VfGH vom 20.06.2001, B1960/99
Sammlungsnummer
16207
Leitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch verfassungswidrige Gesetzesauslegung bei Versagung von Weiterbildungsgeld für eine karenzierte Vertragsbedienstete der Gemeinde Wien;
verfassungskonforme Gesetzesauslegung in Hinblick auf eine Geltung der maßgeblichen Bestimmungen auch für die der Arbeitslosenversicherungspflicht unterliegenden, in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis zu einer Gebietskörperschaft stehenden Dienstnehmer geboten
Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Vertreter die mit 29.500 S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Mit dem angefochtenen Berufungsbescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien (Leistungsausschuß) wurde die Abweisung eines Antrages der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung von Weiterbildungsgeld gemäß § 26 Abs 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) in Verbindung mit Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (AVRAG) bestätigt. Voraussetzung für die Gewährung von Weiterbildungsgeld sei die Inanspruchnahme einer Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG. Nach dessen § 1 Abs 1 gelte dieses Gesetz (zwar) für Arbeitsverhältnisse, die auf privatrechtlichem Vertrag beruhten, ausgenommen davon seien (jedoch) nach § 1 Abs 2 Z 1 Arbeitsverhältnisse zu Ländern, Gemeindeverbänden und Gemeinden. Als bei der Gemeinde Wien aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages tätige Sozialarbeiterin stehe der Beschwerdeführerin sohin Weiterbildungsgeld nicht zu.
Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit vor dem Gesetz und Unversehrtheit des Eigentums sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes gerügt wird. Die in § 1 Abs 2 Z 1 AVRAG aufgestellten Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des Weiterbildungsgeldes bewirkten eine Diskriminierung der Beschwerdeführerin; sie erfülle sämtliche Anspruchsvoraussetzungen, habe jahrelang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet und somit auch einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsgeld erworben. Einer beim Verein für Bewährungshilfe beschäftigten Sozialarbeiterin sei für die Teilnahme an der gleichen Bildungsveranstaltung Weiterbildungsgeld gezahlt worden. Es gäbe keine objektive und vernünftig einleuchtende Begründung, warum der Bezug von Weiterbildungsgeld für Arbeitsverhältnisse zu Ländern, Gemeindeverbänden und Gemeinden ausgeschlossen sein solle. Insbesondere sei nicht ersichtlich, weshalb der Bezug einer Leistung, die durch Beitragszahlungen des Leistungsberechtigten erworben werde, davon abhängen solle, ob das Arbeitsverhältnis mit einer der genannten Institutionen eingegangen worden sei oder nicht. Die Beschwerde regt daher die Prüfung der Ausnahmebestimmung des § 1 Abs 2 Z 1 AVRAG an.
Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, verzichtete aber auf eine Gegenschrift; der (auf seine Bitte: wiederholt) zur Stellungnahme eingeladene Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit machte von dieser Gelegenheit nicht Gebrauch.
Im Verwaltungsakt erliegt eine vom Magistrat unterfertigte "Bescheinigung für die Beantragung von Weiterbildungsgeld bei einer Freistellung gegen Entfall der Bezüge nach § 12 AVRAG", wobei "§12 AVRAG" handschriftlich durch "§34 VBO 95" ersetzt wurde.
II. Die Beschwerde ist im Ergebnis begründet.
1. Anders als Dienstnehmer in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis (§1 Abs 2 litb AlVG) unterliegen auch die in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis zum Bund, zu den Ländern, Gemeindeverbänden oder Gemeinden uä. stehenden Dienstnehmer der Arbeitslosenversicherungspflicht (§1 Abs 1 lita AlVG). Nach § 26 Abs 1 AlVG idF BGBl. I 139/1997 gebührt
"Personen, die eine Bildungskarenz gemäß § 11 oder eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes gemäß § 12 des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (AVRAG), BGBl. Nr. 459/1993, in Anspruch nehmen, und die Anwartschaft erfüllen, ... für diese Zeit ein Weiterbildungsgeld in der Höhe des Karenzgeldes gemäß § 7 KGG bei Erfüllung der nachstehenden Voraussetzungen:
1. Bei einer Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG muß die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme nachgewiesen werden.
2. Bei einer Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes gemäß § 12 AVRAG muß die Einstellung einer nicht nur geringfügig beschäftigten Ersatzarbeitskraft, die zuvor Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bezogen hat, nachgewiesen werden".
§ 11 Abs 1 AVRAG bestimmt, daß - sofern das Arbeitsverhältnis ununterbrochen drei Jahre gedauert hat - zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine Bildungskarenz gegen Entfall des Arbeitsentgeltes unter Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitnehmers und auf die Erfordernisse des Betriebes für die Dauer von mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr vereinbart werden "kann" (!). Der hier allerdings nicht einschlägige § 12 AVRAG sieht vor, daß eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes für die Dauer von mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr, für die eine Förderung aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung oder des Arbeitsmarktservice in Anspruch genommen wird, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu vereinbaren ist. Im übrigen gilt § 11 Abs 2 bis 4 AVRAG.
Nach § 1 Abs 1 AVRAG gilt dieses Bundesgesetz für Arbeitsverhältnisse, die auf einem privatrechtlichen Vertrag beruhen; ausgenommen davon sind jedoch gemäß § 1 Abs 2 Z 1 "Arbeitsverhältnisse zu Ländern, Gemeindeverbänden und Gemeinden".
§ 34 der Wiener Vertragsbedienstetenordnung lautet:
"Sonstiger Karenzurlaub
§ 34. (1) Dem Vertragsbediensteten kann auf Antrag ein
Karenzurlaub (Urlaub gegen Entfall der Bezüge) gewährt werden, wenn keine wichtigen dienstlichen Interessen entgegenstehen.
(2) Durch den Karenzurlaub gemäß Abs 1 wird, soweit er nicht ausdrücklich im öffentlichen Interesse gewährt wird, der Lauf der Dienstzeit im Ausmaß des halben Karenzurlaubes gehemmt.
(3) Die Gewährung eines Karenzurlaubes im öffentlichen Interesse bedarf der Zustimmung der gemeinderätlichen Personalkommisssion.
(4) Für einen Vertragsbediensteten dürfen Karenzurlaube, auf die kein Rechtsanspruch besteht und die nicht im öffentlichen Interesse gewährt werden, insgesamt zehn Jahre nicht übersteigen. Gleichartige Karenzurlaube, die in einem unmittelbar vorangegangenen Dienstverhältnis als Beamter der Gemeinde Wien verbraucht worden sind, sind anzurechnen.
(5) Der Karenzurlaub endet vorzeitig durch
1. ein Beschäftigungsverbot gemäß § 3 des Mutterschutz gesetzes 1979 und
2. einen Karenzurlaub oder eine Teilzeitbeschäftigung, auf die ein Rechtsanspruch besteht.
(6) Auf Antrag des Vertragsbediensteten kann nach Maßgabe des Dienstbetriebes und bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Gründe die vorzeitige Beendigung des Karenzurlaubes vereinbart werden."
Mit der Novelle BGBl. I 179/1999 wurde mit Wirksamkeit vom , mithin nach Erlassung des angefochtenen Bescheides, dem § 26 AlVG (als Abs 5) folgende Bestimmung angefügt:
"Eine Bildungskarenz nach gleichartigen bundes- oder landesgesetzlichen Regelungen ist wie eine Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG zu behandeln. Eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes nach gleichartigen bundes- oder landesgesetzlichen Regelungen ist wie eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes gemäß § 12 AVRAG zu behandeln. Die Zahlung eines Zuschusses zu den Weiterbildungskosten durch den Arbeitgeber steht der Gewährung von Weiterbildungsgeld nicht entgegen."
Der Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales über den einschlägigen Initiativantrag (2021 BlgNR 20.GP) führt dazu aus:
"Das Weiterbildungsgeld soll nicht nur bei einer Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG oder bei einer Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes gemäß § 12 AVRAG, sondern auch bei entsprechenden Vereinbarungen nach gleichartigen bundes- oder landesgesetzlichen Vorschriften gewährt werden können. Beispielsweise sollen die Dienstnehmer ausgegliederter Krankenanstalten, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung leisten und hinsichtlich der Stellung auf dem Arbeitsmarkt mit den in den Geltungsbereich des AVRAG einbezogenen Dienstnehmern vergleichbar sind, ein Weiterbildungsgeld erhalten können. Da diese nicht in den Geltungsbereich des AVRAG fallen, wären hier analoge gesetzliche Regelungen erforderlich. Die Dienstnehmer ausgegliederter Krankenanstalten sind in einigen Bundesländern Vertragsbedienstete des Landes, daher kann für diese aus kompetenzrechtlichen Gründen nur der jeweilige Landesgesetzgeber entsprechende Regelungen schaffen."
2. Daß Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht nach unsachlichen Kriterien gewährt oder versagt werden können, bedarf keiner näheren Darlegung. § 26 Abs 1 AlVG knüpft für das Weiterbildungsgeld in seiner Stammfassung an das AVRAG an. Mit diesem Gesetz wurden arbeitsvertragsrechtliche Bestimmungen an das Gemeinschaftsrecht angepaßt. Aus kompetenzrechtlichen Überlegungen wurden dabei Arbeitsverhältnisse zu Ländern, Gemeindeverbänden und Gemeinden ausgenommen. Indem allerdings das AlVG wiederum an das AVRAG anknüpfte, nahm es diese Beschränkung des Geltungsbereiches für das Weiterbildungsgeld, also für eine Leistung der auch die Vertragsbediensteten von Ländern, Gemeindeverbänden und Gemeinden erfassenden Arbeitslosenversicherung mit auf. Aus dem Blickwinkel des Arbeitslosenversicherungsrechts müßte eine solche Ausnahme aber aus besonderen Gründen sachlich gerechtfertigt sein.
Eine solche Rechtfertigung ist nicht zu sehen. Es liegt auf der Hand, daß der im Vertragsbedienstetenrecht (zB § 29b VBG oder eben § 34 Wiener VBO) vorgesehene Karenzurlaub denselben Zweck verfolgen (und dasselbe Ausmaß annehmen) kann wie die im allgemeinen Arbeitsrecht durch § 11 AVRAG gewährleistete Bildungskarenz. Dort wie da wird das Nähere durch Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestimmt. Der Maßgeblichkeit einer solchen Vereinbarung in Dienstverhältnissen zu einem Land, einem Gemeindeverband oder einer Gemeinde könnte nur der Umstand entgegenstehen, daß § 26 Abs 1 AlVG nur von der "Bildungskarenz gemäß § 11 ... (AVRAG)" spricht. Das Gesetz läßt nach Wortlaut und Zweck aber ohne weiteres die Auslegung zu, daß es sich um eine Bildungskarenz handeln muß, wie § 11 AVRAG sie gewährleistet. Eine Vereinbarung, wie sie § 11 AVRAG vor Augen hat, ist nämlich auch nach den Bestimmungen des Vertragsbedienstetenrechtes möglich. Es fehlt jeder Anhaltspunkt, daß der Gesetzgeber das Weiterbildungsgeld unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz nur für jene Karenzierungsvereinbarungen zu Weiterbildungszwecken gewähren wollte, die unter förmlicher Berufung auf § 11 AVRAG oder bloß im Geltungsbereich dieses Gesetzes getroffen werden. Das bedenkliche Ergebnis scheint vielmehr ausschließlich die Folge einer unzulänglichen Gesetzestechnik zu sein. Der Hinweis auf § 11 AVRAG kann - und muß daher - in verfassungskonformer Auslegung als Umschreibung jenes Typus von Vereinbarungen gelesen werden, den § 26 Abs 1 AlVG (bei Erfüllung der weiteren dort bestimmten Voraussetzungen) als Bildungskarenz vor Augen hat.
Unter diesen Umständen sieht der Verfassungsgerichtshof keinen Anlaß, Teile des § 26 Abs 1 AlVG in Prüfung zu ziehen; schon deshalb kommen auch Bedenken gegen § 1 Abs 2 Z 1 AVRAG nicht in Betracht.
Indem die Behörde das Erfordernis der verfassungskonformen Auslegung verkannte, hat sie die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt. Der Bescheid ist daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag sind 4.500 S an Umsatzsteuer und 2.500 S an Eingabegebühr enthalten.
Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs 4 Satz 1 VerfGG).