VfGH vom 27.06.1996, B1838/94
Sammlungsnummer
14547
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Ausweisung der Beschwerdeführerin aufgrund Unterlassung der gebotenen Interessenabwägung; bloßes Abstellen auf Rechtswidrigkeit des Aufenthaltes infolge Ablaufs des Sichtvermerkes nicht ausreichend; keine Berücksichtigung der intensiven familiären Bindung aufgrund der Ehe mit österreichischem Staatsbürger und Geburt eines gemeinsamen Kindes
Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in dem gemäß Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres bevollmächtigten Vertreters die mit S 18.000,- bestimmten Kosten dieses verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine pakistanische Staatsangehörige, heiratete im Dezember 1992 in ihrem Heimatland einen gebürtigen Pakistani, der österreichischer Staatsbürger ist. Am reiste sie mit einem bis gültig gewesenen Touristensichtvermerk nach Österreich ein, um ihren Gatten zu besuchen. Die Beschwerdeführerin wurde offenbar noch innerhalb des Zeitraumes der Gültigkeit des Sichtvermerkes schwanger und verblieb in Österreich. Das Kind wurde im März 1994 geboren.
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom wurde über die Beschwerdeführerin gemäß § 17 Abs 1 des Fremdengesetzes, BGBl. 838/1992 (im folgenden: FrG), die Ausweisung ausgesprochen, weil sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Ausweisung wurde gemäß § 22 Abs 1 FrG auf die Höchstdauer von drei Monaten aufgeschoben. Der dagegen rechtzeitig erhobenen Berufung hat die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit Bescheid vom keine Folge gegeben und den bekämpften Bescheid gemäß § 66 Abs 4 AVG bestätigt.
2. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, mit welcher die Verletzung des durch Art 7 (wohl richtig: 8) EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie den angewandten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11638/1988, 11857/1988, 11982/1989, 12919/1991, 13241/1992, 13489/1993).
2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rechtsgrundlagen des angefochtenen Bescheides, insbesondere gegen § 17 Abs 1 und § 19 FrG, werden in der Beschwerde nicht vorgebracht; solche sind auch beim Verfassungsgerichtshof aus Anlaß des vorliegenden Beschwerdefalles nicht entstanden (vgl. in diesem Zusammenhang das zu § 10a des - bereits außer Kraft getretenen - Fremdenpolizeigesetzes ergangene Erkenntnis VfSlg. 12919/1991).
3. Der belangten Behörde ist jedoch ein Art 8 EMRK verletzender Vollzugsfehler anzulasten.
3.1. Die belangte Behörde führt zunächst in der Begründung des angefochtenen Bescheides aus, weshalb sich die Beschwerdeführerin nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, und weiters, daß ein Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin im Sinne des § 19 FrG nicht vorläge, weil die Berufungswerberin - von dem wenige Tage dauernden Besuchsaufenthalt abgesehen - bisher noch keinen gemeinsamen Aufenthalt und noch viel weniger einen Wohnsitz zusammen mit ihrem Ehegatten in Österreich gehabt habe. Aber selbst wenn man im vorliegenden Fall von einem Eingriff sprechen wolle, sei der Eingriff, der darin bestehe, daß gegen die Berufungswerberin die - freilich auch durchsetzbare - Verpflichtung ausgesprochen werde, Österreich zu verlassen, womit ihr aber keineswegs untersagt werde, das Bundesgebiet, sofern die von vornherein erforderlich gewesene Bewilligung vorläge, wieder zu betreten, zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele - Verteidigung eines geordneten Fremden- und Einwanderungswesens - dringend geboten. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Beschwerdeführerin die für ein weiteres Aufenthaltsrecht erforderliche Bewilligung während ihres Aufenthaltes im Inland nicht erlangen könne. Die belangte Behörde weist weiters noch darauf hin, daß - abgesehen davon, daß im Falle einer Ausweisung die Bestimmung des § 20 Abs 1 FrG betreffend die Interessenabwägung nicht zum Tragen komme - "die nachteiligen Folgen einer Abstandnahme von der Erlassung einer Ausweisung bzw. einer Tolerierung des weiteren Aufenthaltes einer Perpetuierung des unerlaubten Aufenthalts" gleichkämen. Die Auswirkungen auf die Lebenssituation der Berufungswerberin bestünden nur darin, daß sie ihren Besuchsaufenthalt beende, um die von vornherein erforderlich gewesene Bewilligung zur Begründung des gemeinsamen ordentlichen Wohnsitzes vom Ausland aus zu beantragen.
3.2. Die Beschwerdeführerin legt in ihrer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof dar, daß sie seit Ende Dezember 1992 mit ihrem Gatten, einem österreichischen Staatsbürger, verheiratet sei. Am sei sie mit einem Wiedereinreisesichtvermerk, ausgestellt von der österreichischen Botschaft in London nach Österreich eingereist. Sie sei noch innerhalb des Zeitraumes der Gültigkeit des Sichtvermerkes schwanger geworden und im Inland verblieben.
Nach Ablauf ihres Touristensichtvermerkes habe sie mehrfach versucht, vom Inland aus eine Aufenthaltsberechtigung zu erlangen. So habe sie im Juni 1993 einen Antrag auf Verlängerung bzw. Neuerteilung eines Sichtvermerkes im fremdenpolizeilichen Büro eingebracht, welcher von diesem an den Magistrat der Stadt Wien abgetreten wurde. Über diesen Antrag sei noch nicht rechtskräftig abgesprochen. Sie habe auch einen Antrag zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung für Österreich bei der österrreichischen Botschaft in Prag eingebracht. Dieser sei an die zuständige Magistratsabteilung in Wien weitergeleitet worden, die darüber abweislich abgesprochen habe. Gegen diesen Bescheid habe sie berufen; die Entscheidung der zweitinstanzlichen Behörde stehe noch aus.
Sie sei mit dem - nunmehr bekämpften - im Instanzenzug bestätigten Bescheid gemäß § 17 Abs 1 FrG ausgewiesen worden.
Die Beschwerdeführerin verweist in ihrer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof darauf, daß bei ihr eine besonders intensive Bindung zu Österreich bestehe. Schon vor ihrer Einreise sei sie mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet gewesen, während ihres legalen Aufenthaltes von diesem schwanger geworden und habe im März 1994 das gemeinsame Kind geboren. Ihr Gatte lebe seit langem in Wien in geordneten Verhältnissen, sei Hauptmieter einer Wohnung, die er nunmehr mit ihr und dem gemeinsamen Kind bewohne. Er sei in ungekündigter Stellung beschäftigt und verfüge über ein monatliches Nettoeinkommen von ca. S 20.000,- bis S 25.000,-. Ihr Unterhalt und ebenso der Unterhalt des Kindes seien daher gesichert. Im Falle ihrer Ausweisung wäre insbesondere auch ihr Kleinkind hievon in unzumutbarer Weise betroffen. Im Interesse der psychischen und physischen Entwicklung ihres Kindes könne sie nicht ohne dieses ausreisen; auch sei fern ihres Gatten weder ihr Unterhalt noch der des Kindes gesichert. Es sei auch nicht so, wie es die belangte Behörde darstelle, daß sie, falls sie in ein Nachbarland Österreichs reise, um bei der österreichischen Botschaft einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung einzubringen, dort in Ruhe die Entscheidung über ihren Antrag abwarten könne. Vielmehr habe sie als pakistanische Staatsangehörige zu gewärtigen, daß sie nach Pakistan abgeschoben werde, wo weder ihr Unterhalt noch der ihres Kindes gesichert sei, und von wo aus für sie in nächster Zeit auch keine Möglichkeit bestehe, wiederum zu ihrem Gatten nach Österreich zu gelangen. Die Auffassung der belangten Behörde, daß eine Ausweisung im Sinne des § 19 FrG dringend geboten sei, erweise sich aufgrund der dargelegten Umstände als haltlos.
3.3. Die Beschwerde ist im Ergebnis im Recht.
3.3.1. Die belangte Behörde geht im angefochtenen Bescheid davon aus, daß kein Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin vorliegt, "weil die Berufungswerberin, von dem wenige Tage dauernden Besuchsaufenthalt abgesehen, bisher noch keinen gemeinsamen Aufenthalt und noch viel weniger einen Wohnsitz zusammen mit ihrem Gatten in Österreich hatte" und begründet den bekämpften Bescheid weiters wie folgt:
"Aber selbst wenn man im vorliegenden Fall von einem Eingriff sprechen wollte, ist dieser Eingriff, der darin besteht, daß gegen die Berufungswerberin die - freilich auch durchsetzbare - Verpflichtung ausgesprochen wird, Österreich zu verlassen, womit ihr aber keineswegs untersagt wird, das Bundesgebiet, sofern die von vornherein erforderlich gewesene Bewilligung vorliegt, wieder zu betreten, zur Erreichung der im Artikel 8 Abs 2 MRK genannten Ziele - hier: Verteidigung eines geordneten Fremden- und Einwanderungswesens - dringend geboten. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Berufungswerberin die für ein weiteres Aufenthaltsrecht erforderliche Bewilligung während ihres Aufenthaltes im Inland nicht erlangen kann."
3.3.2. Die belangte Behörde verkennt, daß § 17 Abs 1 FrG für eine Ausweisung in jedem Fall voraussetzt, daß sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Dieser Umstand allein vermag eine Ausweisung nicht zu rechtfertigen. Der zweite Halbsatz des § 17 Abs 1 FrG ordnet eine Bedachtnahme auf § 19 leg.cit. an. Die Behörde hat daher jeweils näher darzutun, warum sie unter Berücksichtigung des jeweils zu entscheidenden Einzelfalles zur Auffassung kommt, eine Ausweisung sei im Sinne des § 19 FrG "dringend geboten". Nur unter dieser Voraussetzung erweisen sich die dem Bescheid zugrundeliegenden Regelungen verfassungskonform, weil ansonsten jeglicher unrechtmäßiger Aufenthalt eines Fremden im Bundesgebiet ohne jede Bedachtnahme auf Art 8 EMRK zur Ausweisung führen müßte.
Ein solcher besonderer Grund im Sinne des § 19 FrG kann nicht allein darin erblickt werden, daß der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus zu stellen ist. Hiezu sei auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B 1611-1614/94 verwiesen (vgl. auch ).
Die belangte Behörde erachtet allein aufgrund des rechtswidrigen Aufenthaltes der Beschwerdeführerin die Ausweisung im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen als dringend geboten und stellt damit nur auf die Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsrechtes ab. Dies reicht jedoch nicht aus, um darzutun, warum sie den Eingriff in die durch Art 8 EMRK geschützten Rechte gemäß § 19 FrG im öffentlichen Interesse als dringend geboten erachtet.
Die belangte Behörde meint, es liege kein Eingriff in das Privat- und Familienleben vor; aber selbst wenn man einen solchen annähme, sei dieser im Sinne des § 19 FrG nicht relevant. Damit verkennt sie, daß die Beschwerdeführerin seit ihrer (legalen) Einreise nach Österreich im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Gatten - einem österreichischen Staatsbürger - lebt; seit der Geburt des gemeinsamen Kindes (im März 1994), das nach der geltenden Rechtslage ebenfalls österreichischer Staatsbürger ist, auch mit diesem. Mag die Beschwerdeführerin dadurch auch keinen Wohnsitz im Sinne des § 1 AufenthaltsG begründet haben, so besteht für sie zweifelsohne eine intensive familiäre Bindung im Inland.
Angesichts der Tatsache, daß ein Eingriff in die durch Art 8 EMRK geschützten Rechte vorliegt, hätte die Behörde eine Abwägung mit jenen Umständen vornehmen müssen, die für die Beschwerdeführerin sprechen. Insbesondere blieb unberücksichtigt, daß die Beschwerdeführerin auch vom Ausland aus einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestellt hat, über den noch nicht abgesprochen wurde (die belangte Behörde wird den zu erwartenden Ausgang dieses Verfahrens abzuwägen haben), und daß die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides () Mutter eines erst wenige Wochen alten Säuglings mit österreichischer Staatsbürgerschaft war.
3.4. Die belangte Behörde hat in Wahrheit die gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen, weil sie den öffentlichen Interessen die privaten Interessen nicht abwägend entgegengestellt hat. Sie hat im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt, indem sie einen so schweren Fehler begangen hat, daß dieser mit Gesetzeslosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist.
Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid sohin in dem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag sind S 3.000,- an Umsatzsteuer enthalten.
Die von der Beschwerdeführerin verzeichneten Bundesstempelmarken werden nicht zugesprochen, da diese bereits in der Pauschalvergütung enthalten sind.