OGH vom 01.03.2022, 11Os13/22d (11Os14/22a, 11Os15/22y)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. BachnerForegger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kostersitz als Schriftführer in der Strafsache gegen * A* wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, AZ 7 U 141/19t des Bezirksgerichts Leopoldstadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom (ON 20 der UAkten) sowie Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur Generalanwalt Mag. Leitner, des Angeklagten und seiner Verteidigerin Mag. RathbauerMalcher zu Recht erkannt:
Spruch
Es verletzen
1./ die Unterlassung der Beschlussfassung auf vorläufige Einstellung des Verfahrens in der Hauptverhandlung am § 203 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO;
2./ die in der am gemäß § 276a StPO neu durchgeführten Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Vernehmung des Zeugen * M* vor der Polizei und in der Hauptverhandlung am § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;
3./ das Abwesenheitsurteil vom in seinem Zuspruch an den „Privatbeteiligten“ * L* §§ 67 Abs 2, 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO.
Das Urteil vom wird aufgehoben und die Sache zur Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens an das Bezirksgericht Leopoldstadt verwiesen.
Text
Gründe:
[1] Aufgrund einer – der Staatsanwaltschaft Wien am zur Kenntnis gebrachten – Anzeige vom führte die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 134 BAZ 556/18t ein Verfahren gegen * A* wegen des Verdachts, dieser habe am den PKW des * L* vorsätzlich beschädigt (ON 2), und ordnete hiezu am die Vernehmung des Beschuldigten zum Sachverhalt an (ON 1 S 1; ON 3).
[2] Nach am durchgeführter Vernehmung (ON 4 S 11 ff) trat die Staatsanwaltschaft zunächst am gemäß § 204 Abs 3 StPO zur Herbeiführung eines Tatausgleichs vorläufig von der Verfolgung zurück, setzte nach dessen Scheitern (ON 5) das Verfahren am gemäß § 205 Abs 2 Z 1 StPO fort (ON 1 S 2) und erhob Strafantrag (ON 6).
[3] In der am beim Bezirksgericht Leopoldstadt zu AZ 7 U 141/19t durchgeführten Hauptverhandlung bot die Einzelrichterin nach Vernehmung auch des Zeugen * M* dem Angeklagten (erneut) ein diversionelles Vorgehen (gemäß §§ 199, 203 StPO) an und stellte das Verfahren schließlich nach sofortiger Bezahlung des Pauschalkostenbeitrags und mit der Weisung, den Schaden bis gutzumachen, gemäß §§ 199, 203 (Abs 1) StPO unter Setzung einer Probezeit von einem Jahr vorläufig ein (ON 9 S 4).
[4] Nachdem A* der Weisung trotz entsprechender Erinnerung in weiterer Folge nicht nachgekommen war, setzte das Bezirksgericht das Verfahren mit Beschluss vom 10. März (richtig) 2020 gemäß §§ 199, 205 Abs 2 Z 1 StPO fort und beraumte nach dessen (am eingetretener) Rechtskraft eine weitere Hauptverhandlung für an (ON 1 S 5 ff, ON 11).
[5] In der am (gemäß § 276a StPO neu) durchgeführten Hauptverhandlung bekräftigte der Angeklagte erneut seine Bereitschaft, den Schaden gutzumachen, woraufhin das Gericht protokollierte, dass „dem Angeklagten der IBAN des Opfers schriftlich mitgeteilt wird und der Angeklagte den Schaden bis wiedergutzumachen hat“, und den Beschluss auf Vertagung der Hauptverhandlung „zur neuerlichen Durchführung der diversionellen Maßnahme“ auf unbestimmte Zeit fasste (ON 13).
[6] Hiezu hielt das Bezirksgericht in einem Aktenvermerk vom ausdrücklich fest, dass dem Angeklagten hiemit ein Anbot einer vorläufigen Einstellung unter Bestimmung einer Probezeit von einem Jahr gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO gegen Zahlung eines Pauschalkostenbeitrags und Schadensgutmachung unterbreitet worden sei (ON 14); dem Angeklagten gab es mit Note vom die Kontodaten des Geschädigten bekannt (ON 1 S 9).
[7] Als der Angeklagte die zugesagte Schadensgutmachung trotz entsprechender Erinnerungen (ON 1 S 9 f, ON 17) nicht nachwies, beraumte das Bezirksgericht am schließlich eine Hauptverhandlung für an, dies mit der neuerlichen, an den Angeklagten gerichteten Aufforderung, eine allfällige zwischenzeitliche Schadensgutmachung umgehend nachzuweisen (ON 1 S 11).
[8] Obwohl A* diese Ladung am ausgefolgt worden war (ON 19 S 2), kam er zur Hauptverhandlung am nicht. Das Bezirksgericht führte die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (gemäß § 276a StPO neu) durch, verlas unter anderem die Protokolle über die polizeiliche (ON 2 S 13 ff) sowie die am erfolgte gerichtliche (ON 9 S 3 f) Vernehmung des Zeugen M* (ON 19 S 2) und sprach den Angeklagten in weiterer Folge mit Urteil vom selben Tag unter Verhängung einer Geldstrafe im Sinn des Strafantrags des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB schuldig. Zudem sprach es dem Geschädigten L* „gemäß § 369 StPO“ den Betrag von 881,30 Euro zu (ON 19 und 20).
[9] Dass das Bezirksgericht in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen wäre, dass sich L* dem Verfahren zuvor als Privatbeteiligter anzuschließen erklärt gehabt hätte, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.
[10] Das Abwesenheitsurteil wurde dem Angeklagten zusammen mit dem Protokoll über die Hauptverhandlung und einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung am eigenhändig ausgefolgt (ON 1 S 12).
[11] Am brachte A* durch Einwurf in den Einlaufkasten des Bezirksgerichts Leopoldstadt ein als „Einspruch“ bezeichnetes Schreiben vom ein, in welchem er unter Anschluss eines ausgedruckten „Screenshots“ (einer Banküberweisung) darauf verwies, den Schaden auftragsgemäß bereits am beglichen zu haben (ON 22).
Rechtliche Beurteilung
[12] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen folgende Vorgänge mit dem Gesetz nicht in Einklang:
[13] 1./ Liegen die entsprechenden Voraussetzungen für ein Vorgehen gemäß §§ 198 Abs 1 Z 3, 203 StPO vor und hat sich der Angeklagte – wie hier (ON 13 S 2) – ausdrücklich bereit erklärt, bestimmte Pflichten zu erfüllen (§ 203 Abs 2 StPO), hat das erkennende Gericht das Verfahren gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO vorläufig einzustellen. Eine derartige Einstellung hat in Beschlussform zu ergehen (§§ 199, 209 Abs 2 erster Satz StPO; RIS-Justiz RS0118013; Schroll, WK-StPO § 209 Rz 16).
[14] Da der Angeklagte in der Hauptverhandlung vom ein vom Gericht erkennbar gestelltes Anbot eines diversionellen Vorgehens annahm, hätte das Erstgericht – das gemäß § 205 Abs 3 letzter Satz StPO an sein Anbot gebunden war (Immutabilitätsprinzip; vgl Schroll, WK-StPO § 203 Rz 10) – einen Beschluss auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO fassen müssen.
[15] Indem sich das Bezirksgericht darauf beschränkte, die Hauptverhandlung „zur neuerlichen Durchführung der diversionellen Maßnahme“ zu vertagen, dem Angeklagten mit Note vom die Kontodaten des Opfers (ON 1 S 9) zu übermitteln und ihn mit Note vom aufzufordern, dem Gericht die Schadensgutmachung binnen sieben Tagen nachzuweisen (ON 1 S 9 f, ON 17), ohne das Verfahren ausdrücklich beschlussmäßig vorläufig einzustellen, verletzte es §§ 199, 203 Abs 1 StPO.
[16] Im Übrigen wäre nach – hier bei gesetzeskonformer Verfahrensführung vorzunehmender – vorläufiger Verfahrenseinstellung durch das Gericht gemäß § 203 Abs 1 iVm § 199 StPO eine Fortsetzung des Strafverfahrens nur aus den in § 205 Abs 2 Z 2 StPO angeführten Gründen zulässig gewesen, über die das Gericht zwingend mit – entsprechend zuzustellendem – Beschluss entscheiden muss (§ 209 Abs 2 erster Satz StPO; RIS-Justiz RS0131501; vgl Schroll, WK-StPO § 205 Rz 23, § 209 Rz 15) und der bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses das (auflösend bedingte) Verfolgungshindernis der vorläufigen Verfahrenseinstellung entgegensteht (Schroll, WK-StPO § 205 Rz 21). Eine bloße Ladung zu einem (weiteren) Hauptverhandlungstermin entspricht diesen Voraussetzungen nicht (vgl 15 Os 50/18v).
[17] 2./ Nach der gemäß § 447 StPO auch für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht geltenden Regelung des § 252 Abs 1 StPO dürfen ua Protokolle über die Vernehmung von Zeugen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen (Abs 1 Z 1 bis 4 leg cit) verlesen werden. Da keiner dieser Ausnahmetatbestände vorlag, insbesondere aus dem Fernbleiben eines Angeklagten von der Hauptverhandlung dessen Zustimmung zur Verlesung im Sinn der Z 4 des § 252 Abs 1 StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103), war die in der am gemäß § 276a StPO neu durchgeführten Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Protokolle über die Vernehmung des Zeugen M* vor der Polizei (ON 2 S 13 ff) und in der Hauptverhandlung am (ON 9 S 3 f) unzulässig und verletzte § 252 Abs 1 StPO.
[18] Bleibt anzumerken, dass darin kein Nachteil für den Angeklagten zu erblicken ist, weil dieser Zeuge in einer vorangegangenen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten zum – weitgehend unstrittigen – Tathergang vernommen worden war (ON 9 S 3 f; vgl 15 Os 56/15x).
[19] 3./ Ein Privatbeteiligtenzuspruch gemäß §§ 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO setzt – nach dem insoweit auch im Strafverfahren geltenden Antragsprinzip (vgl § 405 erster Satz ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist) – voraus, dass sich das Opfer gemäß § 67 Abs 2 StPO dem Strafverfahren als Privatbeteiligter angeschlossen hat (Korn/Zöchbauer, WK-StPO § 67 Rz 8).
[20] Dass diese prozessuale Tatsache vorgelegen wäre, hat das Bezirksgericht im Urteil nicht angenommen (und ist im Übrigen auch den Akten nicht zu entnehmen). Die Teilnahme des Geschädigten am vom Verein Neustart geleiteten Versuch der Herbeiführung des von der Staatsanwaltschaft gemäß § 204 Abs 3 StPO angestrebten, letztlich aber gescheiterten Tatausgleichs (ON 1 S 2, ON 5 S 3) genügt dazu nicht. Der mit Urteil vom erfolgte Zuspruch von 881,30 Euro an L* (ON 19 S 3, ON 20 S 1) verletzt daher §§ 67 Abs 2, 366 Abs 2, 369 Abs 1 StPO (vgl 13 Os 184/08w).
[21] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich diese Gesetzesverletzungen (mit Ausnahme jener zu 2./) zum Nachteil des Angeklagten auswirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Urteil aufzuheben und die Sache an das Bezirksgericht Leopoldstadt zur Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens zu verweisen.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2022:0110OS00013.22D.0301.000 |
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