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OGH vom 29.10.2015, 8Nc44/15k

OGH vom 29.10.2015, 8Nc44/15k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner und den Hofrat Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1) mj S***** N*****, 2) mj N***** N*****, und 3) mj J***** N*****, alle wohnhaft in *****, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft M*****, Referat 4, Sozialreferat Jugendwohlfahrt, *****, als Vertreter gemäß § 208 Abs 2 ABGB, aufgrund der Vorlage zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN zu AZ 3 Pu 117/09s (3 Nc 12/15d) des Bezirksgerichts M***** den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts M***** vom , GZ 3 Pu 117/09s 28, gemäß § 111 Abs 1 JN ausgesprochene Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht O***** wird genehmigt.

Text

Begründung:

Mit Beschluss vom , 3 Pu 117/09s 28, hat das Bezirksgericht M***** die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache (zur Gänze) gemäß § 111 Abs 1 JN an das Bezirksgericht O***** übertragen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich die Kinder seit ständig in O***** aufhielten, weshalb die Übertragung der Zuständigkeit zweckmäßig sei. Dieser Beschluss wurde dem Vertreter der Kinder und dem Vater zugestellt; er ist in Rechtskraft erwachsen.

Das Bezirksgericht O***** lehnte die Übernahme der Zuständigkeit (mit Beschluss vom ) ab. Dazu wurde ausgeführt, dass beim Bezirksgericht M***** ab ein Verfahren auf Erhöhung der Unterhaltsbeiträge für die drei Kinder anhängig gewesen sei, das mit Beschluss vom beendet worden sei. Bereits am habe das Kind J***** einen Antrag auf Zuerkennung eines Sonderbedarfs eingebracht, von dem der Unterhaltspflichtige durch die Aufforderung zur Äußerung am Kenntnis erlangt habe. Aus dem Unterhaltsverfahren seien dem Bezirksgericht M***** sämtliche Parameter bekannt, die auch für die Entscheidung auf Zuerkennung eines Sonderbedarfs benötigt würden.

Das übertragende Gericht legte aufgrund dieser Weigerung den Pflegschaftsakt samt rechtskräftigem Übertragungsbeschluss dem Obersten Gerichtshof als den beiden Gerichten übergeordnetes Gericht zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor. Dazu führte es aus, dass die Bezirkshauptmannschaft M***** mit der Mutter nur per E Mail korrespondiere. Der Sonderbedarf sei unabhängig vom Unterhalt zu bemessen. Für die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung des Sonderbedarfs (für Rollstuhl und Rollator) seien weitere Erhebungen notwendig.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

1. Die Voraussetzungen für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als gemeinsames übergeordnetes Gericht gemäß § 111 Abs 2 JN sind gegeben. Die Übertragung der Zuständigkeit ist auch berechtigt.

2.1 Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist das Kindeswohl (RIS Justiz RS0047074). Nach der Rechtsprechung wird der pflegschaftsgerichtliche Schutz in der Regel am besten durch jenes Gericht sichergestellt, in dessen Sprengel sich das Kind gewöhnlich aufhält (RIS Justiz RS0047300). In erster Linie kommt es also auf das örtliche Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Kind an. Dafür ist der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes im Sinn eines stabilen Aufenthalts entscheidend. Im Allgemeinen ist die gemeinsame Führung des Pflegschaftsaktes für alle Kinder aus der selben Ehe oder Lebensgemeinschaft zweckmäßig. Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, sofern dem übertragenden Gericht für die zu treffende Entscheidung nicht besondere Sachkenntnis zukommt (RIS Justiz RS0047032; Mayr in Rechberger 4 § 111 JN Rz 2 f).

2.2 Das örtliche Naheverhältnis spricht im Anlassfall eindeutig für die Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht O*****. Dementsprechend liegt eine solche Übertragung nach der Rechtsprechung vor allem dann im Interesse des Kindes, wenn dieses den Mittelpunkt seiner gesamten Lebensführung und wirtschaftlichen Existenz in einen anderen Gerichtssprengel verlegt ( Mayr aaO Rz 2 mwN). Dies ist hier bei allen drei Kindern der Fall.

Die (Gegen )Argumente des Bezirksgerichts O***** zielen darauf ab, dass dem übertragenden Gericht aufgrund der Entscheidung über den Unterhaltserhöhungsantrag eine besondere Sachkenntnis zukomme. Diese Überlegungen sind allerdings nicht stichhaltig.

Unter Sonderbedarf wird jener den Regelbedarf übersteigende Bedarf verstanden, der dem Unterhaltsberechtigten infolge Berücksichtigung der bei der Ermittlung des Allgemeinbedarfs bewusst außer Acht gelassenen Umstände erwächst. Dieser (echte) Sonderbedarf betrifft inhaltlich hauptsächlich die Erhaltung der (gefährdeten) Gesundheit, die Heilung einer Krankheit und die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere Ausbildung, Talentförderung und Erziehung) des Kindes (8 Ob 50/10a). Die Berücksichtigung von Sonderbedarf findet regelmäßig nur bei einem „Deckungsmangel“ statt (RIS Justiz RS0117791, vgl auch 8 Ob 44/15a).

Für die Entscheidung über den Antrag auf Sonderbedarf sind demnach gesonderte Erhebungen und Berechnungen durchzuführen. Der festgesetzte laufende Unterhalt dient in erster Linie als Vergleichsgröße. Die aktuellen Unterhaltsbeiträge für die Kinder sowie auch die dafür maßgebenden Umstände und Erwägungen, nach der Diktion des Bezirksgerichts O***** die „Parameter“ für die Entscheidung über den Antrag auf Gewährung des Sonderbedarfs, sind im Übrigen auch für das Bezirksgericht O***** durch Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Entscheidung und ergänzendes Aktenstudium leicht erschließbar. Die ins Treffen geführte Sachkenntnis des übertragenden Gerichts kann das Hauptkriterium der räumlichen Nähe damit nicht überwiegen. Das Bezirksgericht O***** ist im Interesse der Kinder eindeutig besser in der Lage, die pflegschaftsgerichtlichen Agenden zu besorgen.

3. Insgesamt war die Übertragung der Pflegschaftssache für alle drei Kinder an das Bezirksgericht ihres Aufenthaltsorts zu genehmigen.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2015:0080NC00044.15K.1029.000