OGH vom 29.09.2009, 10Ob56/09x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Kurt-Filipe M*****, geboren am , vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie - Rechtsvertretung für den 20. Bezirk, 1200 Wien, Meldemannstraße 12-14), infolge Revisionsrekurses des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 75/09a-U-53, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom , GZ 45 P 15/07m-U-42, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Der Minderjährige und seine Mutter, die im gemeinsamen Haushalt in Wien leben, sind deutsche Staatsbürger. Der Vater, der portugiesischer Staatsbürger ist und in Deutschland lebt, ist aufgrund eines Unterhaltsfestsetzungsbeschlusses des Amtsgerichts Sigmaringen vom , 3 FH 27/03, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 257 EUR an den Minderjährigen verpflichtet. Am beantragte der durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger vertretene Minderjährige die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Titelhöhe.
Das Erstgericht gewährte mit Beschluss vom dem Minderjährigen für den Zeitraum von bis Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in einer monatlichen Höhe von 257 EUR. Es begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Führung einer Exekution gegen den Vater aussichtslos erscheine, weil dieser im Inland keinen Dienstgeber habe und auch nicht anderweitig versicherungspflichtig gemeldet sei. Der Vater habe sich vom bis in Deutschland in Haft befunden. Das Rekursgericht wies einen vom Vater dagegen erhobenen Rekurs als verspätet zurück und wies in Stattgebung des Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, den Antrag des Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b ua) knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 nur an die Rechtsstellung des Geldunterhaltsschuldners an, da nur dessen Leistungen durch die Vorschüsse substituiert würden. Im vorliegenden Fall hätte der Minderjährige als Familienangehöriger seines in Deutschland lebenden geldunterhaltspflichtigen Vaters daher nur in Deutschland einen von seinem Vater abgeleiteten Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71. Ein Anspruch des Minderjährigen auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse bestehe nach § 2 Abs 1 UVG nicht, weil er weder österreichischer Staatsangehöriger noch staatenlos sei. Über Antrag des Minderjährigen änderte das Rekursgericht seinen Zulässigkeitsausspruch dahin, dass der ordentliche Revisionsrekurs doch für zulässig erklärt wurde, weil in der neuesten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nunmehr wiederum die Ansicht vertreten werde, dass beide Elternteile einen Vorschussanspruch des Kindes nach der VO 1408/71 vermitteln könnten.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragsstattgebenden Entscheidung des Erstgerichts. Der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs des Minderjährigen als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Der Vater und die Mutter des Minderjährigen haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht in der Begründung seiner Entscheidung von der nunmehr herrschenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss nach der VO 1408/71 abgewichen ist. Das Rechtsmittel ist im Ergebnis aber nicht berechtigt. Der Rechtsmittelwerber verweist in seinen Ausführungen darauf, dass nach herrschender Rechtsprechung EWR-Bürger einem österreichischen Staatsbürger gleichgestellt seien. Dies bedeute, dass alle in Österreich wohnenden EWR-Bürger unter den selben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse hätten (vgl 10 Ob 76/08m ua). Im gegenständlichen Fall seien der Minderjährige und seine Mutter deutsche Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hätten. Die Mutter sei in der Zwischenzeit verheiratet. Der Vater, der portugiesischer Staatsbürger sei, lebe in Deutschland und gehe dort einer Beschäftigung nach. Der Minderjährige habe daher Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse.
Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
Soweit der Rechtsmittelwerber einen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse unter Bezugnahme auf die Entscheidung des erkennenden Senats 10 Ob 76/08m direkt aus dem Diskriminierungsverbot nach § 12 EGV abzuleiten versucht, ist darauf hinzuweisen, dass sich der gegenständliche Fall von dem der Entscheidung 10 Ob 76/08m zugrunde liegenden Sachverhalt insofern wesentlich unterscheidet, als in dem der Entscheidung 10 Ob 76/08m (vgl auch die einen gleichgelagerten Sachverhalt betreffende Entscheidung 10 Ob 43/08h ua) zugrunde liegenden Fall von Vornherein nur die Vorschriften eines Mitgliedstaats - nämlich diejenigen Österreichs - in Betracht kamen. Das Kind war Staatsangehöriger eines EWR-Staats. Alle Beteiligten (Kind, Mutter, Vater) hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Damit war für die Notwendigkeit einer Koordination nach den Regeln der VO (EWG) 1408/71 kein Platz. In diesem Sinn hat das Bundesministerium für Justiz schon im Jahr 2001 festgehalten, dass wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts § 2 Abs 1 UVG so zu lesen ist, als würde anstelle des Begriffs „österreichischer Staatsbürger" der Begriff „EWR-Bürger" bzw Schweizer Staatsbürger stehen, um eine Diskriminierung von Kindern mit nichtösterreichischer, aber EWR-Staatsangehörigkeit (sowie Schweizer Staatsangehörigkeit) zu vermeiden (vgl Neumayr in seiner Entscheidungsanmerkung in iFamZ 2009/102, 144 f). Nach der vom erkennenden Senat in der Entscheidung 10 Ob 76/08m vertretenen Auffassung würde daher im Falle, dass im Rahmen der Sozialrechtskoordinierung nur die Anwendung der österreichischen Vorschriften - und nicht auch die Anwendung der Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats - in Betracht kommt, ein ebenfalls in Österreich wohnhaftes antragstellendes Kind im Vergleich zu einem Kind in der gleichen Lage, das die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, unmittelbar diskriminiert, würde man ihm den Vorschussanspruch unter Berufung auf § 2 Abs 1 Satz 1 UVG versagen (vgl RIS-Justiz RS0124262).
Wie der Präsident des Oberlandesgerichts Wien in seiner Revisionsrekursbeantwortung zutreffend ausführt, besteht aber im vorliegenden Fall kein Anlass für die Annahme einer solchen Diskriminierung. Der Unterhaltsschuldner, der portugiesischer Staatsbürger ist, lebt in Deutschland und geht dort nach dem eigenen Vorbringen des Rechtsmittelwerbers einer Beschäftigung nach. Er ist daher als „Arbeitnehmer" im Sinne der VO 1408/71 anzusehen. Nach der nunmehr ständigen Rechtsprechung des für Rechtssachen nach dem UVG als Fachsenat ausschließlich zuständigen erkennenden Senats ist nach den Kollisionsnormen der VO 1408/71 grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Dabei vermag entgegen der vom Rekursgericht zitierten zwischenzeitig aktuellen Judikatur (vgl 4 Ob 4/07b ua) sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (vgl RIS-Justiz RS0124515).
Im vorliegenden Fall unterliegt der Vater, der auch nach den Behauptungen des Rechtsmittelwerbers in Deutschland beschäftigt ist, nach den Kollisionsnormen der VO 1408/71 allein deutschem Recht. Die Aktenlage ergibt hingegen keinen Hinweis auf eine Berufstätigkeit oder Versicherung der Mutter des Minderjährigen in Österreich. Derartiges wird auch im Revisionsrekurs nicht behauptet. Für den Minderjährigen kommt daher aufgrund der dargestellten Sach- und Rechtslage nur ein Anspruch auf deutsche Unterhaltsvorschussleistungen in Betracht, welche gemäß Art 73 der VO 1408/71 vom Beschäftigungsstaat auch in den Mitgliedstaat, in dem der anspruchsberechtigte Familienangehörige wohnt, zu exportieren sind. Aufgrund der dargelegten Erwägungen hat das Rekursgericht den Antrag des Minderjährigen auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse somit im Ergebnis zutreffend abgewiesen. Der Revisionsrekurs musste daher erfolglos bleiben.