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VfGH vom 27.02.2007, B1729/06

VfGH vom 27.02.2007, B1729/06

Sammlungsnummer

18066

Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch überlange Verfahrensdauer in einem Disziplinarverfahren gegen eine Rechtsanwältin wegen Verletzung von Berufs- und Standespflichten in Zusammenhang mit der Übernahme einer Treuhandverpflichtung zur Lastenfreistellung von Liegenschaftsanteilen im Rahmen eines Kauf- und Wohnungseigentumsvertrags; Aufhebung des angefochtenen Bescheides im Umfang des Strafausspruches; im Übrigen Abweisung der Beschwerde

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art 6 Abs 1 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird im Strafausspruch aufgehoben.

II. Im Übrigen ist die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden. Insofern wird die Beschwerde abgewiesen.

III. Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin die mit € 1.260,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Mit Bescheid des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom wurde die Beschwerdeführerin der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und (teilweise auch) der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes schuldig erkannt und zu einer Geldbuße von € 6.000,- sowie zum Ersatz der anteiligen Kosten des Disziplinarverfahrens verurteilt. Begründend wird ausgeführt, sie habe zu Punkt I

"A/ (Verfahrenskomplex D 59/98 des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien)

1. die von ihr im Kauf- und Wohnungseigentumsvertrag zwischen der prot. Firma H T R Gesellschaft mbH und R B vom übernommene Treuhandverpflichtung zur Lastenfreistellung der kaufgegenständlichen Liegenschaftsanteile nicht erfüllt;

2. ohne Zustimmung der Masseverwalterin im Konkurs der prot. Firma H T R Gesellschaft mbH und der Treugeberin C-B den Treuhandbetrag aus diesem Kaufvertrag vom an Rechtsanwalt Dr. A A überwiesen;

3. eine Verlängerung der per endenden Treuhandfrist telefonisch mit einem unbekannt gebliebenen Mitarbeiter der C-B bis zu einem nicht genau definierten Zeitpunkt 'Mitte 1998' erwirkt;

4. die Lastenfreistellung des Kaufgegenstandes zu dem anlässlich der Treuhandrevision ihrer Kanzlei zu GZ ... des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom vereinbarten Termin () nicht erwirkt;

5. Die im Zusammenhang mit dem Bauauftrag des R B an die L R und Handelsges.m.b.H. vom und des Kaufvertrages vom zwischen der prot. Firma H T R Gesellschaft mbH und

I S übernommenen Treuhandschaften dem anwaltlichen Treuhandbuch der Rechtsanwaltskammer Wien, dessen freiwilliger Treuhandrevision sie angehörte, nicht gemeldet;

6. Entgegen den Treuhandbedingungen im Kaufvertrag vom zwischen der prot. Firma H T R Gesellschaft mbH und

G S den erst zum Teil treuhändig erlegten Kaufpreis zur Lastenfreistellung der Liegenschaft verwendet und als Vertragsverfasserin anlässlich der bevorstehenden Parifizierung der kaufgegenständlichen Liegenschaft nicht Vorsorge getroffen, dass dieser Kaufvertrag durch Verfügbarkeit der kaufgegenständlichen 200/1000-Miteigentumsanteile verbücherungsfähig blieb;

B/ (D 92/01) in der Vertragssache der 'K 5 I GmbH' als Verkäuferin und des Käufers Univ.Prof. DDr. H M am für die Vertragserrichtung ein Honorar in der Höhe von ATS 73.000,-- zuzüglich Umsatzsteuer in Rechnung gestellt und am für den Fall, dass das Honorar nicht pünktlich bezahlt werde, mit einer Honorarforderung in mehr als doppelter Höhe für weitere behauptete Leistungen gedroht;

C/ (D 191/01) am im Vollmachtsnamen der H S zwei Kaufverträge über die in deren Eigentum stehenden Liegenschaften EZ ... und EZ ... und EZ ... mit der in eine Naheverhältnis zu ihr stehenden H Bau- und Handelsgesellschaft geschlossen, ohne eine dazu vereinbarte Bedingung aufzunehmen."

1.2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: OBDK) vom teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid im Teilschuldspruch zu Punkt I/A/4 aufgehoben. Zu Punkt I/B wurde auch das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung erkannt und im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:

"Die Disziplinarbeschuldigte wird zu Punkt I/A/4 von der dort zugrunde liegenden Anschuldigung freigesprochen.

Im Übrigen wird der gegen die Schuldsprüche gerichteten Berufung nicht Folge gegeben, wobei einzelne Schuldsprüche mit nachangeführten Modifikationen bestätigt und folgende Wortfolgen eingefügt werden:

Zu Punkt I/A/1 nach '... übernommene ...' die

Wortfolge '... und bis befristete ...';

zu Punkt I/A/2 nach '... H T R Gesellschaft mbH und ...' die

Wortfolge '... ohne Zustimmung der Treugeberin ...';

zu Punkt I/A/3 nach '... endenden Treuhandfrist ...' die

Wortfolge '... entgegen der Ziffer 2 der zwischen dem ÖRAK und der

Bundessektion Geld-, Kredit- und Versicherungswesen abgeschlossenen Allgemeinen Bedingungen vom und den darauf abstellenden Vorgaben für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes ...'.

Die Disziplinarbeschuldigte wird für die ihr nach Maßgabe der vorangeführten Modifikationen weiterhin zur Last fallenden Disziplinarvergehen nach § 1 Abs 1 DSt gemäß § 16 Abs 1 Z 2 DSt zur Disziplinarstrafe einer Geldbuße von

5000,-- (fünftausend) Euro

verurteilt."

2. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Erwerbsausübung und auf ein faires Verfahren geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

3. Die OBDK legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Ausführungen in der Beschwerde entgegentritt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Bedenken gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof auch aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens nicht entstanden.

Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid daher nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt.

2.1. Die Beschwerdeführerin wirft der belangten Behörde zunächst vor, § 1 Disziplinarstatut (im Folgenden: DSt 1990) denkunmöglich angewendet zu haben, weshalb sie in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Erwerbsausübung verletzt worden sei. Sie habe hinsichtlich des Spruchpunktes I/B des Bescheides des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien keine höheren Beträge als die in Rechnung gestellten angedroht, sondern zusätzliche Honorarforderungen geltend gemacht.

2.2. Der Beschwerdeführerin wurde weder der Antritt noch die Ausübung einer Erwerbsbetätigung verwehrt, sondern lediglich eine Geldstrafe über sie verhängt. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg. 7910/1976) berühren Maßnahmen, etwa die disziplinäre Behandlung wegen Verletzung von Standespflichten, nicht das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht gemäß Art 6 StGG.

Die Beschwerdeführerin wurde daher nicht in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Erwerbsausübung verletzt.

3. Die Beschwerde ist jedoch insofern berechtigt, als sie die Nichtberücksichtigung der überlangen Dauer des Disziplinarverfahrens behauptet:

3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat das Verfahren vor den Disziplinarbehörden der Rechtsanwälte die Entscheidung über eine "strafrechtliche Anklage" iSd. Art 6 EMRK zum Gegenstand (vgl. zB VfSlg. 15.840/2000, 17.339/2004). Die Beschwerde ist daher im Lichte der besonderen Garantien des Art 6 Abs 1 EMRK zu beurteilen. Demnach besteht ein Anspruch auf Erledigung eines Strafverfahrens binnen "angemessener Frist".

Nach dieser Rechtsprechung berechnet sich der Beginn der zu beurteilenden Verfahrensdauer mit jenem Zeitpunkt, zu dem ein Beschwerdeführer (hier: im Wege der Aufforderung zur Abgabe einer verantwortlichen Äußerung) Kenntnis von der gegen ihn eingeleiteten Untersuchung erlangt hat (vgl. VfSlg. 16.385/2001, 17.339/2004).

3.2. Die Aufforderung zur Abgabe einer verantwortlichen Äußerung durch den Disziplinarrat im Verfahren D 59/98 erging laut Akteninhalt am ; als Anfangszeitpunkt des Verfahrens ist daher dieser Tag anzusehen.

Das Verfahren endete in erster Instanz mit Bescheid des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien vom und wurde in zweiter Instanz mit dem angefochtenen Bescheid vom abgeschlossen, der der Beschwerdeführerin am zugestellt wurde.

Die zu beurteilende Verfahrensdauer beträgt sohin 8 Jahre 4 Monate und 16 Tage.

3.3. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, die die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der Behörden, spielt die Bedeutung der Sache für den jeweiligen Beschwerdeführer als subjektives Element eine wichtige Rolle (vgl. EGMR , Zimmermann und Steiner gegen die Schweiz, EuGRZ 1983, 482 [483]). Nicht die Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse der Behörde zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit einer Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg. 16.385/2001).

3.4. Im vorliegenden Fall fällt ins Gewicht, dass der Disziplinarrat im Verfahren D 59/98 zwischen der Bestellung eines neuen Untersuchungskommissärs am und einer Aufforderung zur Urkundenvorlage am untätig geblieben ist. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Bescheid der belangten Behörde am verkündet worden ist, der Beschwerdeführerin jedoch erst am - das heißt mehr als ein Jahr und 8 Monate später - zugestellt wurde.

Die ungewöhnliche Dauer des Verfahrens - vor allem aber die Dauer bis zur Zustellung des angefochtenen Bescheides - ist dem Verhalten der Disziplinarbehörden zuzuschreiben; insbesondere kann der Beschwerdeführerin kein Vorwurf gemacht werden, das Verfahren unnötig verzögert zu haben. Für sie bestanden keine rechtlichen Möglichkeiten, auf die Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken ().

Der Verfassungsgerichtshof übersieht nicht, dass mehrere Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden wurden, und dass eine Komplexität der Angelegenheit vorlag, die sich schon aus der Anzahl der zur Last gelegten Taten ergibt. Dennoch sind keine besonderen Umstände hervorgekommen, die die Dauer des Verfahrens - insbesondere die Zustellung des angefochtenen Bescheides mehr als ein Jahr und 8 Monate nach dessen Verkündung - rechtfertigen könnten. Die Dauer des Verfahrens von insgesamt 8 Jahren 4 Monaten und 16 Tagen bis zur Zustellung des angefochtenen Bescheides ist nicht mehr als angemessen iSd. Art 6 Abs 1 EMRK zu beurteilen.

4. Der angefochtene Bescheid war nur im Umfang des Strafausspruches aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß § 16 Abs 6 DSt 1990 in Betracht kommt, insbesondere durch verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund und der sinngemäßen Anwendung des § 34 Abs 2 StGB (vgl. VfSlg. 17.339/2004).

5. Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art 133 Z 4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10.659/1985, 12.915/1991, 14.408/1996, 16.570/2002 und 16.795/2003).

6. Da die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Bescheid in keinem sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden ist, war die Beschwerde im Übrigen abzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Sie beruht auf dem Umstand, dass die Beschwerde nur teilweise erfolgreich war (vgl. VfSlg. 14.492/1996, 16.385/2001, 17.339/2004). Im zugesprochenen Betrag ist USt. in Höhe von € 180,- enthalten.

8. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.