater nicht mindern (vgl 7 Ob 78/05d, 2 Ob 135/97k jeweils mwN ua; RIS-Justiz RS0107607, RS0047345, RS0017949).

3.1. Gemäß § 4 Z 2 UVG sind Vorschüsse auch zu gewähren, wenn die Festsetzung des Unterhaltsbeitrags oder, falls der Exekutionstitel im Sinn des § 3 Z 1 UVG, gerechnet vom Zeitpunkt der Erlassung, älter als drei Jahre ist, die Erhöhung des Unterhaltsbeitrags aus Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners nicht gelingt, außer dieser ist nach seinen Kräften offenbar zu einer Unterhaltsleistung bzw einer höheren Unterhaltsleistung nicht im Stande. Gemäß § 6 Abs 2 Z 3 UVG sind in diesem Fall - vorbehaltlich des § 7 UVG - einem Kind ab Vollendung des 14. Lebensjahres drei Viertel des in § 6 Abs 1 UVG festgesetzten Höchstbetrags, das sind derzeit 379 EUR, zu gewähren. Hat das Kind gegen beide Elternteile Geldunterhaltsansprüche, auf die Vorschüsse zu gewähren sind, gelten die in § 6 Abs 1 und 2 UVG angegebenen Beträge für jeden Unterhaltsanspruch gesondert (Neumayr in Schwimann, ABGB³ § 6 UVG Rz 5 mwN).

3.2. Nach § 7 Abs 1 Z 2 UVG hat das Gericht die Vorschüsse ganz oder teilweise zu versagen, soweit in den Fällen des § 4 Z 2 bis 4 UVG das Kind eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist. Der Zweck der Einführung des § 7 Abs 1 Z 2 UVG mit BGBl 1980/278 lag in der Schaffung einer Möglichkeit, die Richtsatzvorschüsse „um die dem Kind anzurechnenden eigenen Einkünfte" zu vermindern. Diese Bestimmung ordnet somit eine Kürzung der Richtsatzvorschüsse im Ausmaß eigener Einkünfte an. Die Vorschüsse sind um die den Berechtigten anzurechnenden Einkünfte zu verringern. Wird die Richtsatzhöhe mit dem anzurechnenden Einkommen des Kindes erreicht, besteht kein Anspruch auf Vorschüsse mehr. Allerdings sind die Einkünfte des Kindes nicht in voller Höhe auf den Richtsatz anzurechnen, weil der Grundsatz, dass Eigeneinkommen des Kindes sowohl bei dem zu Geldunterhalt verpflichteten Elternteil als auch bei dem betreuenden haushaltsführenden Elternteil zu berücksichtigen ist, auch bei Richtsatzvorschüssen gilt. Dabei sind eigene Einkünfte des Kindes auch in der hier bedeutsamen Altersgruppe von 15 bis 18 Jahren auf die Unterhaltsleistung der Eltern in der Regel zu gleichen Teilen anzurechnen. Diese hälftige Anrechnung des Eigeneinkommens muss auch dann gelten, wenn das Kind „doppelt" (aufgrund einer Geldunterhaltspflicht sowohl des Vaters als auch der Mutter beispielsweise bei einer Drittpflege) Richtsatzvorschüsse erhält. Wie die konkreten Bedürfnisse des Kindes sind, ist für die Berechnung irrelevant (vgl Neumayr aaO § 7 UVG Rz 39 ff mwN).

3.3. Weiters ist bei Richtsatzvorschüssen nach § 4 Z 2 bis 4 UVG zu berücksichtigen, dass der Zweck des UVG nicht auf eine völlige Substitution von Unterhaltsleistungen gerichtet ist, sondern nur darauf, im Wesentlichen im Rahmen bereits festgesetzter Unterhaltsansprüche den Unterhalt von Kindern aus Mitteln der Allgemeinheit und daher auch nur bis zur Höhe des Richtsatzes zu sichern (Sicherstellung einer Mindestversorgung). Es muss sich daher auch ein Kind ohne eigene Einkünfte mit einem Vorschuss in Richtsatzhöhe begnügen und mit diesem Sockelbetrag das Auslangen finden. Nach dem Charakter des Unterhaltsvorschusses wäre es sachlich nicht gerechtfertigt, ihm gegenüber ein Kind mit eigenen Einkünften besser zu stellen. Auch Vorschussempfänger nach § 4 Z 2 bis 4 UVG müssen sich daher eigene Einkünfte auf den Pauschalbetrag des § 6 Abs 2 UVG anrechnen lassen (7 Ob 519/91, 7 Ob 568/91 ua).

3.4. Diese soeben dargelegte eindeutige Zielsetzung des Gesetzes rechtfertigt eine Auslegung des § 7 Abs 1 Z 2 UVG auch im vorliegenden Fall in dem Sinne, dass der nach § 6 Abs 2 UVG ermittelte Richtsatz (Pauschalbetrag) durch Abzug des eigenen Einkommens des Minderjährigen zu vermindern ist. Die vom Gesetz bei Richtsatzvorschüssen bezweckte Sicherstellung einer Mindestversorgung ist auch bei dem vom Rechtsmittelwerber angestrebten Abzug der Hälfte des Eigeneinkommens des Minderjährigen von der Richtsatzhöhe nach § 6 Abs 2 UVG gegeben. Das Unterhaltsvorschussbegehren erweist sich somit nur im Umfang eines monatlichen Betrags von 160,24 EUR (= 379 EUR abzüglich 218,76 EUR) als gerechtfertigt.

Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses des Bundes spruchgemäß zu entscheiden.