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OGH vom 20.10.2009, 10ObS156/09b

OGH vom 20.10.2009, 10ObS156/09b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Markus Kaspar (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Doris S*****, vertreten durch Mag. Sonja Frager, Rechtsanwältin in Krems, gegen die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, Kremser Landstraße 8, 3100 St. Pölten, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rückforderung des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld (Streitwert 2.217,96 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 11/09z-10, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 7 Cgs 226/08f-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die beklagte Gebietskrankenkasse gewährte der Klägerin anlässlich der Geburt ihrer Tochter Nadine am für die Zeit vom bis Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld. Mit Bescheid vom widerrief die beklagte Partei die Zuerkennung des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld für den genannten Zeitraum und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz des Betrags von 2.217,96 EUR binnen vier Wochen, weil im Jahr 2004 der gemäß § 8 KBGG maßgebliche Gesamtbetrag der Einkünfte der Klägerin 5.630,51 EUR betragen und daher den Grenzbetrag von 5.200 EUR (§ 9 Abs 3 KBGG) überstiegen habe.

Die dagegen erhobene Klage ist darauf gerichtet, die beklagte Partei für die Zeit vom bis zur Gewährung des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß und zum Verzicht auf dessen Rückforderung in Höhe von 2.217,96 EUR zu verpflichten. Es liege ein Härtefall vor, weil der Grenzbetrag um weniger als 15 % überschritten worden sei. Die Überschreitung sei nicht vorhersehbar gewesen.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin den Zuschuss zum Kinderbetreuungsgeld für die Zeit vom bis unter Berücksichtigung bereits erbrachter Leistungen zu bezahlen. Seiner Entscheidung legte es noch folgenden für das Revisionsverfahren relevanten Sachverhalt zugrunde:

Im Jahr 2004 erzielte die Klägerin einen Gesamtbetrag der Einkünfte von 5.630,51 EUR, der den Grenzbetrag gemäß § 9 Abs 3 KBGG von 5.200 EUR um weniger als 15 %, nämlich um nur 8,27 % überschritt. Die Klägerin war vom bis in der Filiale der Firma B***** in K***** mit 20 Wochenstunden beschäftigt und verdiente dort rund 300 EUR netto monatlich.

Vom bis war die Klägerin bei der Firma S***** in K***** - ebenfalls mit 20 Wochenstunden - beschäftigt und verdiente dort monatlich 430 EUR netto. Vier Wochen nachdem die Klägerin dort ihren Dienst angetreten hatte kündigte überraschend eine andere Verkäuferin, sodass der Vorgesetzte der Klägerin von ihr verlangte, an jedem der fünf Arbeitstage pro Woche eine Stunde länger zu arbeiten.

In weiterer Folge übersiedelte die Klägerin von T*****, wo sie bisher gewohnt hatte, nach G***** und wurde von der Firma S***** in die Filiale W***** versetzt, wo sie vom bis beschäftigt war und ebenfalls für 20 Wochenstunden rund 430 EUR monatlich verdiente.

In seiner rechtlichen Beurteilung gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, die Überschreitung Zuverdienstgrenze sei geringfügig iSd § 1 lit a der KBGG-Härtefälle-Verordnung und auch unvorhersehbar gewesen, weil die Kündigung der Kollegin der Klägerin und die dadurch notwendig gewordene Mehrarbeit überraschend erfolgt sei. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge, änderte das Ersturteil im klageabweisenden Sinn ab, verpflichtete die Klägerin (in Raten) zum Rückersatz des zu Unrecht bezogenen Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld von 2.217,96 EUR für den Zeitraum bis und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Begründend führte es - soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung - aus:

Abgesehen davon, dass sich aus den Feststellungen nicht ergebe, ob die Überschreitung der Zuverdienstgrenze ausschließlich durch die von der Klägerin zu verrichtende Mehrarbeit hervorgerufen worden sei, stelle die zeitweise Notwendigkeit, Mehrstunden zu leisten, ebenso wenig ein unvorhersehbares Ereignis dar wie Schwierigkeiten bei der Berechnung der Grenzbeträge bzw Freigrenzen. Dass von einem Arbeitnehmer fallweise die Verrichtung von Mehr- bzw Überstunden verlangt werde, sei ein im Arbeitsleben völlig üblicher Vorgang. Es sei als bekannt vorauszusetzen, dass die Leistung von Mehr- und Überstunden - sofern nicht Zeitausgleich vereinbart wurde - zum Bezug eines höheren Entgelts führe. Komme es daher durch Leistung von Mehrund/oder Überstunden zu einer Überschreitung der Zuverdienstgrenze, so könne diese nicht als unvorhersehbar iSd § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung qualifiziert werden.

Die Revision sei zulässig, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Anwendbarkeit des § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung bestehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Beurteilung des Berufungsgerichts den zuletzt ergangenen Entscheidungen des Senats zur Frage der Unvorhersehbarkeit iSd § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung widerspricht (10 ObS 143/09s, 10 ObS 145/09k jeweils vom ) und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Im vorliegenden Fall ist von den Gerichten (auch) die Frage zu prüfen, ob hinsichtlich der Rückforderung des Zuschusses zum Kinderbetreuungsgeld der Härtefalltatbestand des § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung erfüllt ist. Prüfungen des Tatbestands dieser Bestimmung stellen ein „vorgeschaltetes" Verwaltungsverfahren dar; in einem (wie hier) nachfolgenden Gerichtsverfahren ist daher auch von den Sozialgerichten gegebenenfalls das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 1 lit a der KBGG-Härtefälle-Verordnung zu überprüfen (stRsp; 10 ObS 63/09a; 10 ObS 91/09v; 10 ObS 144/09p). Die nach § 9 Abs 3 KBGG (idF Nov 2003 [BGBl I 2003/28]) maßgebende Einkommensgrenze von 5.200 EUR wurde durch die gemäß § 8 KBGG für das Jahr 2004 ermittelten Einkünfte der Klägerin unbestritten um 430,51 EUR (= ca 8 %) überschritten. Es liegt daher eine bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze iSd § 1 lit a KBGG-Härtefälle-Verordnung vor, sodass noch zu prüfen ist, ob diese bloß geringfügige Überschreitung der Zuverdienstgrenze für die Klägerin unvorhersehbar war.

Das Kriterium der „Unvorhersehbarkeit" ist dann gegeben, wenn die Überschreitung der Zuverdienstgrenze trotz Anlegung eines zumutbaren Sorgfaltsmaßstabs nicht erkannt werden konnte (RIS-Justiz RS0124751). Den Leistungsbezieher trifft eine Überprüfungspflicht hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Einkünfte. Dies zeigt sich auch darin, dass der Gesetzgeber mit dem Verzicht auf den Bezug von Kinderbetreuungsgeld (§ 5 Abs 6 KBGG) die Möglichkeit geschaffen hat, Einkünfte, welche im Verzichtszeitraum erzielt wurden, bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte im Sinn des § 8 KBGG unberücksichtigt zu lassen. Gerade durch diese Verzichtsmöglichkeit hat der Gesetzgeber auch auf Fälle mit unregelmäßigen Einkünften Bedacht genommen (10 ObS 143/09s, 10 ObS 145/09k).

Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen reichen zur Beantwortung der Frage, ob im Anlassfall die Überschreitung der Zuverdienstgrenze unvorhersehbar war, nicht aus:

Die beklagte Partei übernimmt in diesem Zusammenhang die Argumentation des Berufungsgerichts, es sei gerade nicht festgestellt worden, dass die Überschreitung der Zuverdienstgrenze ausschließlich durch die von der Klägerin zu verrichtende Mehrarbeit hervorgerufen wurde, und dass die Klägerin schon von vornherein den im Arbeitsleben völlig üblichen Vorgang der verlangten Verrichtung von Mehr- bzw Überstunden hätte berücksichtigen müssen.

In gleicher Weise hat sich die in den beiden bereits zitierten Verfahren (10 ObS 143/09s, 10 ObS 145/09k) beklagte Partei darauf berufen, „Überstunden" (dort: in Form von Supplierstunden im Bereich der Lehrerschaft) seien „üblich und fester Bestandteil des Arbeitslebens", weshalb das Kriterium der Unvorhersehbarkeit nicht erfüllt sei. Keinesfalls überraschend und damit auch nicht unvorhersehbar sei, dass diese Tätigkeiten entlohnt würden und sich damit die Bezüge der Revisionswerberin erhöhten; dem hätte die Klägerin durch einen Verzicht auf das Karenzgeld Rechnung tragen müssen.

Der Senat hat sich damit bereits auseinandergesetzt und ausgesprochen, dass dieser Standpunkt nicht geteilt werden kann:

müsste doch ansonsten im Arbeitsleben (etwa im Hinblick auf die aus der Treuepflicht erwachsende Pflicht zur Leistung honorierter Überstunden oder Mehrarbeitsstunden gemäß §§ 7, 8, 19d Abs 3 und 20 AZG) praktisch jederzeit mit Mehreinkünften gerechnet werden, denen durch einen Verzicht auf das Karenzgeld (Kinderbetreuungsgeld) Rechnung getragen werden müsste. Damit würde aber das in § 1 lit a der KBGG-Härtefälle-Verordnung zur Einschränkung der Rückforderbarkeit enthaltene Kriterium der „Unvorhersehbarkeit" der Überschreitung der Zuverdienstgrenze sinnentleert, wenn bei Erkennbarkeit eines jeden Mehrverdienstes - unabhängig von Höhe und Dauer - aus Sicherheitsgründen immer ein Verzicht auf das Karenzgeld abgegeben werden müsste (10 ObS 143/09s, 10 ObS 145/09k). Hier hat das Erstgericht aber keine Feststellung über die Behauptung der Klägerin getroffen, die Auszahlung nicht verbrauchter Urlaubstage und der angeordneten Mehrstunden hätten bewirkt, dass sie nun ein Einkommen über der Zuverdienstgrenze habe, obwohl Mehrarbeitsstunden üblicherweise durch Zeitausgleich und nicht finanziell abgegolten würden. Es wird daher mit den Parteien zu erörtern und im Bestreitungsfall nach Aufnahme geeigneter Beweise festzustellen sein, wie hoch das nach § 8 KBGG berechnete Einkommen im Jahr 2004 unter der Annahme gewesen wäre, dass die Klägerin nur die Bezüge erzielt hätte, die den von ihr angenommenen Teilzeitbeschäftigungen entsprochen hätten (vgl 10 ObS 143/09s). Jedenfalls wird der Urteilsspruch in der vorliegenden Rückersatzsache entsprechend der herrschenden Praxis zu formulieren sein (vgl Neumayr in ZellKomm § 89 ASGG Rz 21 f; 10 ObS 55/09z uva).

Da es somit einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.