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OGH vom 13.03.2012, 10ObS149/11a

OGH vom 13.03.2012, 10ObS149/11a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H***** B*****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram ua Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 115/11b 11, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 8 Cgs 229/10z 7, teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten der Rekursbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die 1959 geborene Klägerin absolvierte eine Berufsausbildung als Einzelhandelskauffrau mit Lehrabschlussprüfung im Jahr 1976. Sie war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag () überwiegend als Angestellte, und zwar zuletzt vom bis als Verkäuferin in einer Trafik beschäftigt.

Seit kann sie nur noch leichte Arbeiten mit Tragen bis 5 kg und Heben bis 10 kg dauernd im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten, wobei alle 30 Minuten für wenige Minuten ein Wechsel der Körperhaltung erforderlich ist. Dieser Haltungswechsel muss vom Stehen oder Gehen ins Sitzen erfolgen. Ausgeschlossen sind Arbeiten im Knien, in tiefer Hocke, mit Bücken bis zum Boden, in konstant vorgebeugter Haltung ab ca 30 bis 40 Grad, auf Leitern und Gerüsten, in schwindelexponierten Lagen, über dem Kopf, mit Erschütterungen des gesamten Körpers, mit Drücken, Stoßen und Ziehen, Arbeiten, die über einen zeitweilig überdurchschnittlichen Zeitdruck hinausgehen, Nacht , Akkord und Schichtarbeiten, Arbeiten verbunden mit vermehrter Exposition gegenüber Kälte, Nässe, Hitze und Zugluft sowie Arbeiten, die mit starken Temperaturschwankungen einhergehen. Auch bei Einhaltung aller Einschränkungen ist pro Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit mit drei Wochen leidensbedingten Krankenständen zu rechnen. Eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Ohne Überschreitung ihres Leistungskalküls kann die Klägerin weiterhin als Verkäuferin in einer Trafik tätig sein. Sie kann aber auch kaufmännische Hilfstätigkeiten, etwa in Ablage und Evidenz, Registratur und Statistik oder in der Liegenschaftsverwaltung und Tätigkeiten als Angestellte in einer Briefpoststelle verrichten. Derartige Arbeitsplätze gibt es bundesweit mehr als 100.

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, dass die Klägerin nicht berufsunfähig iSd § 273 Abs 1 ASVG sei, weil sie die festgestellten Verweisungsberufe noch ausüben könne. Diese seien der Klägerin auch dann zumutbar, wenn ihre letzte Tätigkeit als Verkäuferin in einer Trafik als Tätigkeit einer Ladnerin iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen wäre. Die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension im Sinne einer entsprechenden Anwendung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG ab scheitere schon daran, dass die Klägerin die medizinischen Voraussetzungen der Härtefallregelung nicht erfülle. Sie sei nämlich nicht auf Arbeiten überwiegend im Sitzen beschränkt, sondern könne unter Einhaltung von Körperhaltungswechseln alle 30 Minuten für wenige Minuten auch Arbeiten im Gehen und Stehen verrichten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei teilweise Folge. Es bestätigte die Klagsabweisung für den Zeitraum bis . In Ansehung des Zeitraums ab hob es das angefochtene Urteil auf. In diesem Umfang verwies es die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (§ 255 Abs 3a Z 4 ASVG seien leichte körperliche Arbeiten, also Arbeiten, die mit einem Heben von maximal 10 kg und/oder Tragen von maximal 5 kg verbunden seien, unter einfachem oder durchschnittlichem Zeitdruck, die entweder vorwiegend, als in mehr als 2/3 der Gesamtarbeitszeit, im Sitzen ausgeübt werden können, oder sofern sie nicht vorwiegend im Sitzen ausgeübt werden können zumindest mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Daher reiche der bei der Klägerin nach den Feststellungen erforderliche Haltungswechsel aus, um die Voraussetzungen zu erfüllen. Dabei gehe die Häufigkeit der bei der Klägerin medizinisch gebotenen Haltungswechsel über die in § 255 Abs 3 lit b ASVG angeführte Frequenz der eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil charakterisierenden möglichen Haltungswechsel sogar noch hinaus. Die der Klägerin aufgrund des festgestellten Sachverhalts noch möglichen Tätigkeiten Verkäuferin in einer Trafik, kaufmännische Hilfstätigkeiten und Tätigkeiten einer Angestellten in einer Briefpoststelle seien durchwegs leichte körperliche Tätigkeiten ohne besonderen bzw überdurchschnittlichen Zeitdruck und seien vorwiegend in sitzender Haltung auszuüben und/oder ermöglichten mehrmals täglich einen Haltungswechsel. Zu prüfen sei im weiteren Verfahren, ob die Voraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 und Z 3 ASVG sowie die weitere in § 255 Abs 3a Z 4 ASVG normierte Voraussetzung zum neuen Stichtag von der Klägerin, die vorher das 50. Lebensjahr vollendet habe (§ 255 Abs 3a Z 1 ASVG) erfüllt seien.

Das Berufungsgericht sprach aus, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung existiere.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs der beklagten Partei ist zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

Die Rekurswerberin macht im Wesentlichen geltend, dass für die Klägerin ein spezieller Verweisungsschutz nach der Härtefallregelung nicht geboten erscheine, weil sie einen Angestelltenberuf erlernt und auch ausgeübt habe. Bei ihrem medizinischen Leistungskalkül (leichte Arbeiten mit Tragen bis 5 kg und Heben bis 10 kg dauernd im Gehen, Stehen und Sitzen) sei nicht von solchen Tätigkeiten „mit geringstem Anforderungsprofil“ auszugehen, die der Gesetzgeber der Härtefallregelung habe zugrunde legen wollen.

Hierzu wurde erwogen:

1. Nach der während des Revisionsverfahrens eingetretenen Rechtsänderung (SRÄG 2011, BGBl I 2011/122) lautet § 273 ASVG in der ab geltenden, im Anlassfall anzuwendenden Fassung (§ 663 Abs 1 Z 3 ASVG; vgl 10 ObS 173/11f):

„(1) Als berufsunfähig gilt die versicherte Person, deren Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte/r oder nach § 255 Abs 1 ausgeübt wurde. § 255 Abs 2 dritter und vierter Satz sowie Abs 2a sind anzuwenden.

(2) Liegen die Voraussetzungen nach Abs 1 nicht vor, so gilt die versicherte Person auch dann als berufsunfähig, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr im Stande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das eine körperlich und geistig gesunde versicherte Person regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

(3) § 255 Abs 3a und 3 b sowie Abs 4 bis 7 gilt entsprechend.“

2. Der Oberste Gerichtshof hat jüngst mit eingehender Begründung ausgesprochen (10 ObS 173/11f), dass die Härtefallregelung (§ 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 3a und 3b ASVG) nicht anzuwenden ist, wenn die Versicherte Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG in Anspruch nehmen kann, weil auch in diesem Fall eine Verweisung auf ungelernte Arbeitertätigkeiten unzulässig ist.

Ob der Klägerin Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG zukommt, lässt sich nicht beurteilen, weil die hiefür maßgeblichen Feststellungen von den Vorinstanzen nicht getroffen wurden. Mit der Neuregelung des § 273 Abs 1 ASVG durch das BBG 2011, BGBl I 2010/111, wurde der bisherige Berufsschutz für Angestellte für Versicherte, die relativ kurz (in der Regel weniger als 90 Monate) als Angestellte tätig sind, verändert. Erstmals führt auch bei Angestellten nur eine qualifizierte lange Ausübung der Tätigkeit zum Berufsschutz ( Teschner/Widlar/Pöltner , MGA ASVG 115. ErgLfg Anm 3a zu § 273). Es werden daher Feststellungen darüber zu treffen sein, ob die Klägerin innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt hat. Ob ihre Tätigkeit als Verkäuferin in einer Tabaktrafik eine berufsschutzerhaltende Teiltätigkeit des erlernten Lehrberufs war, kann mangels Feststellung des Inhalts der Tätigkeit nicht abschließend beurteilt werden (vgl 10 ObS 205/98i, SSV NF 12/101, wonach eine Verkäuferin in Tabak Trafiken eine Arbeitertätigkeit verrichtet).

3. Der Oberste Gerichtshof hat ferner ausgesprochen (10 ObS 146/11k), dass jedenfalls bei Versicherten, die Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen, auch nach Schaffung der Härtefallregelung die Frage der Verweisung auf andere Tätigkeiten dann nicht zu prüfen ist, wenn ein Versicherter die zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübte Angestelltentätigkeit weiterhin ausüben kann. Ist er dazu im Stande, ohne dass damit eine ins Gewicht fallende Gefahr der Beeinträchtigung seines Gesundheitszustands verbunden ist, ist er nicht berufsunfähig iSd § 273 Abs 1 ASVG (vgl RIS Justiz RS0110071 [T6]; 10 ObS 146/11k mwN).

4. Die in der Entscheidung 10 ObS 146/11k offen gelassene Frage, ob die unter Punkt 3. angeführte Rechtsprechung auch für Versicherte gilt, die keinen Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen und deren Berufsunfähigkeit daher nach § 273 Abs 2 ASVG zu prüfen ist, ist wie folgt zu beantworten: Sofern der Versicherte die Voraussetzungen der Härtefallregelung nach § 255 Abs 3a Z 1 bis 3 ASVG erfüllt, steht es der Bejahung seiner Berufsunfähigkeit nicht entgegen, wenn die zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübte Angestelltentätigkeit eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3b ASVG war und der Versicherte diese Tätigkeit weiterhin ausüben kann. Diese Auffassung beruht auf der Erwägung, dass eine der Voraussetzungen für den speziellen Verweisungsschutz nach der Härtefallregelung ist, dass der Versicherte mindestens 12 Monate unmittelbar vor dem Stichtag als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war (§ 255 Abs 3a Z 2 ASVG). Es ist kein hinreichender Grund erkennbar, weshalb innerhalb der Gruppe von Versicherten, die die Voraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 1 bis 3 ASVG erfüllen, danach zu unterscheiden wäre, ob schon bisher nur eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil ausgeübt wurde oder nicht.

5. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (§ 255 Abs 3a Z 4 ASVG) sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten zu verstehen, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen.

Diese Definition beschreibt nicht das medizinische Restleistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Tätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur noch in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und keine anderen auszuüben (10 ObS 173/11f mwN).

Wie der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, handelt es sich bei den in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen („erste Fallgruppe“) und um leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen („zweite Fallgruppe“; RIS Justiz RS0127383). Unter dem Begriff „Haltungswechsel“ im gegebenen Zusammenhang ist ein kurzes Aufstehen von zwei bis vier mal pro Stunde zu verstehen (10 ObS 119/11i mwN). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe in § 255 Abs 3b ASVG ist nicht als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Entscheidendes Kriterium für die Anwendung der Härtefallregelung ist nicht bereits die Einschränkung des medizinischen Leistungskalküls der versicherten Person, sondern die vom Gesetzgeber im Hinblick auf ihr eingeschränktes Leistungskalkül vorgesehene Einschränkung ihrer Verweisbarkeit auf dem Arbeitsmarkt.

6. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren zunächst zu prüfen haben, ob der Klägerin Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG idF BBG 2011 zukommt. Ist diese Frage zu bejahen, wird auch das noch strittige Klagebegehren abzuweisen sein, weil die Klägerin nach den Feststellungen weiterhin in der Lage ist, ihre zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübte qualifizierte Tätigkeit (Verkäuferin in einer Trafik) auszuüben und eine Anwendung der Härtefallregelung in diesem Fall nicht in Betracht kommt. Ist diese Frage jedoch zu verneinen, wird es neben der Frage des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 und 3 ASVG im Fall des Vorliegens dieser beiden Anspruchsvoraussetzungen auch die weitere Frage zu prüfen habe, ob die Klägerin nur noch in der Lage ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben und ob bejahendenfalls auch zu erwarten ist, dass sie einen Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangen kann.

Dem Rekurs der beklagten Partei gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts musste daher ein Erfolg versagt bleiben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.