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VfGH vom 12.06.1995, B1741/94

VfGH vom 12.06.1995, B1741/94

Sammlungsnummer

14105

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Zurückweisung eines Einspruchs mangels begründeten Entscheidungsantrags aufgrund hinreichender Erfüllung dieses gesetzlichen Erfordernisses

Spruch

Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid vom stellte die Vorarlberger Gebietskrankenkasse fest, daß die beschwerdeführende Partei für in einer Beilage zum Bescheid namentlich bezeichnete Dienstnehmer Beiträge gemäß § 13 des Entgeltfortzahlungsgesetzes 1974 (EFZG) zu entrichten habe und wies den Antrag auf Rückerstattung zu Ungebühr entrichteter Beiträge gemäß § 18 EFZG iVm § 69 ASVG ab.

2.a) Gegen diesen Bescheid erhob die beschwerdeführende Partei fristgerecht Einspruch mit der Begründung, daß die Bestimmungen des ArtI Abschnitt 2 EFZG verfassungswidrig seien, da dem Bund eine Regelungskompetenz hiefür nicht zukomme, und beantragte die Abänderung des erstinstanzlichen Bescheides.

b) Der Landeshauptmann von Vorarlberg wies den Einspruch mit Bescheid vom mangels begründeten Entscheidungsantrages zurück und führte aus, daß er auf eine allfällige Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Gesetzesbestimmungen nicht einzugehen habe.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung verfassungswidriger Rechtsvorschriften geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Akten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde insbesondere verletzt, wenn die Behörde zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10374/1985, 11405/1987).

2. Im Verfahren nach dem EFZG ist § 412 Abs 1 ASVG anzuwenden. Nach dieser Gesetzesstelle hat der Einspruch den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten. Die belangte Behörde hat die Auffassung vertreten, daß die Behauptung der Verfassungswidrigkeit der angewendeten Rechtsgrundlage keine ausreichende Begründung darstelle.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist es hinreichend, wenn aus dem Rechtsmittel zumindest erkennbar ist, was die Partei anstrebt und womit sie ihren Standpunkt vertritt (VfSlg. 9205/1981). Bei der Prüfung der formellen Erfordernisse des Rechtsmittels kommt es also ausschließlich darauf an, ob ihm entnommen werden kann, womit der Rechtsmittelwerber meint, seinen Rechtsstandpunkt vertreten zu können; der Umstand, ob die in der Berufung (im Einspruch) enthaltene Begründung rechtlich zutreffend oder vertretbar ist oder nicht, ist nur für die Art der meritorischen Erledigung entscheidend. Die Behauptung der im Widerspruch zur bundesstaatlichen Kompetenzverteilung gesehenen Verfassungswidrigkeit der dem bekämpften Bescheid zugrundeliegenden Rechtsvorschriften reicht im Hinblick auf den Wortlaut des Art 144 Abs 1 B-VG aus, um das Erfordernis eines begründeten Entscheidungsantrages zu erfüllen, da andernfalls die Rechtssache nie an den Verfassungsgerichtshof herangetragen werden könnte und der Einspruchswerber, der ausschließlich die Verfassungswidrigkeit bestimmter Rechtsvorschriften geltend machen will, zusätzlich eine bloße Scheinbegründung vorbringen müßte (vgl. VfSlg. 8380/1978, 12607/1991 und ).

Da der mit dem angefochtenen Bescheid zurückgewiesene Einspruch diesem gesetzlichen Erfordernis mit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit näher bezeichneter, den erstinstanzlichen Bescheid tragender Bestimmungen des EFZG hinreichend Rechnung getragen hat und auch sonst nichts hervorgekommen ist, was den Landeshauptmann zur Zurückweisung berechtigt hätte, wurde die beschwerdeführende Partei durch die Zurückweisung ihres Einspruches im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag sind S 3.000,-- an Umsatzsteuer enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz und Z 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.