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VfGH vom 05.03.2008, B1859/07

VfGH vom 05.03.2008, B1859/07

Sammlungsnummer

18388

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung von Fremden wegen unrechtmäßigen Aufenthalts aufgrund unzureichender Interessenabwägung

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.600,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

II. Das Verfahren über die von den Zweit- bis Fünftbeschwerdeführern gestellten Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird eingestellt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Der Erstbeschwerdeführer, ein serbischer

Staatsangehöriger, reiste am legal in das Bundesgebiet ein (von 1995 bis 1998 hielt er sich laut eigenem Vorbringen mit Unterbrechungen in Österreich auf). Von der Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung wurde ihm eine bis gültige Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthaltszweck "Saisonarbeitskraft" erteilt. Am wurde ihm eine weitere bis gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Der Erstbeschwerdeführer verfügt derzeit über einen gültigen Befreiungsschein und ist erwerbstätig.

1.2. Die Ehefrau des Erstbeschwerdeführers reiste am mit ihren zwei minderjährigen Kindern (Dritt- und Viertbeschwerdeführer) illegal und schlepperunterstützt nach Österreich ein. Der von ihr am eingebrachte Asylantrag wurde zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom gemäß § 4 AsylG 1997 zurückgewiesen. Die dagegen beim Unabhängigen Bundesasylsenat (UBAS) erhobene Berufung wurde mit Bescheid vom abgewiesen. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom wurde der Bescheid des UBAS aufgehoben. Nach Außer-Kraft-Treten des erstinstanzlichen Asylbescheides und Einstellung des anhängigen Berufungsverfahrens iSd § 4 Abs 5 AsylG 1997 am wurde der Asylantrag der Ehefrau mit Bescheid des Bundesasylamtes vom gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen und gemäß § 8 AsylG 1997 ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Kosovo für zulässig erklärt. Die dagegen erneut erhobene Berufung ist noch beim UBAS anhängig. Die Frau des Erstbeschwerdeführers ist derzeit nach dem AsylG 1997 zum vorläufigen Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt.

Die am für die beiden (mit der Mutter eingereisten) Kinder eingebrachten Asylerstreckungsanträge wurden mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom gemäß § 11 Abs 2 AsylG 1997 (rechtskräftig) abgewiesen. Die beiden weiteren im Jahr 2000 und 2006 in Österreich geborenen Kinder des Erstbeschwerdeführers (Zweit- und Fünftbeschwerdeführer) halten sich seit ihrer Geburt unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

1.3. Der Erstbeschwerdeführer reiste nach Ablauf seiner bis gültigen Aufenthaltserlaubnis nicht aus Österreich aus, sondern stellte am ebenfalls einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen wurde; gemäß § 8 AsylG 1997 wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Kosovo für zulässig erklärt. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des UBAS vom abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gemäß § 10 Abs 4 FrG 1997 wurde der Familie im Jahr 2001 nicht erteilt.

Der Erstbeschwerdeführer, seine Frau und die (damals) drei minderjährigen Kinder wurden daher erstmals mit im Instanzenzug ergangenen Bescheiden der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom ausgewiesen. Diese Bescheide wurden mit Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2003/18/0120, 0126 bis 0128 und 2003/18/0121, wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften (im Hinblick auf die Ehefrau wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes) aufgehoben. In der Folge wurde der gegen die Ausweisung erhobenen Berufung des Erstbeschwerdeführers mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom gemäß § 66 Abs 2 AVG Folge gegeben. Aufgrund der Mangelhaftigkeit des der Behörde vorliegenden Sachverhalts wurde der erstinstanzliche Ausweisungsbescheid behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Erstinstanz zurückverwiesen.

1.4. Die am von der Ehefrau des Erstbeschwerdeführers und den Zweit- bis Viertbeschwerdeführern gestellten Anträge auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen wurden mit im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres vom abgewiesen. Der Berufung des Erstbeschwerdeführers wurde hingegen mit Bescheid des Bundesministers für Inneres vom selben Tag stattgegeben und der erstinstanzliche Bescheid ersatzlos behoben, da eine Antragstellung gemäß § 73 Abs 2 NAG aufgrund der Amtswegigkeit des Verfahrens unzulässig sei.

Die Beschwerdeführer halten sich daher seit dem rechtskräftigen Abschluss der Asylverfahren bzw. die beiden jüngeren Kinder seit ihrer Geburt unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

2. Mit Bescheiden der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck vom wurden der Vater und seine (mittlerweile) vier minderjährigen Kinder gemäß § 53 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) neuerlich aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Den dagegen erhobenen Berufungen wurde mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom keine Folge gegeben.

Begründend führt die belangte Behörde - in den im Wesentlichen gleich lautenden Bescheiden - insbesondere aus, dass sich die Beschwerdeführer seit rechtskräftigem Abschluss der Asylverfahren bzw. seit ihrer Geburt unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Ihre Ausweisung bewirke zwar einen erheblichen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer. Im Ergebnis überwiege aber das den Beschwerdeführern vorwerfbare (Fehl-)Verhalten gegenüber der von ihnen geltend gemachten Integration im Bundesgebiet. An dieser Beurteilung ändere auch der Umstand nichts, dass die Ehefrau bzw. Mutter der Beschwerdeführer derzeit über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 1997 verfügt.

Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer des Vaters und seiner beiden im Jahr 1998 eingereisten Kinder ableitbaren Integration werde insbesondere dadurch gemindert, dass ihr Aufenthalt während des Asylverfahrens aufgrund von Asylanträgen berechtigt war, die sich jedoch letztlich als unbegründet erwiesen hätten. Ebenso sei die Integration der zwei in Österreich geborenen Kinder zu relativieren, da sie zu keiner Zeit über eine Aufenthaltsberechtigung verfügten. Die öffentliche Ordnung werde schwerwiegend beeinträchtigt, wenn sich einwanderungswillige Fremde unerlaubt nach Österreich begeben, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dasselbe gelte für Fremde, die nach Ablauf einer Aufenthaltsberechtigung oder nach Abschluss eines Asylverfahrens das Bundesgebiet nicht rechtzeitig verlassen. In solchen Fällen sei die Ausweisung erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte. Zur schlepperunterstützten Einreise der beiden älteren Kinder führt die Behörde weiters aus, dass es geradezu einer Förderung des Schlepperunwesens gleichkäme, wenn man ihren weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet gestatten würde.

3. Die Beschwerde behauptet die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Begründend wird insbesondere ausgeführt, dass die belangte Behörde im Hinblick auf den langjährigen (bzw. seit der Geburt ununterbrochenen) Aufenthalt und die strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführer sowie ihre private und - in Anbetracht des Erstbeschwerdeführers - berufliche Integration eine unzureichende Interessenabwägung iSd Art 8 EMRK vorgenommen habe.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige -

Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§53 Abs 1 und 66 Abs 1 FPG wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof auch nicht entstanden.

2. Der belangten Behörde ist allerdings ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen.

2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , B328/07, dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

2.2. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde (jeweils) vorgenommene - formelhafte - Abwägung iSd Art 8 EMRK als unzureichend:

Wie die Behörde zunächst zutreffend festgestellt hat, halten sich die Beschwerdeführer seit geraumer Zeit rechtswidrig im Bundesgebiet auf, weshalb die Ausweisungen - unter Beachtung des § 66 Abs 1 FPG - auf § 53 Abs 1 FPG gestützt wurden.

Im Ergebnis ist die belangte Behörde zur Auffassung gelangt, dass das den Beschwerdeführern vorwerfbare (Fehl-)Verhalten gegenüber der von ihnen geltend gemachten Integration im Bundesgebiet überwiegt. Das Gewicht der aus der Aufenthaltsdauer des Vaters und seiner beiden im Jahr 1998 - schlepperunterstützt - eingereisten Kinder ableitbaren Integration werde nämlich dadurch gemindert, dass ihr Aufenthalt nur während der Asylverfahren berechtigt war; die Asylanträge hätten sich letztlich aber als unbegründet erwiesen. Ebenso sei die Integration der zwei in Österreich geborenen Kinder zu relativieren, da sie zu keiner Zeit über eine Aufenthaltsberechtigung verfügten. An dieser Beurteilung könne auch der Umstand nichts ändern, dass die Ehefrau bzw. Mutter der Beschwerdeführer derzeit nach dem AsylG 1997 zum vorläufigen Aufenthalt in Österreich berechtigt sei.

2.3. Vorauszuschicken ist, dass die Ausweisung eines Fremden gemäß § 53 Abs 1 FPG seinen unrechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt. Ob der mit einer Ausweisung regelmäßig verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben des Betroffenen im Lichte des Art 8 EMRK auch zulässig ist, ist unabhängig von der Frage zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erlassung einer Ausweisung vorliegen.

Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber gestellt, jedoch keine - im Lichte der zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Interessenabwägung durchgeführt.

Die belangte Behörde verkennt zunächst, dass der bloße Hinweis darauf, dass sich die Beschwerdeführer seit rechtskräftigem Abschluss der Asylverfahren bzw. seit ihrer Geburt unrechtmäßig in Österreich aufhalten, für sich alleine betrachtet nicht den Schutz des durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens mindert. Zudem misst sie der mit der Ausweisung verbundenen Trennung der Beschwerdeführer von ihrer vorläufig aufenthaltsberechtigten Ehefrau bzw. Mutter - ungeachtet ihrer wechselseitigen intensiven Bindungen - keine entscheidungswesentliche Bedeutung bei; der Verfassungsgerichtshof teilt demgegenüber die vom Verwaltungsgerichtshof vertretene Auffassung, die er in seinem Erkenntnis vom , 2003/18/0120, 0126 bis 0128, mit dem der Ausweisungsbescheid vom in Bezug auf die Zweit- bis Viertbeschwerdeführer und ihre Mutter aufgehoben wurde, wie folgt begründete:

"Sollte sich im weiteren Verfahren ergeben, dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen die Erstbeschwerdeführerin unzulässig sei und sie sich im Bundesgebiet aufhalten dürfe, so würden die persönlichen Interessen der Kinder der Erstbeschwerdeführerin das von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid genannte öffentliche Interesse an ihrer Ausweisung überwiegen."

Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass dies - der Sache nach - auch für den Erstbeschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens gilt, zumal er den Unterhalt für die Familie bestreitet.

2.4. Schließlich hat sich die Behörde auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob möglicherweise - aufgrund des langjährigen Aufenthalts bzw. der Geburt im Bundesgebiet - eine Bindung der Beschwerdeführer zu Österreich entstanden ist, der ein entsprechender Verlust der Bindungen zu ihrem ursprünglichen Heimatstaat gegenübersteht.

3. Dadurch, dass die Behörde auf die Interessen der Beschwerdeführer am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, wurden diese in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Die Bescheide waren daher aufzuheben.

III. Da die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer ihre (unter einem mit der Beschwerde) gestellten Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung mit beim Verfassungsgerichtshof am eingelangtem Schreiben zurückgezogen haben, war das Verfahren diesbezüglich einzustellen.

IV. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; im

zugesprochenen Betrag sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 450,-, Umsatzsteuer in der Höhe von € 450,- sowie Eingabengebühren in der Höhe von € 900,- enthalten.

2. Diese Entscheidungen konnten gemäß § 19 Abs 3 Z 3 und Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Fundstelle(n):
YAAAD-87802