OGH vom 21.12.2010, 10Ob64/10z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen P***** J***** M*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung, Bezirke 1, 4-9, 1060 Wien, Amerlingstraße 11), über den Revisionsrekurs des Kindes, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 214/10h-17, womit infolge Rekurses des Kindes der Beschluss des Bezirksgerichts Lilienfeld vom , GZ 1 PU 105/10p-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der Minderjährige ist das eheliche Kind von K***** T***** A***** und P***** M*****. Er ist österreichischer Staatsbürger und lebt mit seiner Mutter, die ungarische Staatsangehörige ist, in Ungarn. Der Vater ist österreichischer Staatsbürger und wohnt in Österreich.
Mit Beschluss vom ordnete das Erstgericht aufgrund eines vom durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vertretenen Bund gestellten Antrags die Innehaltung mit der Auszahlung der dem Kind aufgrund des Unterhaltstitels gegen den Vater gewährten Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des April 2010 an.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes nicht Folge. Die mit in Kraft getretene neue Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 sei auf Unterhaltsvorschüsse nicht anzuwenden. Damit bestehe auch die bisher geltende „Exportverpflichtung“ über den hinaus nicht mehr. Deshalb bestünden begründete Bedenken iSd § 16 UVG am Weiterbestand der von der bisherigen Rechtsprechung aufgrund der VO (EWG) 1408/71 bejahten Exportverpflichtung. Da zur Frage der sogenannten Exportverpflichtung im Zusammenhang mit der „neuen Wanderarbeitnehmerverordnung“ und zu § 16 UVG in der Fassung des FamRÄG 2009 noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege, erklärte das Rekursgericht den Revisionsrekurs gegen seine Entscheidung für zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer ersatzlosen Aufhebung der verfügten Innehaltung.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist im Hinblick auf die zu den entscheidungswesentlichen Fragen bereits vorliegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.
Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass der Minderjährige aufgrund der VO (EWG) 1408/71 bis Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hatte. Mit wurden die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I der neuen Koordinierungsverordnung sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden. Dies bedeutet wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat , dass seit dem Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind (10 Ob 70/10g; 10 Ob 45/10f; 10 Ob 25/10i; 10 Ob 14/10x). Die vom Europäischen Gerichtshof für den österreichischen Unterhaltsvorschuss in der Rs Humer (vgl , Humer, Slg 2002, I 1205) nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht aufgrund der Unanwendbarkeit des Koordinierungsrechts nicht mehr (10 Ob 70/10g; 10 Ob 45/10f; Felten/Neumayr , Die neue Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, [165 f]; Pfarrhofer , Verpflichtung zum Export von Unterhaltsvorschussleistungen ist entfallen, Zak 2010/395, 229; Spiegel , Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 9 ff [24]; Marhold, Neuordnung der Koordinierung der Familienleistungen in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 55 ff [57] ua). Es liegt im Anlassfall aber auch keine Konstellation vor, bei der allenfalls aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex Art 12 EG) oder aus der VO (EWG) 1612/68 ein Anspruch des Kindes auf österreichischen Unterhaltsvorschuss abgeleitet werden könnte (vgl Felten/Neumayr aaO iFamZ 2010, 166 ff). Dem Kind steht daher aufgrund der seit geltenden Rechtslage ein Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse nicht (mehr) zu.
Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht auf eine Änderung der Rechtslage in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Es ist daher grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen, ob eine Rechtsänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist (RIS Justiz RS0031419). Sofern der Rechtssetzer nicht ausdrücklich anderes verfügt oder wenn der besondere Charakter einer zwingenden Norm nicht deren Rückwirkung verlangt, ist sie insoweit nicht anzuwenden, als der zu beurteilende Sachverhalt vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung endgültig abgeschlossen ist. Bei Dauerrechtsverhältnissen ist im Fall einer Rechtsänderung mangels abweichender Übergangsregelung der in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Gesetzes reichende Teil des Dauertatbestands nach der Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Änderung zu beurteilen (10 Ob 70/10g; 10 Ob 45/10f; 10 Ob 14/10x; 6 Ob 263/04a ua).
Die neue VO (EG) 883/2004 enthält in ihrem Art 87 keine spezielle Übergangsbestimmung für bereits bewilligte Unterhaltsvorschüsse, die aufgrund der alten VO (EWG) 1408/71 in das EU Ausland exportiert werden. Bei Ansprüchen nach der VO (EWG) 1408/71 handelt es sich in der Regel um Ansprüche, die erst durch das Unionsrecht entstanden sind. Es steht daher dem europäischen Gesetzgeber auch zu, diese Ansprüche zu ändern (vgl Spiegel in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 5 Teil 2 Art 87 Rz 4). Da der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet ist, ist die Änderung der Rechtslage mit zu berücksichtigen und es ist für die Perioden ab dem demnach bereits die neue Rechtslage anzuwenden (10 Ob 70/10g; 10 Ob 45/10f; 10 Ob 14/10x mwN).
Wie der Oberste Gerichtshof zu § 16 Abs 2 UVG idF des FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, bereits ausgesprochen hat, erhöht die novellierte Fassung die Anforderungen an eine Innehaltung. Die mit der Novelle aus § 7 Abs 1 Z 1 UVG eliminierten „begründete Bedenken“ kehren in der Neufassung des § 16 Abs 2 UVG wieder. Entsprechend der bisherigen Rechtsprechung zu § 7 Abs 1 Z 1 UVG liegen „begründete Bedenken“ an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung vor, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit der materiellen Unrichtigkeit der titelmäßigen Entscheidung besteht (RIS-Justiz RS0126041). Eine „non liquet“ Situation in diesem Bezug geht zu Lasten des vorschussgewährenden Bundes (RIS-Justiz RS0108443). Der in Ungarn lebende Minderjährige erfüllt die Gewährungsvoraussetzung des Aufenthalts im Inland (§ 2 Abs 1 UVG) nicht. Wie eben ausgeführt besteht seit keine Verpflichtung mehr, die ihm gewährten Unterhaltsvorschüsse zu exportieren, sodass er keinen Anspruch mehr auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat. Die vom Rechtsmittelwerber behauptete „non liquet“ Situation ist nicht gegeben.