VfGH vom 25.09.2002, B1737/01
Sammlungsnummer
16624
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Bescheiderlassung seitens des Unabhängigen Verwaltungssenates betreffend Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand wegen Unterlassung der Durchführung einer Berufungsverhandlung; keine Bedenken gegen die dem UVS einen Ermessensspielraum einräumende verwaltungsstrafrechtliche Bestimmung über das Absehen von einer Berufungsverhandlung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Oberösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.143,68 bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn vom wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er sein Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand in Betrieb genommen habe (§99 Abs 1a StVO 1960).
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat (in der Folge: UVS) "aus rein rechtlichen Erwägungen". In der Berufung wurde bei der Geltendmachung von Milderungs- und Schuldausschließungsgründen unter anderem vorgebracht, daß der Berufungswerber sein Fahrzeug nur deshalb in Betrieb setzte, um darin zu übernachten und weil er "verhindern wollte, dass [er] wegen der Kälte und Durchnässung krank werde". Vom Beschwerdeführer wurden in seiner Berufung überdies verschiedene weitere Elemente zum Sachverhalt vorgebracht, um darzutun, daß er aufgrund der konkreten Umstände des Falles nicht schuldhaft gehandelt habe.
2. Der UVS gab der Berufung - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - im Schuldspruch keine Folge, soweit sich die Berufung gegen die Strafhöhe richtete, reduzierte er die Ersatzfreiheitsstrafe von 13 auf 10 Tage.
3. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art 144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf Unversehrtheit des Eigentums sowie auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verfahren über eine "strafrechtliche Anklage" (Art6 Abs 1 EMRK) und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Der UVS als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er den angefochtenen Bescheid verteidigt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
Die gesetzlichen Grundlagen des angefochtenen Bescheides werden von der Beschwerde in mehrfacher Hinsicht als verfassungswidrig bezeichnet. Im Einzelnen ist dazu anzuführen:
§ 99 Abs 1a StVO 1960 lautete (in der von der belangten Behörde angewendeten Fassung BGBl. I Nr. 92/1998):
"(1a) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe von 12 000 S bis 60 000 S, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest von zehn Tagen bis sechs Wochen, zu bestrafen, wer ein Fahrzeug lenkt oder in Betrieb nimmt, obwohl der Alkoholgehalt seines Blutes 1,2 g/l (1,2 Promille) oder mehr, aber weniger als 1,6 g/l (1,6 Promille) oder der Alkoholgehalt seiner Atemluft 0,6 mg/l oder mehr, aber weniger als 0,8 mg/l beträgt."
1. Durch das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach der seiner Bestrafung zugrundeliegende Strafrahmen aufgrund der dort vorgesehenen Mindeststrafe von S 12.000,- verfassungswidrig sei, sieht sich der Verfassungsgerichtshof im gegebenen Fall nicht zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens veranlaßt.
1.1. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat der Verfassungsgerichtshof in gesetzlich normierten Mindeststrafhöhen zum Teil einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gesehen. So hat der Gerichtshof in VfSlg. 15785/2000 (betreffend § 39 Abs 1 lita AWG 1990) eine Mindeststrafe in Höhe von S 50.000,- deshalb als unsachlich angesehen, weil der Anwendungsbereich der Sanktion nicht auf den Kreis solcher Täter eingeschränkt war, denen - um die Verstöße wirtschaftlich unrentabel erscheinen zu lassen - nur durch Sanktionen von einer gewissen Schärfe wirksam begegnet werden kann (gewerbsmäßige Abfallsammler oder Abfallbehandler), sondern auch - insofern überschießend - eine unbestimmte Gruppe von Tätern erfaßte.
Eine - verglichen damit - geringere Mindeststrafe von S 20.000,- wurde im Erkenntnis vom , G181/01 ua., im wesentlichen deshalb als verfassungswidrig angesehen, weil sie
"... weder auf das Gewicht und die Zielrichtung der im Einzelfall verletzten, im Gemeinschaftsrecht wurzelnden Vorschrift [...], noch auf die konkreten Umstände, unter denen die Verwaltungsübertretung begangen wurde, noch schließlich auf die persönlichen Verhältnisse desjenigen, der die Verwaltungsübertretung begangen hat ..."
Bedacht nehmen ließ, sowie überdies deshalb, weil sich die Verpflichtungen nur an den Lenker des Lastkraftwagens richteten.
1.2. Die hier zur Rede stehende Mindeststrafe von S 12.000,-
(nunmehr € 872,-; vgl. BGBl. I Nr. 32/2002) gemäß § 99 Abs 1a StVO 1960 richtet sich hingegen geradezu an jenen, der als Verursacher in Frage kommt. Im Hinblick darauf, sowie angesichts des besonderen Unrechtsgehalts. das im hohen Potential der Gefährdung für die Gesundheit und das Leben anderer Menschen durch Autofahren in alkoholisiertem Zustand liegt, hegt der Gerichtshof keine Bedenken gegen die Sachlichkeit der Höhe der Mindeststrafe.
2. Zum Vorbringen des Beschwerdeführers in Bezug auf § 51e
Abs3 VStG und Art 6 EMRK:
§ 51e Abs 3 VStG 1991 lautete in der vom UVS angewendeten
Fassung:
"(3) Der unabhängige Verwaltungssenat kann von einer Berufungsverhandlung absehen, wenn
1. in der Berufung nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2. sich die Berufung nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3. im angefochtenen Bescheid eine 3 000 S nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4. sich die Berufung gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. Etwaigen Berufungsgegnern ist Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden."
Soweit in der Beschwerde gegen § 51e Abs 3 VStG als gesetzliche Grundlage des angefochtenen Bescheides Bedenken erhoben werden, weil diese Bestimmung die Durchführung einer dem Art 6 EMRK entsprechenden öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem UVS verhindere, ist ihr folgendes entgegenzuhalten:
2.1. Art 6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung (fair hearing) vor einem "Tribunal", das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Betroffenen] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".
2.2. Im Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen entscheidet nach Ausschöpfung des Instanzenzuges der UVS (Art129a Abs 1 Z 1 B-VG). Der Verfassungsgerichtshof hat ausgesprochen, daß der UVS vom Verfassungsgesetzgeber als unabhängiges Tribunal eingerichtet wurde. Er hat Bescheide eines UVS in mehreren Fällen an den Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Tribunals im Sinne von Art 6 EMRK beurteilt (vgl. VfSlg. 14939/1997, 15242/1998, 15439/1999, 15462/1999). Der Verfassungsgerichtshof geht ferner - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) - davon aus, daß Verwaltungsstrafverfahren grundsätzlich Verfahren "über eine strafrechtliche Anklage" im Sinne des Art 6 EMRK darstellen, sodaß die in dieser Verfassungsbestimmung normierten Garantien zum Tragen kommen (vgl. zB VfSlg. 11195/1986). Der UVS wird als das vom Verfassungsgesetzgeber in Verwaltungsstrafsachen zur Entscheidung berufene "Tribunal" tätig und ist dabei an die in Art 6 EMRK normierten Verfahrensgarantien gebunden. Wiederholt hat der Verfassungsgerichtshof von Unabhängigen Verwaltungssenaten im Verwaltungsstrafverfahren ergangene Bescheide anhand der Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK geprüft (VfSlg. 15821/2000) und aus diesem Grunde aufgehoben ().
In einem Verfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art 6 EMRK garantierten Recht "gehört zu werden" das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, auf die nur in Ausnahmefällen verzichtet werden kann (so etwa EGMR in den Urteilen Håkansson und Sturesson gg. Schweden vom , Serie A Nr. 171-A, S. 20, Rn 64; Fredin [Nr. 2] gegen Schweden vom , Serie A Nr. 283-A, S. 10-11, Rn 21-22; Allan Jacobsson gegen Schweden [Nr. 2] vom , Slg 1998-I, S. 168, Rn 46).
Den Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK wird nach der Rechtsprechung des EGMR nur durch ein Tribunal entsprochen, das über eine volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR , ÖJZ 1995, 954) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muß die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung beim Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu EGMR im Fall Baischer vom , ÖJZ 2002, 394, Z 28 bis 30).
2.3. Die den angefochtenen Bescheid in verfahrensrechtlicher Hinsicht ua. tragende gesetzliche Grundlage (§51e Abs 3 VStG) könnte nur dann in Widerspruch mit dem verfassungsgesetzlich gebotenen Grundsatz der mündlichen Verhandlung bei Entscheidung über eine "strafrechtliche Anklage" iSd. Art 6 Abs 1 EMRK geraten, wenn der UVS in den von § 51e Abs 3 VStG 1991 genannten Fällen zwingend von einer mündlichen Verhandlung abzusehen hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. § 51e Abs 3 VStG räumt dem UVS einen Ermessensspielraum ein. Im Unterschied zu § 51e Abs 2 VStG, in dem zwingend angeordnet ist, daß in den dort normierten Fällen "die Verhandlung entfällt", ist nämlich in den Fällen des § 51e Abs 3 VStG vorgesehen, daß der UVS "von einer Berufungsverhandlung absehen kann".
Auch die Gesetzesmaterialien zur Novelle des AVG und des VStG ("Verwaltungsverfahrensnovelle 1998") BGBl. I Nr. 158/1998 sprechen in den Erläuterungen von Ermessen. Die Erläuterungen zu § 51e VStG verweisen auf die Erläuterungen zum - insofern gleich formulierten - § 67d Abs 3 AVG, wo es heißt:
"... wird in dem in Abs 3 genannten Fall von keiner Partei eine Verhandlung beantragt, so kann der unabhängige Verwaltungssenat von einer Verhandlung absehen, er muß dies jedoch nicht; ob er trotzdem eine Verhandlung durchführt, steht in seinem Ermessen." (AB 1167 BlgNR 20. GP, 37)
Der Wortlaut des § 51e Abs 3 VStG ("kann") hindert den UVS somit nicht daran, selbst bei Vorliegen der dort unter Ziffer 1 bis 4 normierten Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung, dennoch eine Verhandlung durchzuführen; soweit es Art 6 EMRK gebietet, muß er jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben.
Im Hinblick darauf sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht veranlaßt, in eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des - hier anzuwendenden - § 51e Abs 3 VStG einzutreten.
3. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des dem Bescheid zugrundeliegenden § 51e Abs 3 VStG ist somit unmittelbar zu prüfen, ob die belangte Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides gegen Art 6 Abs 1 EMRK verstoßen hat. Die Bedeutung des zu Art 5 EMRK abgegebenen österreichischen Vorbehaltes - bzw. seiner Ausdehnung auf Art 6 EMRK - kann hiebei dahingestellt bleiben, weil dieser Vorbehalt nur zugunsten des Gesetzgebers, nicht aber auch zugunsten der Vollziehung erklärt wurde (dazu ausdrücklich: VfSlg. 10067/1984, siehe auch VfSlg. 8111/1977 ua.). Was hingegen den österreichischen Vorbehalt zu Art 6 EMRK (zum Öffentlichkeitsgrundsatz) betrifft, so hat der EGMR im Fall Eisenstecken dessen Ungültigkeit festgestellt (Urteil vom , ÖJZ 2001, 194, Z 29), worin ihm der Verfassungsgerichtshof gefolgt ist ().
3.1. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer in der Berufung zwar behauptet, sie "aus rein rechtlichen Erwägungen" zu erheben, zugleich aber hat er im Rahmen des ihm im Verwaltungsstrafverfahren zustehenden Rechts, Neuerungen vorzubringen (§65 AVG iVm. § 24 VStG), ein ausführliches sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet (S. 3 und 4 der Berufung), etwa zum Vorliegen von Schuldausschließungsgründen.
Damit kann aber die Frage, ob von einem zweifelsfreien konkludenten Verzicht auf die - grundsätzlich zwingende - mündliche Verhandlung die Rede sein kann, dahingestellt bleiben. Die (sachverhaltsbezogene) Berufung des Beschwerdeführers geht nämlich über die in § 51e Abs 3 VStG in den Ziffern 1-4 erwähnten Fälle, die den UVS allenfalls ermächtigen würden, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, hinaus. Daraus ergibt sich, daß der UVS jedenfalls eine mündliche Verhandlung abhalten hätte müssen. Da er dies nicht getan hat, hat diese Unterlassung nicht nur die Gesetzwidrigkeit des Bescheides, sondern auch die Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK zur Folge.
4. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (Art6 Abs 1 EMRK) vor dem UVS verletzt worden.
5. Der angefochtene Bescheid war schon aus diesem Grund aufzuheben.
6. Der Kostenspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.
7. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.