OGH vom 01.02.2011, 10Ob50/10s
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der inzwischen volljährigen C*****, geboren am , über den ordentlichen Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 138/10k 11, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Perg vom , GZ 2 PU 270/09m 7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
Die am geborene und daher nunmehr volljährige C***** ist die Tochter von M***** und C*****. Die Antragstellerin und ihre Eltern sind rumänische Staatsbürger. Sie und ihre Mutter leben in Österreich, der Aufenthaltsort des Vaters ist unbekannt.
Mit Eingabe vom beantragte die damals noch minderjährige Antragstellerin, vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger, die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 4 Z 2 UVG. Zur Begründung wurde angeführt, der Vater sei aufgrund einer vor dem Jugendwohlfahrtsträger abgeschlossenen Unterhaltsvereinbarung vom zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 240 EUR an seine Tochter verpflichtet. Da er seit längerer Zeit unbekannten Aufenthalts sei, sei eine Erhöhung des Unterhalts aus Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners nicht möglich gewesen. Die Antragstellerin absolviere derzeit eine Lehre im zweiten Lehrjahr und beziehe eine monatliche Lehrlingsentschädigung von 565,12 EUR netto inklusive Kleiderpauschale bzw 513,37 EUR netto exklusive Kleiderpauschale. Die Internatskosten für dieses Lehrjahr in Höhe von 587,60 EUR müsse die Antragstellerin selbst bezahlen.
Das Erstgericht gewährte der Antragstellerin Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in der jeweiligen Richtsatzhöhe nach § 6 Abs 2 UVG für den Zeitraum vom bis , also bis zum Ablauf jenes Monats, in welchem die Antragstellerin das 18. Lebensjahr vollendet hat. Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Unterhaltstitel, der älter als drei Jahre sei, mangels hinreichender Anhaltspunkte nicht erhöht werden könne. Der Unterhaltsschuldner sei nicht erreichbar, da sein Aufenthalt unbekannt sei. Aufgrund der Aktenlage bestünden keine Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit, weshalb die Antragstellerin Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in der jeweiligen Höhe nach § 6 Abs 2 UVG habe.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, keine Folge. Es hielt dem Rekursvorbringen, der Begründung des erstgerichtlichen Beschlusses sei nicht zu entnehmen, ob die in Österreich lebende Mutter der Antragstellerin in den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 falle und die Antragstellerin daher die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse auf der Grundlage dieser Verordnung erfülle, entgegen, dass die Antragstellerin selbst als Lehrling vom persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung erfasst sei. Die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin ergebe sich bereits aus ihrem Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Es sei daher nicht mehr entscheidend, ob auch die Mutter der Antragstellerin in den persönlichen Geltungsbereich der VO (EWG) 1408/71 falle.
Das Rekursgericht sprach zunächst aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Über Antrag des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, änderte es in der Folge mit Beschluss vom seinen Ausspruch gemäß § 63 Abs 1 AußStrG dahin ab, dass der ordentliche Revisionsrekurs doch zulässig sei. Es begründete dies damit, dass noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage vorliege, ob die Antragstellerin durch ihre eigene Arbeitstätigkeit als Lehrling selbst in den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 falle. Darüber hinaus sei das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs insofern abgewichen, als es der Antragstellerin Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in voller Richtsatzhöhe zuerkannt habe, obwohl die Unterhaltsberechtigte ein Eigeneinkommen beziehe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der ordentliche Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Abweisung des Unterhaltsvorschussantrags.
Die inzwischen volljährige Antragstellerin sowie die übrigen Verfahrensparteien haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.
Der Revisionsrekurswerber macht zunächst geltend, nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs seien die Voraussetzungen für die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses auf der Grundlage der VO (EWG) 1408/71 nur dann erfüllt, wenn ein Elternteil des anspruchsberechtigten Kindes in eine in Bezug auf Familienleistungen von dieser Verordnung erfasste Gruppe (tätige oder arbeitslose Arbeitnehmer, Selbständige oder Studierende) falle. Da weder die Mutter noch der Vater der Antragstellerin in den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 fielen, weil sie keiner Beschäftigung nachgingen bzw nicht sozialversichert seien, lägen die Voraussetzungen für einen Anspruch der Antragstellerin auf Unterhaltsvorschüsse im Hinblick auf die VO (EWG) 1408/71 nicht vor.
Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.
Zunächst ist festzuhalten, dass für den hier noch strittigen Zeitraum der Unterhaltsvorschussgewährung vom bis weiterhin die Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 idgF (im Folgenden: VO 1408/71) in Geltung standen, da die neue Koordinierungsverordnung VO (EG) Nr 883/2004 erst seit Anwendung zu finden hat.
Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 (RIS Justiz RS0115509 mwN). Nach Art 3 Abs 1 der VO 1408/71 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Angehörigen dieses Staats, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen. Dies bedeutet, dass alle EWR Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen.
Im vorliegenden Fall ist daher ausschlaggebend, ob die Antragstellerin vom persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 umfasst ist. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (Art 2 Abs 1) fallen Arbeitnehmer und Selbständige sowie Studierende, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Angehörige sind daher von der Verordnung erfasst, wenn sie die genannten Voraussetzungen in eigener Person erfüllen. Art 2 VO 1408/71 erstreckt den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung jedoch darüber hinaus auch auf die (selbst nicht berufstätigen) Familienangehörigen und Hinterbliebenen eines unmittelbar Berechtigten. In diesem Sinne entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass Kinder (als Familienangehörige) Anspruch auf Unterhaltsvorschuss als Familienleistung im Sinne dieser Verordnung haben, wenn zumindest ein Elternteil tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn der Verordnung ist (RIS Justiz RS0116311). Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen unter Bedachtnahme auf die Begünstigung der Kinder nach der VO 1408/71 setzt daher in diesem Fall voraus, dass sie Familienangehörige eines im EWR tätigen oder arbeitslosen Arbeitnehmers oder Selbständigen sind und sich dieser als solcher innerhalb des EWR aufhält (1 Ob 183/04z mwN).
Im vorliegenden Fall ist jedoch im Hinblick auf die von der Antragstellerin behauptete eigene Berufstätigkeit vorrangig zu prüfen, ob sie die Voraussetzungen für den persönlichen Geltungsbereich der VO 1408/71 nicht als Familienangehörige, sondern in eigener Person erfüllt (vgl 10 Ob 44/08f Pkt 4.1). Nach Art 1 lit a Z 1 der VO 1408/71 ist jede Person als Arbeitnehmer zu verstehen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
Nach dem Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Antrag ist sie als Lehrling im zweiten Lehrjahr beschäftigt. Nach § 4 Abs 1 Z 2 ASVG sind die in einem Lehrverhältnis stehenden Personen (Lehrlinge) in der Kranken , Unfall und Pensionsversicherung aufgrund dieses Bundesgesetzes versichert (vollversichert), wenn die betreffende Beschäftigung weder gemäß den §§ 5 und 6 ASVG von der Vollversicherung ausgenommen ist, noch nach § 7 ASVG nur eine Teilversicherung begründet. Sollte daher das Vorbringen der Antragstellerin zutreffen Feststellungen dazu fehlen , wäre sie als Arbeitnehmerin iSd Art 1 lit a Z 1 der VO 1408/71 anzusehen und damit aufgrund ihrer eigenen Beschäftigung vom persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung umfasst.
Zutreffend macht der Revisionsrekurswerber allerdings weiters geltend, dass die Vorinstanzen Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG in voller Höhe nach § 6 Abs 2 UVG gewährt haben, obwohl nach ständiger Rechtsprechung zu § 7 Abs 1 Z 2 UVG der Richtsatzvorschuss um eigene Einkünfte des Lehrlings die Lehrlingsentschädigung ist eigenes Einkommen des Lehrlings, soweit sie nicht als Ausgleich für einen hier behaupteten berufsbedingten Mehraufwand außer Betracht bleibt zu kürzen ist (vgl Neumayr in Schwimann , ABGB I³ § 7 UVG Rz 39 ff; RIS Justiz RS0076408; RS0047570). Das Verfahren ist somit auch insoweit mangelhaft geblieben, als das Erstgericht keine Feststellungen zur tatsächlichen Höhe der Lehrlingsentschädigung unter Berücksichtigung der Internatskosten getroffen hat. Daher ist eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und eine Zurückverweisung der Pflegschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich.
Es war somit in Stattgebung des Revisionsrekurses spruchgemäß zu entscheiden.