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OGH vom 29.04.2019, 8ObA13/19y

OGH vom 29.04.2019, 8ObA13/19y

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Robathin & Partner Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei M***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Petra Laback, Rechtsanwältin in Wien, wegen 20.000 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 17.000 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Ra 95/18s-23, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Beklagte betreibt an zehn verschiedenen Standorten in Österreich Spielstätten, an denen Pokerspiele im Lebendspiel veranstaltet werden. Der Kläger war bei der Beklagten vom bis als Spielleiter an einem Wiener Standort mit einem monatlichen Grundgehalt von 480 EUR brutto vollzeitbeschäftigt. Auf das Dienstverhältnis war kein Kollektivvertrag anwendbar. Gemäß Art 16 Z 2 seines schriftlichen Dienstvertrags stand das realisierte Trinkgeld ausschließlich dem Dienstnehmer zu.

Der Kläger begehrt die Rückzahlung eines von ihm an die Beklagte auf deren ausdrückliche Anordnung hin rechts- und vertragswidrig abgegebenen Teils seiner Trinkgelder (sogenanntes Tischgeld). Die Vorinstanzen gaben dem Begehren übereinstimmend mit 17.000 EUR sA statt.

Rechtliche Beurteilung

Mit ihrer gegen das Berufungsurteil gerichteten außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf.

1. Die Beklagte macht als Aktenwidrigkeit geltend, dass das Berufungsgericht bei ihrem Einwand, die Spielinspektoren (Floormen) seien von der Beklagten zur Entgegennahme der Tischgelder nicht ermächtigt gewesen, einen Verstoß gegen das Neuerungsverbot erblickt hat.

Der Revisionsgrund des § 503 Abs 1 Z 3 ZPO liegt nur vor, wenn zwischen den tatsächlichen Voraussetzungen des Urteils und dem Inhalt der Prozessakten ein wesentlicher Widerspruch besteht. Die Frage, ob ein Vorbringen auch eine Prozessbehauptung umfasst, ist jedoch keine Tatfrage, sondern eine Rechtsfrage (RISJustiz RS0043324 [T6]).

2.1 Im Übrigen trifft es nicht zu, dass aus keiner Feststellung abzuleiten wäre, dass die Spielinspektoren die Tischgelder an die Beklagte weitergeleitet haben. Das Erstgericht hat vielmehr (wenn auch teilweise disloziert) festgestellt, dass aufgrund „Vorgabe der Beklagten“ die Spielleiter einen Geldbetrag pro halber Stunde (pro Tisch) zu zahlen hatten und diese Beträge von der Beklagten über die Floormen eingenommen bzw eingehoben wurden.

2.2 Im Hinblick auf diese Feststellungen kommt es nicht weiter auf die Ansicht des Berufungsgerichts an, es sei bezüglich des Einbehalts des Tischgelds jedenfalls eine Anscheinsvollmacht der Spielinspektoren für die Beklagte im Sinne des § 1029 ABGB zu bejahen. Allfälligen mit dieser bloßen Hilfsbegründung im Zusammenhang stehenden Verfahrensverstößen des Berufungsgerichts fehlte es an Entscheidungsrelevanz (RS0043027).

2.3 Es schadet auch nicht, dass das Berufungsgericht die Frage für unerheblich gehalten hat, ob der Betriebsleiter die vom Floorman einbehaltenen Tischgelder mehrmals wöchentlich abgeholt hat und wofür die einbehaltenen Geldbeträge in der Folge verwendet wurden, und die von der Beklagten erhobene Beweisrüge in diesem Punkt unerledigt gelassen hat.

3.1 Nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen existiert keine Vereinbarung unter der Belegschaft, dass das Tischgeld an Mitarbeiter ohne Kundenkontakt (und daher ohne Möglichkeit, selbst Trinkgeld zu erhalten) verteilt werden soll.

Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die– Art 16 des Dienstvertrags widerstreitende – Einhebung eines Teils der Trinkgelder des Klägers, und zwar 5 bis 7 EUR pro Tisch (pro halber Stunde), rechtsgrundlos erfolgte, ist daher nicht zu beanstanden.

Daran ändert auch der Hinweis der Revisionswerberin nichts, dass es schlüssige Vereinbarungen ohne explizit ausgesprochene Erklärungen gibt.

Ob eine konkludente Willenserklärung vorliegt und welchen Inhalt sie gegebenenfalls hat, ist regelmäßig einzelfallbezogen und begründet daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung (RS0109021 [T6]).

Eine im Betrieb herrschende Übung hat keine eigene Normkraft; sie kann nur auf rechtsgeschäftlichem Weg Bedeutung erlangen (9 ObA 87/02p).

Eine schlüssige Zustimmung des Klägers zu dem von der Beklagten behaupteten Trinkgeldverteilungssystem kann schon deshalb nicht vorliegen, weil die Beklagte dieses System nicht nachgewiesen hat. Die Beklagte vermag keine Anhaltspunkte aufzuzeigen, die den zwingenden Schluss zuließen, dass ihre Mitarbeiter untereinander eine Vereinbarung über die Aufteilung des Tischgelds hätten schließen oder ohne Zutun der Beklagten freiwillig eine entsprechende innerbetriebliche Übung hätten etablieren wollen (vgl RS0014150). Derartiges ergibt sich auch nicht aus der Feststellung, dass der Kläger aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Floorman in Innsbruck bei Vertragsabschluss bereits die Gepflogenheiten bei der Beklagten, insbesondere die Handhabung des Tischgelds, kannte, zumal der Annahme einer Belegschaftsvereinbarung die (dislozierte) Feststellung entgegensteht, dass die Zahlung des Tischgelds eine „Vorgabe der Beklagten“ und eine „von der Beklagten geübte Praxis“ war.

Dass der Kläger aber mit der Beklagten, wenn auch nur konkludent, eine von Art 16 seines Dienstvertrags abweichende Vereinbarung über das Trinkgeld geschlossen hätte, behauptet die Beklagte nicht.

3.2 Gerade durch das Fehlen einer Vereinbarung über die Abfuhr eines Teils des vom Kläger realisierten Trinkgelds unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von den den Entscheidungen 8 ObA 283/99x und 9 ObA 37/10x zugrundeliegenden Feststellungen, in welchen der Oberste Gerichtshof – ausgehend von der dort „vereinbarten Entgeltlage“ – ein der „Cagnotte“ nachgebildetes Trinkgeldsystem für zulässig erachtet hat.

3.3 Entgegen der Meinung der Revisionswerberin hat das Berufungsgericht die Beurteilung des Erstgerichts, das von der Beklagten eingehobene Tischgeld wäre als eine – nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen letztlich sittenwidrige – Art Miete für den Arbeitsplatz zu qualifizieren, nicht übernommen, sondern ausgeführt, dass sich mangels Vereinbarung die Frage einer allfälligen Sittenwidrigkeit gar nicht stelle.

4. Es liegt nicht schon deshalb eine erhebliche Rechtsfrage vor, weil gleiche oder ähnliche Auslegungsfragen in mehreren Verfahren zu lösen sind (RS0042742 [T9]). Der Oberste Gerichtshof ist ausschließlich als Rechtsinstanz zur Überprüfung von Rechtsfragen tätig (RS0123663 [T2]). Der Umstand, dass die Tatsacheninstanzen in mehreren ähnlich gelagerten Verfahren zu abweichenden Tatsachenfeststellungen gelangen, kann nicht an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden.

5. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:008OBA00013.19Y.0429.000

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