OGH vom 12.12.2017, 11Os131/17z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pichler als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung des El Hhadji S***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 42 Hv 14/17k-66, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, des Betroffenen sowie dessen Verteidigers Dr. Völkl, zu Recht erkannt:
Spruch
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Ausspruch der Anordnung der Unterbringung des El Hhadji S***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 1 StGB unter Bedachtnahme „gemäß §§ 31, 40 StGB“ auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu AZ 111 Hv 77/15d aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.
Mit ihrer Berufung wird die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom , AZ 111 Hv 77/15d, wurde El Hhadji S***** wegen Vergehen nach §§ 105 Abs 1, 125 und 141 (Abs 1) StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.
Mit dem angefochtenen Urteil wurde El Hhadji S***** in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB eingewiesen, weil er am und am unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB) der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer paranoiden Schizophrenie und einer chronischen Polytoxikomanie beruht, im Urteil genau bezeichnete Taten begangen hat, die ihm, wäre er zurechnungsfähig gewesen, als mit jeweils mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB (I/A, I/B und III/B) und Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB (II/A, II/B, III/A) zuzurechnen gewesen wären und nach seiner Person, seinem Zustand sowie der Art der Taten sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten ist, dass er weitere mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen werde.
Gemäß „§§ 31, 40 StGB“ wurde ausgesprochen, dass die Einweisung „unter Bedachtnahme“ auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien „zu 111 Hv 77/15d“ erfolgt.
Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom wurde die zunächst keinen Bedachtnahmeausspruch beinhaltende Urteilsausfertigung gemäß § 270 Abs 3 StPO „berichtigt“. Inhaltlich wurde die Urteilsausfertigung (ON 66) an den mündlich verkündeten Ausspruch angeglichen (vgl dazu RISJustiz RS0098973 [T4, T 6 und T 7]).
Rechtliche Beurteilung
Gegen die Anwendung der „§§ 31, 40 StGB“ wendet sich die auf § 281 Abs 1 Z 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft.
Zu Recht macht die Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) eine Überschreitung der Sanktionsbefugnis durch das Schöffengericht geltend:
Zufolge Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 Abs 1 StGB war das Schöffengericht zur Anordnung der Unterbringung des Betroffenen in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 1 StGB berechtigt. Nicht aber zur gleichzeitigen Heranziehung des § 31 StGB, der sich nur auf Strafen bei nachträglicher Verurteilung bezieht (vgl Ratz in WK2 StGB § 31 Rz 13; vgl auch RIS-Justiz RS0086987, RS0088812). Gleiches gilt für die Bestimmung des § 40 StGB, der die Strafbemessung bei nachträglicher Verurteilung regelt (Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4§ 31 Rz 1). Die mit der Unterbringungsanordnung verbundene Bedachtnahme auf das Vorurteil vom ist daher verfehlt. Die Geltendmachung des § 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO steht – selbst bei Sanktionsfindung innerhalb des zutreffenden Rahmens – immer dann offen, wenn das Gericht ist (RISJustiz RS0086949, RS0085974 [T2, T 3], RS0099852, RS0108409, RS0112524 [T11]; Ratz, WKStPO § 281, Rz 667, 668/3 mwN). Ist das Gericht verfehlt davon ausgegangen, dass es aufgrund des zeitlichen Verhältnisses der beiden Urteile und der davon erfassten Taten zueinander der vorbeugenden Maßnahme auch noch eine (Zusatz) hätte verhängen dürfen (vgl § 28 Abs 2, Abs 4 StGB; zur Verhängung von Strafe und Maßnahme nach § 21 Abs 1 nebeneinander in ein und demselben in ein und demselben Urteil Ratz in WK2 StGB § 21 Rz 5), ist Z 11 erster Fall ebenso anzunehmen, wie wenn das Gericht die Maßnahme – neben den einweisungsrelevanten Taten – auch auf solche gestützt hätte, die (wie hier die vom VorUrteil erfassten, im Zustand der Zurechnungsfähigkeit begangenen) als Anlasstaten nicht infrage komme (vgl Ratz, WKStPO § 281 Rz 671). Die Bezugnahme des vorliegenden Urteils auf § 31 StGB, der ausschließlich im Blick hat, kann beides bedeuten. Die Prüfung auf Vorliegen der zeitlichen Voraussetzungen des § 31 StGB im „Berichtigungsbeschluss“ und die Anführung der Bestimmungen der „§§ 31, 40 StGB“ im Ausspruch nach [§ 430 Abs 2 iVm] § 260 Abs 1 Z 4 StPO indizieren jedenfalls, dass das Gericht auch wirklich – (wenngleich im Sanktionsausspruch nicht sichtbar geworden [RISJustiz RS0088469], so doch verfehlt und daher Nichtigkeit nach Z 11 erster Fall begründend) eine erweiterte Strafbefugnis im dargestellten Sinn angenommen hat.
Der aufgezeigte Rechtsfehler zog die Aufhebung des gemäß §§ 31, 40 StGB unter Bedachtnahme auf ein Strafurteil erfolgten, solcherart aber nach dem StGB nicht möglichen Einweisungsausspruch nach sich (vgl RISJustiz RS0088469).
Das in der Hauptverhandlung aufrecht erhaltene Gutachten des Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychiatrie vom (ON 49) reicht zur Erstellung der Prognoseentscheidung – aktuell – nicht aus, weil der derzeitige Zustand des Betroffenen nicht mit der erforderlichen Sicherheit beurteilt werden kann (zur Möglichkeit einer bloß kassatorischen Entscheidung des – zur Entscheidung in der Sache selbst berechtigten – Obersten Gerichtshofs in der Sanktionsfrage vgl auch Ratz, WKStPO § 285i Rz 4 f und § 288 Rz 20 und 28 ff; 15 Os 80/17d).
Im Umfang der Aufhebung der Unterbringungsanordnung war die Sache daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu verweisen.
Die Auffassung der Generalprokuratur, der Sanktionsrüge der Staatsanwaltschaft fehle es am Beschwerdeinteresse, wird vom Obersten Gerichtshof aus folgenden Erwägungen nicht geteilt:
Die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt nach § 21 Abs 1 StGB ist einem Strafurteil gleichzuhalten (Fabrizy, StPO13§ 433 Rz 1). Die Maßnahmenanordnung stellt einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO dar (Murschetz, WKStPO § 433 Rz 15; Ratz in WK2 StGB Vor §§ 21–25 Rz 13). Nach § 433 StPO kann das Urteil in sinngemäßer Anwendung der §§ 281, 283 StPO zugunsten und zum Nachteil des Angeklagten mit Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angefochten werden. Die Rechtsmittelbefugnis ergibt sich aus §§ 282, 283 StPO (vgl dazu Murschetz, WKStPO § 433 Rz 2). Die rechtsirrige Anwendung des § 31 StGB bewirkt Nichtigkeit aus Z 11 erster Fall StGB. Der Nichtigkeitsgrund der Z 11 des § 281 Abs 1 StPO kann von der Staatsanwaltschaft sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil des Betroffenen geltend gemacht werden. Einen nachteiligen Einfluss verlangt § 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO im Gegensatz zu anderen Bestimmungen (vgl § 281 Abs 3 StPO) nicht. Der Nachteil des § 290 Abs 1 StPO ist mit der Beschwer des § 282 StPO nicht ident (RISJustiz RS0120170; Ratz, WKStPO § 282 Rz 1).
Mit ihrer angemeldeten Berufung war die Staatsanwaltschaft auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0110OS00131.17Z.1212.000 |
Schlagworte: | Strafrecht; |
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