OGH vom 17.08.2010, 10Ob66/09t
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Petra Z*****, Medizinische Fachkraft, *****, vertreten durch Lindner Rock Rechtsanwälte OG in Graz, und ihres Nebenintervenienten Friedrich P*****, Student, *****, vertreten durch Eisenberger Herzog Rechtsanwalts GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei W***** Ges.m.b.H., *****, vertreten durch Held Berdnik Astner Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 51/09s 38, mit dem infolge den Berufungen der klagenden Partei und ihres Nebenintervenienten und der beklagten Partei das Teil- und Zwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 18 Cg 173/07x 23, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Teil-Zwischenurteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie einschließlich des bereits rechtskräftig abgewiesenen Teils insgesamt als Endurteil lauten:
„Das Klagebegehren,
die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 20.000 EUR samt 4 % Zinsen seit zu zahlen, und
es werde festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für alle zukünftigen Schäden aus dem Unfall in der Kletterhalle C*****, hafte,
wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen folgende Kosten zu ersetzen:
die mit 6.851,83 EUR (darin 1.158,64 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens,
die mit 6.830,87 EUR (darin 982,81 EUR Umsatzsteuer und 934 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und
die mit 2.200,09 EUR (darin 140,45 EUR Umsatzsteuer und 1.357,40 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin zog sich am bei einem Absturz in der von der beklagten Partei betriebenen Kletterhalle (bei der Benützung eines fix montierten Toprope Seils) schwere Verletzungen zu.
Die Toprope Seile in der Kletterhalle wiesen an dem für den Kletterer bestimmten Ende jeweils einen „Achterknoten“ auf, welcher mit einem Kabelbinder vor dem Öffnen gesichert wurde. In der Schlaufe des Knotens befanden sich zwei gegengleich eingehängte Karabiner, welche wiederum mit zwei weiteren Kabelbindern in der Schlaufe fixiert wurden. Bei dem von der Klägerin benutzten Toprope Seil waren die Karabiner jedoch nicht im Seil, sondern nur in den am Seil hängenden Kabelbindern eingehängt. Dieser Umstand wurde sowohl von der Klägerin als auch von ihrem Kletterpartner, dem Nebenintervenienten, im Rahmen des von der Hallenordnung vorgeschriebenen „Partnerchecks“ übersehen. Beim Abseilen rissen die Kabelbinder, wodurch die Klägerin aus einer Höhe von 12 Metern in die Tiefe stürzte.
Das Erstgericht bejahte die Haftung der beklagten Partei dem Grunde nach zu einem Drittel und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die beklagte Partei mit der Verwendung von Kabelbindern im Bereich der Verbindung von Seil und Karabiner eine zusätzliche Gefahrenquelle geschaffen habe. Es wäre aber möglich und zumutbar gewesen, zur Gefahrenabwehr auf Kabelbinder zu verzichten und auf Augenkarabiner zurückzugreifen, welche die Funktion der Kabelbinder gleichermaßen sicherstellen, ohne ein Sicherheitsrisiko zu schaffen.
In Bezug auf das Einhängen der Karabiner in die am Seil hängenden Kabelbinder traf es folgende Feststellung (Seite 9 des Ersturteils ON 23):
Es kann nicht festgestellt werden, wer die Karabiner nur in die Kabelbinder und nicht auch in das Seil eingehängt hat.
Das von der Klägerin, dem Nebenintervenienten und der beklagten Partei angerufene Berufungsgericht bestätigte im Ergebnis die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 1 : 2 zu Lasten der Klägerin, änderte jedoch die Begründung dahingehend, dass der beklagten Partei bloß aus der Verwendung von Kabelbindern, die zwar nicht üblich, aber auch nicht verboten seien, noch keine Verletzung der vertraglichen Schutzpflichten angelastet werden könne (Seite 24 der Berufungsentscheidung ON 38).
Eine Haftung der beklagten Partei zu einem Drittel ergebe sich jedoch aus der Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises. Da nämlich feststehe, dass ein (auf Werkvertragsbasis) für die beklagte Partei tätiger Kletterlehrer vier Stunden vor dem Unfallereignis die Karabiner aus der Seilschlaufe und den Kabelbindern ausgehängt und nach dem Kurs dieselben Karabiner wieder angebracht habe, in der Zwischenzeit niemand dieses Seil zum Klettern verwendet habe und die Karabiner bei der Benützung durch die Klägerin, die selbst keine Veränderung vorgenommen habe, nicht in der Seilschlaufe, sondern nur in den mit der Seilschlaufe verbundenen Kabelbindern eingehängt waren, sei nach der Lebenserfahrung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als typischer Geschehensablauf anzunehmen, dass der Kletterlehrer diese mangelhafte Verbindung zwischen Seil und Karabiner hergestellt habe (Seiten 25 ff der Berufungsentscheidung). Die beklagte Partei habe nach § 1313a ABGB für das Verhalten des Kletterlehrers einzustehen.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Entscheidungsgegenstand 20.000 EUR übersteige und dass die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig sei.
Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Abänderung im gänzlich klagsabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs und Zurückverweisungsantrag gestellt.
In den ihnen freigestellten Revisionsbeantwortungen beantragen die Klägerin und der Nebenintervenient, die Revision der beklagten Partei zurückzuweisen, in eventu, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Hinblick auf die Klärung der Grenze zwischen Anscheins und Indizienbeweis zulässig; sie ist auch berechtigt.
Als erhebliche Rechtsfrage macht die beklagte Partei in ihrer Revision (in der sie nicht explizit auf die Frage eingeht, ob ihr der Kletterlehrer als Erfüllungsgehilfe zuzurechnen ist) die Frage der Zulässigkeit des Anscheinsbeweises bei Vorliegen einer Negativfeststellung hinsichtlich des natürlichen Kausalzusammenhangs geltend. Angesichts der erstinstanzlichen Negativfeststellung sei die ohne Erörterung der Frage des Anscheinsbeweises zustande gekommene Berufungsentscheidung als Überraschungsentscheidung zu qualifizieren.
Dazu wurde erwogen:
1. Das Erstgericht hat die vom Berufungsgericht übernommene (Negativ )Feststellung getroffen, wonach nicht festgestellt werden kann, wer die Karabiner nur in die Kabelbinder und nicht auch in das Seil eingehängt hat. Das Berufungsgericht hat die Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bejaht und aus verschiedenen Umständen auf einen typischen Geschehensablauf geschlossen, wonach der für die beklagte Partei tätige Kletterlehrer die mangelhafte Verbindung zwischen Seil und Karabiner hergestellt habe.
Der Anscheinsbeweis beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist. Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufs, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offenlässt, gibt für den Beweis des ersten Anscheins keinen Raum. Vom Beweis des ersten Anscheins ist der Indizienbeweis zu unterscheiden (RIS Justiz RS0040290), der darauf gerichtet ist, durch den Beweis bestimmter Hilfstatsachen dem Gericht die volle Überzeugung des Vorhandenseins der direkt nicht oder nur schwer zu beweisenden Haupttatsache zu vermitteln (2 Ob 84, 85/88 ua; Bumberger , Zum Kausalitätsbeweis im Haftpflichtrecht [2003] 66).
Ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist, ob also die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass anstelle eines vom Gesetz geforderten Tatbestandsmerkmals ein anderes bewiesen werden darf, kann als Frage der rechtlichen Beurteilung auch vom Obersten Gerichtshof überprüft werden. Ob der Anscheinsbeweis erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Frage der Beweiswürdigung (RIS Justiz RS0022624). Ob ein Indizienbeweis erbracht werden konnte, gehört zur unanfechtbaren Beweiswürdigung (9 ObA 177/07f = ZAS 2009/29, 186 [ Klicka ]; RIS Justiz RS0040196 [T19], RS0112460).
Die ausschließlich dem Tatsachenbereich zuzuordnende Frage, ob die Verletzung der Klägerin darauf zurückzuführen ist, dass ein Kletterlehrer die Karabiner vor der Benützung durch die Klägerin nicht in die Seilschlaufe, sondern nur in die mit der Seilschlaufe verbundenen Kabelbinder eingehängt hat, ist einem Anscheinsbeweis im dargestellten Sinne nicht zugänglich, weil es sich hier nicht um irgendeinen typischen Geschehensablauf handelt, der es rechtfertigen könnte, anstelle der ganz konkreten Beantwortung der zu lösenden Tatfrage eine andere Tatsache als erwiesen anzunehmen und daraus unter Berufung auf einen typischen Erfahrungszusammenhang die Beantwortung der zu lösenden Tatfrage abzuleiten (2 Ob 84, 85/88). Vielmehr geht es im vorliegenden Fall darum, ob die in den vom Berufungsgericht verwerteten Verfahrensergebnissen enthaltenen Indizien dafür ausreichen, bestimmte Feststellungen über den Unfallsablauf zu treffen oder nicht. Dies hat das Gericht unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse der gesamten Verhandlung und Beweisführung nach freier Überzeugung zu beurteilen (§ 272 Abs 1 ZPO). Zweifellos spielen dabei auch Wahrscheinlichkeitserwägungen eine Rolle; diese gehören aber ausschließlich in den Bereich der Beweiswürdigung. Die Frage, ob der Kletterlehrer die Karabiner nur in die Kabelbinder eingehängt hat, ist eine Tatsachenfrage, deren Lösung ihre eindeutige Bejahung oder Verneinung erfordert etwa auch über die Heranziehung von Indizien. Ein typischer Beweisnotstand, der über eine Prima facie Schlussfolgerung überbrückt werden könnte, liegt aber im gegebenen Fall nicht vor, weshalb die rechtliche Beurteilung auf der vom Berufungsgericht übernommenen Feststellung aufzubauen hat, dass nicht festgestellt werden kann, wer die Karabiner nur in die Kabelbinder und nicht auch in das Seil eingehängt hat.
Damit erübrigt sich auch ein Eingehen auf die Frage, ob der Kletterlehrer der beklagten Partei (als Erfüllungsgehilfe) zuzurechnen ist.
2. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass auch vertragliche Verkehrssicherungspflichten nicht überspannt werden dürfen und dass für den Betreiber einer Sportstätte nur die vertragliche Nebenpflicht besteht, die Benützer durch zumutbare Maßnahmen vor Schäden zu bewahren und vor erkennbaren Gefahren zu schützen. In diesem Sinn war die beklagte Partei nicht gehalten, die Anlage „durchgehend“, insbesondere in Kletterpausen auf vorangegangene Manipulationen von Benutzern an den Seilschlaufen zu kontrollieren.
In Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht (und entgegen der Ansicht des Erstgerichts) bestand auch keine Verpflichtung, die Verwendung von Kabelbindern zu dem festgestellten Zweck zu unterlassen und statt der gewählten Kombination die damals bereits am Markt erhältlichen Augenkarabiner zu verwenden. Abgesehen davon, dass bei der Einschätzung der Gefährlichkeit einer Anlage auch die Pflichten ihrer Benützer einzukalkulieren sind ( Harrer in Schwimann , ABGB 3 VI § 1295 Rz 45, aber auch 49 ff) in concreto war die (eingeschränkte) Funktion der Kabelbinder insbesondere bei korrekter Durchführung des Partnerchecks erkennbar , sind auch im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten nur zumutbare Maßnahmen geboten ( Kodek in Kletečka/Schauer , ABGB ON 0.02 § 1294 Rz 41). Nach der Rechtsprechung werden die Verkehrssicherungspflichten eingehalten, wenn dem dem jeweiligen Stand der Technik geltenden Standard durch zumutbare Instandhaltungs und Verbesserungsarbeiten entsprochen wird (RIS Justiz RS0020749 [T12 und T 15]); die laufende Adaptierung an einen höchstmöglichen Sicherheitsstandard einer Anlage wird nicht generell geschuldet (ein solches Schutzniveau könnte aber vereinbart werden). In diesem Sinn ist zwar das Gefahrenpotenzial bei der Verwendung einer Kombination aus Karabinern und Kabelbindern gegenüber der Verwendung von Augenkarabinern erhöht; aus den Verkehrssicherungspflichten ist aber unter den gegebenen Umständen, insbesondere unter Berücksichtigung der eigenständigen Pflichten der Benützer zur Vermeidung von Lebensgefahr und des Fehlens eines „Vorunfalls“, für den Zeitpunkt des Unfalls keine Verpflichtung zum Austausch abzuleiten.
3. Damit fehlt es aber an einer Grundlage für eine Haftung der beklagten Partei, weshalb das Klagebegehren abzuweisen ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 ZPO. Zu Recht weist der Nebenintervenient darauf hin, dass die Bemessungsgrundlage vor dem Obersten Gerichtshof 10.666,67 EUR (6.666,67 EUR + 4.000 EUR) und nicht 32.000 EUR beträgt. Auch in Bezug auf das Berufungsverfahren ist zu bemerken, dass sich die Berufung der beklagten Partei gegen den Zuspruch von 10.666,67 EUR (dem Grunde nach) und die Berufung der Klägerin und des Nebenintervenienten gegen die Abweisung von 21.333,33 EUR richtet.