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OGH 06.12.2011, 10ObS154/11m

OGH 06.12.2011, 10ObS154/11m

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj M*****, vertreten durch die Eltern T***** und A*****, diese vertreten durch Dr. Martin Holzer, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, gegen die beklagte Partei Land Steiermark, 8010 Graz, Hofgasse 15, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 68/11s-18, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom setzte die beklagte Partei das dem Kläger mit Bescheid vom in Höhe der Stufe 3 zuerkannte Pflegegeld ab auf die Stufe 2 herab.

Der am geborene Kläger leidet an einer angeborenen Verkürzung des linken Oberschenkelknochens. Zwecks Verlängerung des Knochens wurden zahlreiche operative Eingriffe durchgeführt; es wurde ein Fixateur extern eingesetzt. Die Verbände des Fixateurs müssen täglich gewechselt werden. Diese Tätigkeit könnte ein ansonsten gesunder Mensch nach entsprechender Einschulung selbst vornehmen. Dem Kläger ist das Wechseln der Verbände aber aufgrund von Einschränkungen von Seiten der Gliedmaßen nicht möglich. Den Verbandswechsel führt ausschließlich seine Mutter durch, die dafür eingeschult wurde. Eine Observanz der Verbandswechsel durch den behandelnden Arzt ist stets erforderlich, da die Eintrittsstellen des Fixateurs kontrolliert werden müssen, um etwaige entzündliche Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu behandeln.

Zum Zeitpunkt der Gewährung des Pflegegelds im Jahr 2009 benötigte der Kläger Betreuung bzw Hilfestellung bei der täglichen Körperpflege, der Verrichtung der Notdurft, dem An- und Auskleiden sowie Mobilitätshilfe im engeren und weiteren Sinn. Wegen der erforderlichen Weiterstellung des Fixateurs war eine umfangreiche Nachbetreuung im Ausmaß von 30 Stunden (monatlich) erforderlich. Im Gewährungsverfahren wurde von einem Gesamtpflegebedarf von 145 Stunden monatlich ausgegangen.

Derzeit benötigt der Kläger weiterhin Hilfe bei der täglichen Körperpflege, bei der Verrichtung der Notdurft, dem An- und Auskleiden und bei der Einnahme von Medikamenten. Auch Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ist erforderlich. Mobilitätshilfe im engeren Sinn ist nur mehr in einem Teilumfang nötig, weil der Kläger mittlerweile mit Hilfe zweier Stützkrücken und orthopädischem Schuhwerk gehen und das linke Bein belasten kann, sodass er nur mehr für das Überwinden der Stiege im Wohnhaus seiner Eltern fremde Hilfe benötigt.

Das Erstgericht gab dem gegen den Bescheid auf Herabsetzung des Pflegegelds gerichteten Klagebegehren nicht Folge und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab das Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von 284,30 EUR (unter Anrechnung der erhöhten Familienbeihilfe und der bereits erbrachten gesetzlich anrechenbaren Vorleistungen) zu bezahlen. Es ging in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass ohne Berücksichtigung des Zeitaufwands für den täglichen Verbandswechsel ein Pflegebedarf von 118,5 Stunden monatlich gegeben sei. Der erforderliche Zeitaufwand für den Verbandswechsel sei deshalb außer Ansatz zu lassen, weil es sich dabei nicht um eine Betreuungsleistung, sondern um eine Leistung der medizinischen Hauskrankenpflege handle, die der Pflichtleistung der Krankenversicherung unterliege. Darauf, ob der Betroffene tatsächlich eine Leistung der medizinischen Hauskrankenpflege in Anspruch nehme, komme es nicht an.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegelds der Stufe 3 ab verpflichtete. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Ob eine Verrichtung systematisch der Pflege oder Krankenbehandlung zuzuordnen sei, richte sich danach, ob sie von einem nicht behinderten Menschen gewöhnlich selbst vorgenommen werden kann. Dabei komme es rein auf die Art der Verrichtung an, das Alter der betroffenen Person sei nicht maßgeblich. Da der Verbandswechsel gemäß § 84 Abs 4 Z 2 GuKG in den Tätigkeitsbereich der Pflegehelfer bei der Mitarbeit im Rahmen der therapeutischen Verrichtungen falle, stelle er keine Leistung der medizinischen Hauskrankenpflege dar. Auch wenn konkrete Feststellungen dazu fehlten, wie viel Zeit ein Verbandswechsel in Anspruch nehme, sei jedenfalls von einem Zeiterfordernis von zumindest zehn Minuten täglich, also fünf Stunden monatlich auszugehen. Unter Berücksichtigung dieses Zeitaufwands für den Verbandswechsel ergebe sich ein durchschnittlicher Gesamtpflegebedarf entsprechend der Pflegegeldstufe 3 von mehr als 120 Stunden monatlich.

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

Die Revisionswerberin macht im Wesentlichen geltend, Tätigkeiten nach § 84 Abs 4 GuKG - wie etwa der Verbandswechsel - fielen zwar grundsätzlich in den Bereich der Mitarbeit der Pflegehelfer bei therapeutischen und diagnostischen Verrichtungen. Derartige Maßnahmen dürften von Pflegehelfern aber nur im Einzelfall und lediglich nach schriftlicher Anordnung und unter Aufsicht von Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege oder von Ärzten durchgeführt werden (§ 84 Abs 4 Z 2 GuKG). Angehörige der Pflegehilfe seien zum Anlegen von Verbänden somit nur ausnahmsweise und keinesfalls selbstständig bzw eigenverantwortlich berechtigt. Daraus ergebe sich die Konsequenz, dass diese Tätigkeit zur medizinischen Hauskrankenpflege zu zählen und bei der Bemessung des Pflegegelds nicht zu berücksichtigen sei. Ob die medizinische Hauskrankenpflege tatsächlich in Anspruch genommen werde, sei nicht maßgeblich.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

1. Voranzustellen ist, dass Verrichtungen medizinischer Art (wie Krankenbehandlung, Therapien oder medizinische Hauskrankenpflege) grundsätzlich keinen Pflegebedarf im Sinn des BPGG darstellen. Um als pflegebedingter Mehraufwand bei der Bemessung des Pflegegelds bzw bei der Ermittlung des Pflegebedarfs (als Betreuung und Hilfe im Sinne der EinstV) Berücksichtigung zu finden, muss es sich - zumindest im weiteren Sinn - um lebenswichtige Verrichtungen „nichtmedizinischer“ Art handeln (10 ObS 102/98t = SSV-NF 12/81 mwN, RIS-Justiz RS0106398; Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld² Rz 12 und 284 mwN).

2. Nach herrschender Rechtsprechung ist die Abgrenzung zwischen dem anzurechnenden Pflegeaufwand und den nicht im Rahmen der Pflegegeldgesetze (des Bundes oder der Länder) zu ersetzenden medizinischen Behandlungen jedoch so vorzunehmen, dass ein Pflegeaufwand jedenfalls dann anzunehmen ist, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die ein - ansonsten - nicht behinderter Mensch gewöhnlich selbst vornehmen kann (RIS-Justiz RS0110214 mwN; Greifeneder/Liebhart aaO Rz 14 und 401 [zur Sondenernährung]). Kann ein ansonsten völlig Gesunder hingegen diese Verrichtung (auch) nicht ohne fremde Hilfe vornehmen, so unterscheidet sich der Anspruchwerber - trotz seiner Krankheit - diesbezüglich nicht von einem Gesunden, sodass er insoweit auch nicht den Schutz für Behinderte beim Pflegegeld beanspruchen kann (10 ObS 142/04m = SSV-NF 18/97).

3. In diesem Sinn hat der erkennende Senat zur Verabreichung von Insulininjektionen bereits wiederholt ausgesprochen, dass es sich insoweit um einen Pflegebedarf (und nicht etwa um Hauskrankenpflege aus der Krankenversicherung durch diplomierte Krankenschwestern oder Krankenpfleger) handle, weil es dabei um eine Tätigkeit geht, die ein davon Betroffener üblicherweise selbst vornimmt, weshalb die Beiziehung einer Hilfsperson nur notwendig ist, wenn der Betroffene aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, sich die Injektionen selbst zu verabreichen (10 ObS 2430/96t, SSV-NF 10/133). Auch zu Verbandswechsel bei Unterschenkelgeschwüren infolge eines Venenleidens wurde bereits ausgeführt, dass der notwendige Aufwand im Rahmen der Ermittlung des Pflegeaufwands zu berücksichtigen ist, wenn jemand, der über das Venenleiden hinaus keine Behinderung hat, den Verbandswechsel regelmäßig selbst durchführt und dies im konkreten Fall nur deshalb nicht geschieht, weil andere Behinderungen das Anlegen des Verbands unmöglich machen (10 ObS 102/98t, SSV-NF 12/81).

Mit dieser Rechtsprechung steht die Rechtsansicht des Berufungsgerichts in Einklang. Dass es bei der vorzunehmenden Abgrenzung rein auf die Art der Verrichtung ankommt und das Alter der betroffenen Person nicht maßgeblich ist, zieht die Revisionswerberin nicht in Zweifel.

4. Der Umfang der Leistungen der medizinischen Hauskrankenpflege ist iSd § 151 ASVG grundsätzlich mit Hilfe des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG) zu bestimmen. Wird eine Tätigkeit durch Angehörige des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege nach § 12 GuKG erbracht, ist daran der Umfang der Leistungen der medizinischen Hauskrankenpflege zu messen. Es wurde bereits ausgesprochen, dass hingegen dann, wenn eine Tätigkeit in den Tätigkeitsbereich der Pflegehelfer bei der Mitarbeit bei therapeutischen Verrichtungen nach § 84 Abs 4 GuKG fällt, keine Leistung der medizinischen Hauskrankenpflege vorliegt (10 ObS 122/08a mwN, SSV-NF 23/11i; vgl auch 10 ObS 30/10z, SSV-NF 24/22). Auch von dieser Rechtsprechung weicht die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ab.

5. Daraus, dass aus berufsrechtlicher Sicht das Anlegen von Verbänden nicht zur Gänze den Pflegehelfern vorbehalten ist, sondern bestimmte Anordnungs- und Aufsichtserfordernisse bestehen, ist für den Standpunkt der beklagten Partei schon im Hinblick darauf nichts zu gewinnen, dass nach den vom Berufungsgericht gebilligten Tatsachenfeststellungen der Verbandswechsel von nicht pflegebedürftigen Personen üblicherweise selbst vorgenommen wird. Kann ein ansonsten gesunder Patient eine bestimmte, vom Arzt angeordnete Maßnahme grundsätzlich selbst setzen und ist er dazu nur nicht mehr in der Lage, weil er aus einem anderen Grund pflegebedürftig ist, so ist der für die Betreuung bei dieser Maßnahme erforderliche Aufwand für die Bemessung des Pflegegelds zu berücksichtigen (siehe oben Pkt 2. und Pkt 3.).

6. Der Fall, dass die gesetzliche Krankenversicherung dem Kläger aus ihren Mitteln medizinische Hauskrankenpflege für das Anlegen von Bandagen tatsächlich erbracht hat, auch wenn es sich dabei um keine Pflichtleistung handelt, auf die ein Rechtsanspruch besteht (10 ObS 30/10z, SSV-NF 24/22), liegt hier nicht vor. Nur dann wäre die Geltendmachung eines pflegegeldrelevanten Betreuungsaufwands zusätzlich zu der im Rahmen der medizinischen Hauskrankenpflege bereits in Anspruch genommenen Sachleistung verwehrt.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch die Eltern T*****, diese vertreten durch Dr. Martin Holzer, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, gegen die beklagte Partei Land Steiermark, 8010 Graz, Hofgasse 15, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen Pflegegeld, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 68/11s-18, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1. Die Revisionsbeantwortung wird zurückgewiesen.

2. Der Antrag auf Berichtigung dahin, dass die Entscheidung über die Zurückweisung der außerordentlichen Revision um einen Ausspruch über die Kosten der Revisionsbeantwortung ergänzt werde, wird abgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom wurde die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht zurückgewiesen. Eine Mitteilung, dass dem Kläger die Beantwortung der Revision freistehe, war nicht ergangen. Dennoch brachte der Kläger am eine Revisionsbeantwortung ein, die erst am beim Obersten Gerichtshof einlangte. Diese ist wegen inzwischen endgültig erledigter Streitsache zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0043690 [T4]).

2. Der am eingebrachte Antrag auf Berichtigung der Entscheidung um eine Kostenentscheidung ist abzuweisen, weil kein Berichtigungsfall iSd §§ 419, 430 ZPO vorliegt:

Erstattet der Revisionsgegner schon vor Zustellung der Mitteilung nach § 508a Abs 2 ZPO die Revisionsbeantwortung, erhält er bei Zurückweisung der Revision nach § 508a Abs 2 letzter Satz ZPO auch dann keine Kosten, wenn er in der Revisionsbeantwortung zu Recht auf das Fehlen einer erheblichen Rechtsfrage hingewiesen haben sollte (Kodek in Rechberger, ZPO³ § 508a ZPO Rz 3).

3. Für die vorliegende Entscheidung ist nach § 11 Abs 3 Z 1 ASGG ein Dreiersenat des Obersten Gerichtshofs (§ 7 des Bundesgesetzes über den Obersten Gerichtshof) zuständig.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
Schlagworte
Sozialrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00154.11M.1206.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
TAAAD-88443