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OGH vom 09.02.2010, 10Ob6/10w

OGH vom 09.02.2010, 10Ob6/10w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Semso R*****, geboren am , der mj Ramona R*****, geboren am , und der mj Monika R*****, geboren am , alle vertreten durch Dr. Heribert Kirchmayer, Rechtsanwalt in Hainburg an der Donau, über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom , GZ 20 R 105/09w 19, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Gänserndorf vom , GZ 2 P 186/09i U15, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs der Kinder wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Der in Berlin lebende Vater ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom (ON U12) verpflichtet, seinen drei (mit der Mutter in Österreich lebenden) Kindern monatliche Unterhaltsbeiträge von 165 EUR, 165 EUR und 132 EUR zu leisten. Beide Elternteile und die Kinder sind Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina.

Das Erstgericht wies den Antrag der Kinder vom (ON U14), ihnen Titelvorschüsse gemäß § 3 Z 2 UVG zu gewähren, mit der Begründung ab, dass die Kinder aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit keinen Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse haben (§ 2 Abs 1 UVG).

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Kinder nicht Folge. Da der geldunterhaltspflichtige Vater in Deutschland lebe und dort Arbeitslosenunterstützung beziehe, bestehe nach den Koordinierungsregeln der Wanderarbeitnehmerverordnung kein Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil das Rekursgericht möglicherweise von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen oder diese uneinheitlich sei.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Kinder (ON U21) aus dem Revisionsrekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im antragsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die weiteren Verfahrensparteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist und die Anwendung der VO (EG) 859/2003 nicht in Erwägung gezogen hat. Er ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen zulässig.

In ihrem Revisionsrekurs machen die Kinder geltend, dass sie als Drittstaatsangehörige nach der VO (EG) 859/2003 Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse hätten, weil ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe in Österreich bestehe und eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat (Deutschland) gegeben sei.

Dazu wurde erwogen:

1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder einen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.

Diese Norm, nach deren Wortlaut ein Vorschussanspruch der Antragsteller zu verneinen wäre, wird allerdings durch gemeinschaftsrechtliche Normen überlagert, insbesondere die Verordnung (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung") samt Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 sowie die VO (EG) 859/2003, die die Geltung der Wanderarbeitnehmerverordnung unter bestimmten Voraussetzungen auf Drittstaatsangehörige erweitert.

2. Der Rechtsansicht des Rekursgerichts, dass für die Kinder nach den Bestimmungen der Wanderarbeitnehmerverordnung nur ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse in Deutschland in Betracht komme, ist zu erwidern, dass der für Unterhaltsvorschusssachen fachzuständige 10. Senat des Obersten Gerichtshofs schon in einer großen Zahl von Fällen (siehe RIS Justiz RS0124515) von der in den drei Entscheidungen 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g (RIS Justiz RS0122131) vertretenen Ansicht abgegangen ist, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen iSd Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 daran anknüpfe, in welches System der sozialen Sicherheit der Geld unterhaltsschuldner eingebunden ist.

Die Rückkehr zur früheren Rechtsprechung (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g = RIS Justiz RS0115509 [T3] ua) wurde bereits in den Entscheidungen 10 Ob 75/08i, 10 Ob 83/08s, 10 Ob 78/08f und 10 Ob 87/08d, je vom , ausführlich begründet und kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

2.1. Für die Anspruchsberechtigung nach der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 (im Folgenden: „VO") ist neben der Familienangehörigen Eigenschaft in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige) fällt.

2.2. Der weiters als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden. Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält.

Umgelegt auf den vorliegenden Fall könnte der grenzüberschreitende Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat darin bestehen, dass der Vater (möglicherweise) als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder als Selbständiger in Deutschland in das dortige System der sozialen Sicherheit eingebunden ist.

2.3. Schließlich ist zu prüfen, ob für die begehrte Familienleistung nach den Koordinierungsregeln der VO 1408/71 die österreichische Leistungszuständigkeit besteht.

2.3.1. Abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen unterliegen Personen, für die die VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats (Art 13 Abs 1 der VO); dieser ist nach Titel II der VO zu bestimmen. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staats (Beschäftigungslandprinzip, Art 13 Abs 2 lit a der VO).

2.3.2. Grundsätzlich ist das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO begründet. Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Geldunterhaltsschuldners ist den Koordinierungsregelungen der VO nicht zu entnehmen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem derjenige Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird.

2.3.3. Daraus ist zu folgern, dass auch dann, wenn der geldunterhaltspflichtige Elternteil den Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem Recht seines Bechäftigungsstaats vermittelt, nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein Anspruch auf Vorschüsse in einem anderen Mitgliedstaat durch den betreuenden Elternteil vermittelt wird. Für den Fall, dass Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats nicht von einer Berufstätigkeit abhängen und für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen bestehen kann, ist in Art 10 Abs 1 lit b sublit i der VO 574/72 eine Priorität der Familienleistungen des Wohnsitzstaats der Familienangehörigen normiert (Wohnortstaatprinzip; Igl in Fuchs , Europäisches Sozialrecht4 Art 73 Rz 2). Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind.

3. Zur Anspruchsberechtigung von drittstaatsangehörigen Kindern wurde vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen, dass diese bei reinem Inlandsbezug nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 und der VO 574/72 fallen, weshalb sie keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss im Inland haben (6 Ob 151/04f; 6 Ob 263/04a; RIS Justiz RS0119548).

3.1. Soweit - wie hier - kein besonderes bilaterales Abkommen anzuwenden ist, unterliegen Familienmitglieder von Drittstaatsangehörigen nach Art 1 der VO (EG) 859/2003 (bei Erfüllung der unter 2. genannten Voraussetzungen) dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 VO (EWG) 1408/71, wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation zumindest mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Österreich hat darüber hinaus im Anhang zur VO (EG) 859/2003 den Anspruch auf Familienleistungen (und damit auch für Unterhaltsvorschüsse) für Drittstaatsangehörige davon abhängig gemacht, dass diese die Voraussetzungen des österreichischen Rechts für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe erfüllen (näher Spiegel , Familienleistungen aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal [Hrsg], Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [106 f]); Felten/Neumayr , Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2009, 362 [364]).

3.2. Wie bereits unter 3. erwähnt, ist nach der Rechtsprechung kein österreichischer Unterhaltsvorschuss zu gewähren, wenn das Kind und beide Elternteile Staatsbürger eines Drittstaats sind und sowohl das Kind als auch beide Elternteile ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Österreich haben, sei es von Geburt an oder aufgrund direkten Zuzugs aus dem Drittstaat. In diesem Fall fehlt es nämlich am Bezug zu einem weiteren Mitgliedstaat, der erst den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 859/2003 eröffnen würde.

Nimmt hingegen ein drittstaatsangehöriger Elternteil, der in Österreich als Arbeitnehmer oder Selbständiger beschäftigt war, eine (un )selbständige Tätigkeit in einem anderen EU Mitgliedstaat auf, so ist für diese Person und ihre Familienangehörigen die VO 1408/71 beachtlich (Art 1 der VO 859/2003). Das gilt im Hinblick auf § 2 Abs 1 UVG insb auch für das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 der VO 1408/71. Gibt also der bosnische Vater eines antragstellenden Kindes seine Beschäftigung in Österreich auf, um eine Stelle in Deutschland anzunehmen, so sind für die Frage des Anspruchs auf österreichischen Unterhaltsvorschuss die Bestimmungen der VO 1408/71 zu beachten. Dem Kind darf also in dieser Konstellation der Unterhaltsvorschuss grundsätzlich nicht wegen seiner Staatsangehörigkeit verweigert werden, sofern (entsprechend dem Anhang zur VO 859/2003) ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe nach österreichischem Recht besteht.

3.3. Für die Beurteilung der Leistungszuständigkeit sind die Kollisionsregeln der VO 1408/71 und der VO 574/72 zu beachten. Da sich gemäß Art 10 der VO 574/72 das anzuwendende Recht primär nach dem Beschäftigungsstaat richtet, ist in einem Fall wie dem unter 3.2. dargestellten in erster Linie Unterhaltsvorschuss nach deutschem Recht zu gewähren (auch in Deutschland ist die Ausnahme im Anhang zur VO 859/2003 zu beachten).

3.4. Sodann ist die Frage zu beantworten, ob sich diese Prioritätenregel zu Gunsten des Wohnsitzstaats umkehrt (Art 10 Abs 1 lit b sublit i VO 574/72), wenn der andere ebenfalls drittstaatsangehörige Elternteil einer Erwerbstätigkeit in Österreich nachgeht. Der nunmehrigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs folgend (siehe oben 2.) können grundsätzlich beide Elternteile den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach der VO 1408/71 vermitteln. Voraussetzung ist freilich, dass beide Elternteile auch den persönlichen Anwendungsbereich der VO erfüllen, indem sie (aktiver oder inaktiver) Arbeitnehmer oder Selbständiger sind.

Nach Art 1 der VO 859/2003 ist die VO 1408/71 auf Drittstaatsangehörige sowie ihre Familienmitglieder anzuwenden, „ wenn sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist ". Aus dieser Formulierung („sie") geht nicht eindeutig hervor, ob das grenzüberschreitende Sachverhaltselement auch in Bezug auf die Familienmitglieder in ihrer eigenen Person gegeben sein muss. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur VO 1408/71, wonach es ausreicht, dass der grenzüberschreitende Sachverhalt durch einen Familienangehörigen herbeigeführt wird (etwa , Humer , Slg 2002, I 1205), wird man es - insb in Anbetracht der sich aus den Erwägungsgründen der VO 859/2003 ergebenden Zielsetzung der Gleichbehandlung von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen - auch im Anwendungsbereich der VO 859/2003 als ausreichendes Bezugselement zu einem anderen Mitgliedstaat erachten müssen, dass der Vater als Wanderarbeitnehmer eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen hat (siehe 1 Ob 171/05m, iFamZ 2006/3, 13 [ Neumayr ] = Zak 2006/267, 155 [ Neuhauser 143]). Aus diesem Grund ist ein Anspruch auf österreichischen Unterhaltsvorschuss gemäß Art 1 der VO 859/2003 iVm Art 3 der VO 1408/71 zu bejahen, wenn die drittstaatsangehörige Mutter einer Beschäftigung in Österreich nachgeht (ebenso Spiegel , Familienleistungen, in Mazal , Die Familie im Sozialrecht 89 [107]), während der drittstaatsangehörige Vater als Wanderarbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat zur Arbeitsaufnahme gewechselt ist.

4. Für den vorliegenden Fall ist daraus abzuleiten, dass für die Kinder die Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse in Betracht kommt, wenn (kumulativ)

- der früher in Österreich tätige drittstaatsangehörige Vater als Wanderarbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat gewechselt ist, um dort eine unselbständige oder selbständige Beschäftigung aufzunehmen,

- die drittstaatsangehörige Mutter im beantragten Gewährungszeitraum einer Beschäftigung in Österreich nachgeht und

- nach österreichischem Recht in diesem Zeitraum ein dauerhafter Anspruch auf Familienbeihilfe für die in Österreich lebenden Kinder besteht.

5. Da es an Feststellungen zu diesen drei Elementen fehlt, ist eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Pflegschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich.