OGH vom 06.12.2011, 10ObS144/11s
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E***** H*****, vertreten durch Mag. Dr. Johannes Winkler, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist Straße 1, 1021 Wien, wegen Pensionsanpassung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 84/08i 9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 9 Cgs 95/08y 5, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
I. Das am unterbrochene Revisionsverfahren wird von Amts wegen wieder aufgenommen.
II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 185,76 EUR (darin 30,96 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am geborene Klägerin bezog von der beklagten Partei im Jahr 2007 eine Witwenpension nach dem ASVG in Höhe von 524,38 EUR brutto monatlich. Da sie Rentenleistungen aus der Schweiz und Italien von 102,29 EUR und 151,73 EUR monatlich bezieht, hat sie keinen Anspruch auf Ausgleichszulage.
Mit Bescheid vom stellte die beklagte Partei fest, dass die Witwenpension der Klägerin ab mit dem Hundertsatz von 1,7 vervielfacht (um 1,7 % erhöht) werde und ab diesem Zeitpunkt 533,30 EUR brutto monatlich betrage. Sie begründete dies mit der Pensionserhöhung für 2008 von „grundsätzlich“ 1,7 %.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage mit dem Begehren auf Zahlung einer monatlichen Bruttopension in Höhe von 545,38 EUR ab . Die Klägerin habe Anspruch auf Pensionserhöhung um 21 EUR brutto oder zumindest um 2 % statt 1,7 %, weil die in § 634 Abs 10 ASVG normierte Regelung, wonach höhere Pensionen eine prozentuell höhere Aufwertung erfuhren als niedrigere Pensionen von unter 747 EUR monatlich, EU rechtswidrig bzw verfassungswidrig sei. Mit Schriftsatz der Klägerin vom (ON 3) wurde der Vorwurf einer EU Rechtswidrigkeit, nämlich eines Verstoßes gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie 79/7/EWG, mit der Begründung zurückgezogen, dass diese Richtlinie nach ihrem Art 3 Abs 2 nicht für Regelungen betreffend Leistungen für Hinterbliebene gelte und die Klägerin eine Witwenpension, sohin eine Leistung für Hinterbliebene beziehe.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens unter Hinweis auf die geltende Rechtslage.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, ohne den Inhalt des angefochtenen Bescheides zu wiederholen.
Im Zuge der Pensionsanpassung für das Jahr 2008 wurden folgende Maßnahmen getroffen:
1. Der Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende PensionsbezieherInnen wurde von 726 EUR auf 747 EUR (= 2,9 %) und für im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatten von 1.091,14 EUR auf 1.120 EUR (= 2,6 %) erhöht.
2. Weiters sieht die Pensionsanpassung 2008 eine Erhöhung
a) für Personen bis zum Ausgleichszulagenrichtsatz (dh bis nunmehr 746,99 EUR monatlich) um 1,7 % (= Anpassungsfaktor),
b) für Pensionen über 746,99 EUR bis 1.050 EUR monatlich um einen Fixbetrag von 21 EUR monatlich (= 2,81 % bis 2 %),
c) für Pensionen über 1.050 EUR bis 1.700 EUR monatlich um 2 %,
d) für Pensionen über 1.700 EUR bis 2.161,50 EUR monatlich zwischen 2 % und 1,7 % (linear abfallend) und
e) für Pensionen über 2.161,50 EUR monatlich um den Fixbetrag von 36,75 EUR monatlich vor.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Pensionserhöhung entspreche der geltenden Gesetzeslage.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin ab die Pension in der bescheidmäßig zuerkannten Höhe von monatlich brutto 533,30 EUR auszuzahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung einer Pension in Höhe von 545,38 EUR brutto wies es ab. Den Vorwurf, es läge EU-Rechtswidrigkeit vor, halte die Klägerin im Hinblick auf Art 3 Abs 2 der Gleichbehandlungsrichtlinie 79/7/EWG nicht mehr aufrecht. Es bestehe aber auch kein Anlass für ein Normprüfungsverfahren beim Verfassungsgerichtshof.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Judikatur zur Pensionsanpassung 2008 fehle.
Gegen den abweisenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der vollinhaltlichen Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.
Die Klägerin geht auch in ihrem Rechtsmittel weiterhin ausdrücklich davon aus, dass Art 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie 79/7/EWG auf die vorliegende Hinterbliebenenversorgung nicht anwendbar sei. Sie hält lediglich an ihren verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestimmung des § 634 Abs 10 ASVG fest.
Dazu ist Folgendes auszuführen:
1. Der erkennende Senat hat die für den vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage bereits in seinem im gegenständlichen Verfahren ergangenen Beschluss vom (10 ObS 147/08b) und den im Parallelverfahren 10 ObS 178/09p ergangenen Beschluss vom näher dargelegt, sodass auf diese Ausführungen verwiesen werden kann.
2. Der Verfassungsgerichtshof wies mit Erkenntnis vom , G 36/09 ua, den Antrag des Obersten Gerichtshofs, die die Pensionsanpassung für das Jahr 2008 betreffenden Bestimmungen des ASVG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und gegen die Eigentumsgarantie als verfassungswidrig aufzuheben, zurück, wobei er die in diesem Antrag und auch die in den anderen inhaltsgleichen Gesetzesprüfungsanträgen vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken auch inhaltlich nicht teilte.
3. In einer vergleichbaren, ebenfalls die Pensionsanpassung 2008 betreffenden Sozialrechtssache, die verschiedene gemeinschaftsrechtliche Fragen berührte, hat der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom , 10 ObS 178/09p, das Revisionsverfahren gemäß § 90a GOG ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
3.1. Mit Beschluss vom , 10 ObS 175/09x, wurde das Revisionsverfahren auch im gegenständlichen Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH über den im Verfahren 10 ObS 178/09p gestellten Antrag auf Vorabentscheidung unterbrochen, weil der Oberste Gerichtshof in allen Rechtssachen von der allgemeinen Wirkung der Vorabentscheidung des EuGH auszugehen und diese daher auch auf andere Fälle als den unmittelbaren Anlassfall anzuwenden hat.
3.2. Mit Urteil vom , Rs C 123/10, Brachner , hat der EuGH auf die ihm vom Obersten Gerichtshof im Verfahren 10 ObS 178/09p vorgelegten Fragen zu Recht erkannt:
„1. Art 3 Abs 1 der RL 79/7/EWG des Rates vom zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein System der jährlichen Pensionsanpassung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich dieser Richtlinie und damit unter das Diskriminierungsverbot in Art 4 Abs 1 der RL fällt.
2. Art 4 Abs 1 der RL 79/7/EWG ist dahin auszulegen, dass das vorlegende Gericht in Anbetracht der ihm unterbreiteten statistischen Daten und mangels gegenteiliger Anhaltspunkte zu der Annahme berechtigt wäre, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, die dazu führt, dass ein erheblich höherer Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher von einer außerordentlichen Pensionserhöhung ausgeschlossen wird.
3. Art 4 Abs 1 der RL 79/7/EWG ist dahin auszulegen, dass falls das vorlegende Gericht im Rahmen der von ihm zur Beantwortung der zweiten Frage vorzunehmenden Prüfung zu dem Ergebnis kommen sollte, dass der Ausschluss der Kleinstpensionen von der außerordentlichen Erhöhung, die die im Ausgangsverfahren fragliche Anpassungsregelung vorsieht, tatsächlich geeignet war, einen erheblich höheren Prozentsatz weiblicher als männlicher Pensionsbezieher zu benachteiligen diese Benachteiligung weder mit dem früheren Pensionsanfallsalter erwerbstätiger Frauen noch mit der bei ihnen längeren Bezugsdauer der Pension oder damit gerechtfertigt werden kann, dass auch der Ausgleichszulagenrichtsatz für das Jahr 2008 überproportional erhöht wurde.“
4. Nach Vorliegen dieses Urteils ist das im gegenständlichen Verfahren unterbrochene Revisionsverfahren von Amts wegen wieder aufzunehmen.
5. Daraus, dass die Bestimmung des § 634 Abs 10 ASVG somit insoweit als mit den zitierten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar zu erachten ist, als jene Pensionen, deren Höhe die Grenze von 746,99 EUR nicht überschreitet, von der sozial gestaffelten Anpassung ausgeschlossen werden, ist für den Standpunkt der Klägerin jedoch nichts zu gewinnen: Steht doch einer Berücksichtigung dieses Umstands in ihrem Fall die von der Revision selbst zutreffend aufgezeigte, in Art 3 Abs 2 der RL 79/7/EWG des Rates vom zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit normierte Unanwendbarkeit dieser Richtlinie auf „Regelungen betreffend Leistungen für Hinterbliebene“, also auch auf die Witwenpension der Klägerin, entgegen.
Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, der Klägerin angesichts ihrer aktenkundigen Einkommensverhältnisse die Hälfte ihrer Kosten im Revisionsverfahren zuzusprechen.