OGH vom 17.08.2006, 10Ob53/06a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Victoria C*****, geboren am , vertreten durch die Stadt Wien als Jugendwohlfahrtsträger, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 207/06a-U26, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom , GZ 10 P 16/05k-U12, abgeändert wurde, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.
Text
Begründung:
Bei der am in Tijuana geborenen Antragstellerin Victoria C*****, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Wien hat, handelt es sich um eine polnisch-mexikanische Doppelstaatsbürgerin. Der Vater, ein polnischer Staatsangehöriger, verbüßt seit Juli 2003 in Österreich eine lebenslange Haftstrafe.
Mit Beschluss vom (ON U12) hat das Erstgericht der Antragstellerin für die Zeit von bis Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 3 UVG zuerkannt.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, „dass der Antrag der mj. Veronique C*****, geboren , auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 3 UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am , abgewiesen wird" (richtig: „dass der Antrag der mj. Victoria C*****, geboren , auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 3 UVG, überreicht beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien am , abgewiesen wird").
Diese Entscheidung wird folgendermaßen begründet:
„Zufolge der Berichtigung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 mit zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wurde auch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige ersetzt, aktualisiert und vereinfacht. In Punkt 36 der Gründe dafür sind Unterhaltsvorschüsse als familienrechtliche Verpflichtung definiert, die als keine direkten Leistungen aufgrund einer kollektiven Unterstützung angesehen werden. Die Besonderheiten der Koordinierungsregeln sollen daher für solche Unterhaltsvorschüsse nicht gelten. Insbesondere können durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen keine Ansprüche oder Anwartschaften auf Unterhaltsvorschüsse erworben werden. Im Hinblick auf die Geltung dieser Bestimmung unabhängig von einer Durchführungsverordnung ist damit klargestellt, dass Unterhaltsvorschüsse im Sinne des Unterhaltsvorschussgesetzes keine Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sind, sodass diesbezüglich auch nichts durchzuführen ist. Aufgrund dieser Rechtslage können Unterhaltsvorschüsse im Sinne der Wanderarbeitnehmerverordnung nicht mehr gewährt werden. Schon aus diesem Grund ist dem Rekurs des Bundes stattzugeben.
Da Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu dieser Frage noch nicht vorliegt, ist der ordentliche Revisionsrekurs zulässig. Die Voraussetzungen für ein Vorabentscheidungsersuchen liegen nach Ansicht des Rekurssenates nicht vor."
Gegen diese Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss des Rekursgerichtes ersatzlos zu beheben.
Der Bund und der Vater der Minderjährigen haben keine Rechtsmittelbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist im Hinblick auf die grundsätzliche Rechtsfrage zulässig und auch im Sinne einer Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung berechtigt.
Vorweg ist klarzustellen, dass sich das Rechtsmittelverfahren auf den am überreichten Vorschussantrag der mj. Victoria C*****, geboren , bezieht und nicht auf den am gestellten Antrag ihrer am geborenen Schwester Veronique C*****.
Angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art 91 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bedarf es keiner näheren Erläuterung, dass die Rechtsansicht des Rekursgerichtes, diese Verordnung sei schon partiell in Kraft getreten, und zwar auch in Bezug auf Unterhaltsvorschussleistungen (weil hier „nichts durchzuführen" sei), unrichtig ist. Da die Durchführungsverordnung bisher noch nicht einmal erlassen ist, ist die VO (EG) 883/2004 nicht anzuwenden (siehe auch Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung, in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU, 9 [16 f]). Aus diesem Grund erübrigt sich auch ein näheres Eingehen auf den Standpunkt des Rekursgerichtes, Unterhaltsvorschüsse seien sowohl von den Koordinierungsregeln der VO (EG) 883/2004 als auch von der Geltung des Diskriminierungsverbotes nach Art 12 EG ausgenommen (dazu Spiegel aaO 24).
Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes vom , C-85/99, Offermanns, und vom , C-255/99, Humer, handelt es sich bei den Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG um eine Familienleistung iSd Verordnung (EWG) Nr 1408/71. Auch Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG wurden vom EuGH in seinem Urteil vom , C-302/02, Effing, so qualifiziert.
Die „Wanderarbeitnehmer-Verordnung" (EWG) Nr 1408/71 gilt nach ihrem Art 2 Abs 1 unter anderem für Arbeitnehmer, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten, sowie für deren Familienangehörige. Der Begriff des „Arbeitnehmers" ist in Art 1 lit a der VO 1408/71 definiert. Darunter ist jede Person zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen der sozialen Sicherheit (ua) für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung vom , C-85/96, Martínez Sala, klargestellt, dass eine Person somit die Arbeitnehmereigenschaft iSd VO 1408/71 besitzt, wenn sie - unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Art 1 lit a der VO genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.
Gemäß Art 13 Abs 1 und 2 lit a der VO 1408/71 unterliegt der Vater der österreichischen Rechtsordnung. Kommt ein in Österreich inhaftierter Strafgefangener seiner Arbeitspflicht (§ 44 StVG) nach, ist er gemäß § 66a AlVG im System der sozialen Sicherheit gegen Arbeitslosigkeit versichert; er ist als Arbeitnehmer iSd Art 1 lit a der VO 1408/71 anzusehen (ebenso , Effing) und vermittelt daher gemäß Art 3 der VO 1408/71 seinen Kindern als seinen Familienangehörigen einen Unterhaltsvorschussanspruch nach § 4 Z 3 UVG.
Hinweise darauf, dass der Vater seiner Arbeitspflicht gemäß § 44 StVG nicht nachkommt, bestehen nicht (laut Bestätigung der Justizanstalt Stein vom ist er im Jahr 2006 in der Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig).
In diesem Sinn ist der den Anspruch auf Haftvorschüsse nach § 4 Z 3 UVG bejahende Beschluss des Erstgerichtes wieder herzustellen.