VfGH vom 01.03.2011, B1563/10
19331
Leitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch gänzlichen Widerruf des Bezugs und Rückforderung von Altersteilzeitgeld wegen Ausscheidens der Ersatzarbeitskraft; keine Unsachlichkeit des Erfordernisses der Einstellung einer Ersatzarbeitskraft bzw der Ausbildung eines Lehrlings in bestimmten Fällen; kein Verstoß gegen das Eigentumsrecht; verfassungskonforme Auslegung der Regelung über die Rückzahlungsverpflichtung geboten
Spruch
I. Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I.
1. Die beschwerdeführende Partei traf mit einem Dienstnehmer eine Altersteilzeitvereinbarung, auf Grund der dieser Dienstnehmer für die Zeit vom bis zum in Altersteilzeit arbeiten sollte. Vereinbart wurde eine geblockte Altersteilzeitvariante, bei der auf eine Vollzeitarbeitsphase eine Freizeitphase im Zeitraum vom bis zum folgen sollte. Mit Antrag vom begehrte die beschwerdeführende Partei die Zuerkennung des Altersteilzeitgeldes nach den §§27 und 28 AlVG. Das Arbeitsmarktservice gab diesem Antrag statt.
In diesem Antrag wurde auch eine bereits seit dem im Betrieb der beschwerdeführenden Partei beschäftigte Ersatzarbeitskraft namhaft gemacht. Diese schied zum aus dem Unternehmen aus. Eine neue Ersatzarbeitskraft wurde - nach dem Vorbringen der beschwerdeführenden Partei - am angestellt.
2. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice Wien (Laxenburger Straße) vom wurde der Bezug des Altersteilzeitgeldes gemäß § 27 Abs 8 AlVG für den Zeitraum vom bis zum widerrufen und die beschwerdeführende Partei zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Altersteilzeitgeldes in Höhe von € 13.083,29 verpflichtet. Begründend wurde ausgeführt:
"Sie haben die Leistung aus der Altersteilzeit für den Zeitraum vom bis zu Unrecht bezogen, da Sie dem AMS keine Ersatzkraft mit Beginn der Freizeitphase ab gemeldet haben."
3. Gegen diesen Bescheid erhob die beschwerdeführende Partei am Berufung. Sie brachte darin im Wesentlichen vor, dass im Zeitraum vom bis zum eine Ersatzarbeitskraft beschäftigt worden sei, und beantragte, "die Rückzahlungsforderung entsprechend zu reduzieren".
4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid änderte die belangte Behörde den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 66 Abs 4 AVG wie folgt ab (Hervorhebungen im Original):
"Gemäß § 27 Abs 8 AlVG wird die Zuerkennung des Altersteilzeitgeldes für … für die Zeit vom bis widerrufen und werden Sie zur Rückzahlung des unberechtigt Empfangenen in Höhe von € 14.101,87 verpflichtet.
…"
In der Begründung führte die belangte Behörde insbesondere aus:
"Aufgrund der nicht fristgerechten Einstellung einer (neuen) Ersatzarbeitskraft zumindest mit Beginn der Freizeitphase beziehungsweise binnen drei Monaten nach Ausscheiden der alten Ersatzarbeitskraft ist die Zuerkennung gesetzlich nicht begründet und ist daher das Altersteilzeitgeld zur Gänze zu widerrufen sowie das unberechtigt Empfangene rückzufordern.
Ihr Vorbringen, das Dienstverhältnis der ursprünglich anerkannten, jedoch vor Beginn der Freizeitphase schon ausgeschiedenen Ersatzarbeitskraft wäre - im Sinne einer aliquoten Reduktion der Rückforderungssumme - zu berücksichtigen, ist gesetzlich nicht vorgesehen und kann daher nicht zu einer kulanzhalber Minimierung der Rückforderung seitens des Arbeitsmarktservice führen."
5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte und die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung des verfassungswidrigen § 27 Abs 5 Z 3 AlVG (aF) behauptende Beschwerde.
Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
II.
§ 27 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG), BGBl. 609/1977 idF BGBl. I 142/2004, lautete in der hier maßgebenden Fassung wie folgt:
"Altersteilzeitgeld
§27. (1) Ein Arbeitgeber, der ältere ArbeitnehmerInnen beschäftigt, die ihre Arbeitszeit verringern, und diesen einen Lohnausgleich gewährt, hat Anspruch auf Altersteilzeitgeld.
(2) Altersteilzeitgeld gebührt längstens fünf Jahre für Personen, die nach spätestens fünf Jahren das Regelpensionsalter vollenden und die
1. in den letzten 25 Jahren vor der Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) 780 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt waren, wobei auf die Anwartschaft anzurechnende Zeiten gemäß § 14 Abs 4 und 5 berücksichtigt und die Rahmenfrist um arbeitslosenversicherungsfreie Zeiten der Betreuung von Kindern bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres erstreckt werden,
2. auf Grund einer vertraglichen Vereinbarung ihre Normalarbeitszeit, die im letzten Jahr der gesetzlichen oder kollektivvertraglich geregelten Normalarbeitszeit entsprochen oder diese höchstens um 20 vH unterschritten hat, auf 40 bis 60 vH verringert haben,
3. auf Grund eines Kollektivvertrages, einer Betriebsvereinbarung oder einer vertraglichen Vereinbarung
a) bis zur Höchstbeitragsgrundlage gemäß § 45 ASVG einen Lohnausgleich in der Höhe von mindestens 50 vH des Unterschiedsbetrages zwischen dem im letzten Jahr (bei kürzerer Beschäftigungszeit in einem neuen Betrieb während dieser kürzeren, mindestens drei Monate betragenden Zeit) vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit durchschnittlich gebührenden Entgelt und dem der verringerten Arbeitszeit entsprechenden Entgelt erhalten und
b) für die der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge entsprechend der Beitragsgrundlage vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit entrichtet und
4. auf Grund eines Kollektivvertrages, einer Betriebsvereinbarung oder einer vertraglichen Vereinbarung Anspruch auf Berechnung einer zustehenden Abfertigung auf der Grundlage der Arbeitszeit vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit haben; für die Berechnung einer Abfertigung nach dem BUAG gilt § 13d Abs 3 BUAG.
(3) Für Personen, die eine Leistung aus der gesetzlichen Pensionsversicherung aus einem Versicherungsfall des Alters, ein Sonderruhegeld nach dem Nachtschwerarbeitsgesetz, BGBl. Nr. 354/1981, oder einen Ruhegenuss aus einem Dienstverhältnis zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft beziehen oder die Anspruchsvoraussetzungen für eine dieser Leistungen erfüllen, gebührt kein Altersteilzeitgeld.
(4) Das Altersteilzeitgeld hat dem Arbeitgeber einen Anteil des zusätzlichen Aufwandes, der durch einen Lohnausgleich bis zur Höchstbeitragsgrundlage in der Höhe von 50 vH des Unterschiedsbetrages zwischen dem im gemäß Abs 2 Z 3 lita maßgeblichen Zeitraum vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit gebührenden Entgelt und dem der verringerten Arbeitszeit entsprechenden Entgelt sowie durch die Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge entsprechend der Beitragsgrundlage vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen den entsprechend der Beitragsgrundlage vor der Herabsetzung der Normalarbeitszeit entrichteten Dienstgeber- und Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung (Pensions-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung einschließlich IESG-Zuschlag) und den dem Entgelt (einschließlich Lohnausgleich) entsprechenden Dienstgeber- und Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung entsteht, abzugelten. ...
(5) Sieht die Vereinbarung über die Altersteilzeitarbeit unterschiedliche wöchentliche Normalarbeitszeiten oder eine unterschiedliche Verteilung der wöchentlichen Normalarbeitszeit vor, so ist die Voraussetzung nach Abs 2 Z 2 auch dann erfüllt, wenn
1. die wöchentliche Normalarbeitszeit in einem Durchrechnungszeitraum im Durchschnitt die vereinbarte verringerte Arbeitszeit nicht überschreitet,
2. das Entgelt für die Altersteilzeitarbeit fortlaufend gezahlt wird und
3. zusätzlich zumindest während der Freizeitphase (abgesehen von unvermeidlichen kurzen Unterbrechungen) eine zuvor arbeitslose Person über der Geringfügigkeitsgrenze versicherungspflichtig beschäftigt oder zusätzlich ein Lehrling ausgebildet und im Zusammenhang mit dieser Maßnahme vom Dienstgeber kein Dienstverhältnis aufgelöst wird.
(6) Der Arbeitgeber hat jede für das Bestehen oder für das Ausmaß des Anspruches auf Altersteilzeitgeld maßgebliche Änderung unverzüglich der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice anzuzeigen.
(7) Das Altersteilzeitgeld stellt kein Entgelt im Sinne des Umsatzsteuergesetzes 1994 (UStG 1994), BGBl. Nr. 663, dar.
(8) Wenn eine der Voraussetzungen für den Anspruch auf Altersteilzeitgeld wegfällt, ist es einzustellen; wenn sich eine für das Ausmaß des Altersteilzeitgeldes maßgebende Voraussetzung ändert, ist es neu zu bemessen. Wenn sich die Zuerkennung oder die Bemessung des Altersteilzeitgeldes als gesetzlich nicht begründet herausstellt, ist die Zuerkennung zu widerrufen oder die Bemessung rückwirkend zu berichtigen. Bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung ist der Empfänger des Altersteilzeitgeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten. Die Verpflichtung zum Rückersatz besteht auch hinsichtlich jener Leistungen, die wegen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels weiter gewährt wurden, wenn das Verfahren mit der Entscheidung geendet hat, dass die Leistungen nicht oder nicht in diesem Umfang gebührten."
Der seitens der beschwerdeführenden Partei als verfassungswidrig erachtete Abs 5 Z 3 dieser Vorschrift wurde durch Art 83 Z 18 des Budgetbegleitgesetzes 2003, BGBl. I 71/2003, in das AlVG eingefügt. In der Zwischenzeit wurde § 27 Abs 5 Z 3 AlVG durch Art 1 Z 7 des Bundesgesetzes BGBl. I 90/2009 (Arbeitsmarktpaket 2009) neu gefasst und lautet:
"3. die Freizeitphase im Rahmen einer Blockzeitvereinbarung nicht mehr als zweieinhalb Jahre beträgt."
Dazu bestimmt § 79 Abs 103 AlVG idF BGBl. I 90/2009:
"§27 Abs 2, 4 und 5 sowie § 82 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 90/2009 treten mit in Kraft und gelten für Ansprüche auf Altersteilzeitgeld auf Grund von Vereinbarungen, deren Laufzeit nach dem beginnt. Für Ansprüche auf Altersteilzeitgeld, die auf Grund von Vereinbarungen, deren Laufzeit vor dem begonnen hat, vor dem Ablauf des geltend gemacht wurden, gilt § 27 mit Ausnahme des Abs 3 in der bisher anzuwendenden Fassung weiter, hinsichtlich der Zahlungsweise und der Anpassung an Lohnerhöhungen jedoch mit der Maßgabe, dass diese ab entsprechend den im § 27 Abs 4 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 90/2009 vorgesehenen Regelungen zu erfolgen hat."
III.
1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
2. In der Sache:
2.1. Nach Ansicht der beschwerdeführenden Partei sei § 27 Abs 5 Z 3 AlVG (aF) verfassungswidrig gewesen, weil diese Vorschrift zwischen dem kontinuierlichen Altersteilzeitmodell einerseits und dem Blockzeitmodell andererseits unsachlicherweise differenziere.
2.1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom , B859/10, festgestellt, dass die Vorschrift des § 27 Abs 5 Z 3 AlVG (aF) mit der Verfassung in Einklang stand. Die Beschwerde zeigt keine Aspekte auf, die den Verfassungsgerichtshof zu einem Abgehen von dieser Rechtsprechung veranlassen könnten.
2.1.2. Die beschwerdeführende Partei wurde daher durch den angefochtenen Bescheid nicht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat im vorzitierten Erkenntnis ebenfalls ausgesprochen, dass der die verschuldensunabhängige Rückforderung unberechtigt bezogenen Altersteilzeitgeldes regelnde § 27 Abs 8 AlVG bei verfassungskonformer Auslegung dahin zu verstehen ist, dass der gänzliche Widerruf nur dann zu erfolgen hat, "wenn sich die Zuerkennung oder die Bemessung des Altersteilzeitgeldes als gesetzlich nicht begründet herausstellt" (Satz 2 leg. cit.), wenn sich also herausstellt, dass Altersteilzeitgeld bereits ursprünglich, das heißt im Zeitpunkt der Antragstellung, nicht gebührte.
2.2.1. Die belangte Behörde legt ihrer Entscheidung jedoch die Rechtsansicht zugrunde, dass auch bei einem nachträglichen Wegfall einer Voraussetzung für den Bezug von Altersteilzeitgeld dieses zur Gänze zurückzufordern sei. Durch diese Auslegung unterstellt die belangte Behörde der Bestimmung des § 27 Abs 8 AlVG - wie sich mit Blick auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B859/10, zeigt - einen gleichheitswidrigen Inhalt.
2.2.2. Die beschwerdeführende Partei ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden. Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben.
IV.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Fundstelle(n):
MAAAD-85366